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2.5Agoraphobie – die Angst, in der Falle zu sitzen: »Wenn mir jetzt was passiert …«

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Frau F., 34 Jahre, Polizistin:

»Eigentlich hatte ich mich an die Ängste schon gewöhnt, aber im Moment werden sie immer mehr, ich habe fast dauernd Angst. Am schlimmsten ist es, wenn ich allein bin – ich weiß, dass das bescheuert ist, weil mir ja nichts passiert, aber trotzdem – ich krieg dann Angst, zu ersticken oder einfach zu sterben. Eine totale Panikattacke hatte ich schon lange nicht mehr, zum Glück. Wenn mein Mann auswärts arbeitet, ziehe ich darum in der Zeit zu meinen Eltern, das ist mir schon peinlich. Fliegen oder Autobahnfahren geht gerade gar nicht, dabei würde ich so gern wieder in den Urlaub fahren. Wenn ich zur Arbeit laufe, mache ich einen Riesenumweg, weil der kürzere Weg so wenig bevölkert ist, dass ich Angst habe, dort umzufallen, und dass keiner da ist, der mir hilft. Große Angst habe ich davor, zum Arzt zu gehen – dann könnte ja rauskommen, dass ich zu einer OP ins Krankenhaus muss – und das würde ich nicht aushalten …«

Die Diagnose der Agoraphobie bezieht sich nicht nur auf Furcht vor offenen oder vollen Plätzen (agorá = griech. Versammlungsplatz), sondern auf alle Situationen, bei denen eine Flucht schwierig oder peinlich sein könnte und wo bei Gefahr in Form körperlicher Symptome keine Hilfe erreichbar scheint. Die Kernbefürchtung ist daher, in der Falle zu sitzen: »Ich komme hier nicht weg«, »Wenn mir jetzt was passiert (z. B. Ohnmacht, Panikanfall), ist keine Hilfe da«.

Die Furcht und Vermeidung beziehen sich oft auf eine Vielzahl von Situationen, daher wird die Agoraphobie auch »multiple Situationsphobie« genannt, hierzu gehören:

• Menschenmengen und potenziell überfüllte Räume (z. B. Kinos, Kantinen, Kaufhäuser, Volksfeste, Wartezimmer, Schlangestehen, Vorlesungen im Hörsaal)

• öffentliche Verkehrsmittel (v.a. Flugzeug, U-Bahn, Zug, Bus)

• enge, geschlossene, hohe oder dunkle Räume (z. B. Aufzüge, WC-Kabinen, Tunnel, Höhen, Brücken)

• allein reisen oder weit von zu Hause weg sein, sodass eine Rückkehr ins »sichere Zuhause« nicht möglich ist

• andere Orte, wo spontane Flucht unmöglich oder Hilfe nicht zugänglich ist (z. B. auf der Autobahn fahren, im Stau stehen, allein zu Hause sein, auf einen See hinausrudern, einsame Wanderungen).

Mit Tricks auf »Nummer sicher« gehen: Selbsthilfestrategien mit Nebenwirkungen

Das Leben der Betroffenen ist oft mit einem Netz aus großen und kleinen Sicherheitsstrategien zur Selbstberuhigung überzogen – oberste Priorität hat die Absicherung von Fluchtmöglichkeiten: bei offenem Fenster schlafen, um nicht in Luftnot zu geraten; immer nah am Ausgang sitzen, um im Notfall schnell wegzukommen; stets in der Nähe einer Wand sein, um sich bei Schwindel festhalten zu können; immer eine große Zahl von »Notfallmedikamenten«, Handys usw. mitnehmen, die wie ein magischer Talisman genutzt werden; die Arbeit kündigen, um im sicheren Zuhause bleiben zu können. Manchmal führt die Angst sogar zu einem Umzug in die Nähe eines Krankenhauses, massivem Substanzkonsum und Abhängigkeit von dauernder Hilfe durch Bezugspersonen. Eine Patientin verließ die eigene Wohnung als »sicheren Hafen« in den letzten 10 Jahren nicht weiter als zwei Kilometer. Die damit verbundenen Nebenwirkungen der Einschränkung von Autonomie und Lebensqualität sind den Betroffenen zwar häufig bewusst, werden aber um der gefühlten Sicherheit willen klaglos in Kauf genommen. Erst wenn äußere Umstände die Sicherheitsstrategien infrage stellen, ist der Leidensdruck groß genug, sich therapeutische Hilfe zu holen – wenn wegen der Arbeit das Pendeln in eine andere Stadt nötig ist oder der Partner mit Trennung droht, weil er die Einschränkungen nicht mehr mittragen möchte.

