Читать книгу Ängste, Panik, Sorgen - Daniel Voigt - Страница 11
2.1.1.1Konstruktebene (ICD, DSM): Diagnosen als Verhandlungsergebnisse
ОглавлениеOb ein Erleben oder Verhalten durch die Expertengremien in den psychiatrischen Diagnosesystemen (ICD und DSM) als pathologisch bewertet wird und wie bestimmte Symptome zu Störungen zusammengefasst werden, dabei spielen alle wichtigen Aspekte von sozialen und gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen eine Rolle: Macht und Einfluss, Koalitionen, Zugang zu Informationen und finanziellen Ressourcen etc. Ob ein Phänomen als Störung bezeichnet wird, ist darum nicht nur Folge von wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern auch von gesellschaftlichem Druck (erst 1991 wurde Homosexualität als »psychische Störung« aus der ICD gestrichen).
Mit jeder Novellierung von ICD und DSM »entstehen« zudem neue Störungen. So ist etwa im DSM-5 erstmals die Diagnose einer Trennungsangststörung auch bei Erwachsenen möglich. In der ICD-11 wird mit der neuen Diagnose der komplexen PTBS die Vielfalt von Affektregulationsproblemen, negativer Selbstwahrnehmung und Beziehungsstörungen in Verbindung gebracht mit wiederholten oder andauernden traumatischen Erfahrungen. Insbesondere um die Berechtigung der aus meiner Sicht sehr nützlichen Diagnose »komplexe PTBS« gab es heftige Auseinandersetzungen, die dazu führten, dass Patienten diese Störung nun für Diagnostizierende nach ICD-11 »haben« können, während sie sie nach DSM-5 »nicht haben«.