Viele Sicherheitsstrategien und Tricks werden erst auf Nachfrage oder zufällig im Gespräch deutlich.

Frau F.:

»Na klar, mein Handy ist immer dabei – ohne das würde ich das Haus nie verlassen oder allein sein können, ich habe sogar immer zwei – falls eines ausfällt oder der Akku leer ist … Ich gehe gern schwimmen, aber wenn im Schwimmbad die Außenbahn gesperrt ist, bin ich wieder weg – ich muss immer nah an der Leiter sein … Plötzliche Planänderungen bringen mich oft völlig aus der Fassung, obwohl ich eigentlich ein spontaner Mensch bin – ich muss mich dann erst neu einstellen, sonst habe ich das Gefühl, dass mir die Kontrolle entgleitet, das halte ich kaum aus. Darum organisiere ich alles selbst, wenn wir uns mit Freunden oder der Familie treffen – die anderen denken, ich mach das halt gern … Auto kann ich nur fahren, wenn mein Mann neben mir sitzt, aber nicht allein, nicht auf der Autobahn und nicht als Beifahrerin. Im Dienst aber kann ich das, denn zur Not könnte ich ja Sondersignal, also Blaulicht anschalten, da fühle ich mich sicher … Selbst riskante Einsätze mit Kollegen sind kein Problem, denn da bin ich nicht allein und weiß, dass jemand im Notfall Hilfe holen könnte …«

Panik und Agoraphobie als Traumabewältigung

Das Gefühl, hilflos in der Falle zu sitzen, ohne fliehen oder kämpfen zu können, ist oft der Kern traumatischer Erfahrungen. Panik und Agoraphobie sind dann als Traumafolgestörung verstehbar: Die traumatische Hilflosigkeit mit Überspannung bis hin zur Panik wird einerseits in vielen Situationen wiedererlebt, andererseits durch die Sicherheitsstrategien scheinbar bewältigt – zumindest kurzfristig. Die alten Belastungen werden dabei oft scheinbar weniger schwer empfunden als die aktuelle Angst.

Noch einmal Frau F.:

»Schlimm wurde es mit den Ängsten, als ich 18 war. Da war ich wegen Bauchschmerzen beim Arzt und der hat einen Tumor im Darm festgestellt. Von einem Moment auf den anderen war ich todkrank. Dann kam sofort die OP, da war ich völlig überfahren und hab gedacht, das überlebe ich nicht. Bis heute ist mein größter Horror, wieder ins Krankenhaus zu müssen und all das mit mir machen zu lassen. Ach so, ja – mein Vater hatte auch mehrmals Darmkrebs, der hat inwzwischen einen künstlichen Darmausgang, das ist wahrscheinlich erblich. Mein Opa ist daran sehr früh gestorben. Komisch – das schreckt mich gar nicht.«

Auf Nachfrage, ob es eventuell früher einmal sinnvoll und wichtig war, möglichst alles unter Kontrolle und »auf dem Radar« zu haben, so wie sie es heute mit ihrem Körper und der Alltagsgestaltung versucht, berichtet sie: »Na ja, das war schon immer so. Mein Vater war eigentlich unberechenbar, vor allem wenn er getrunken hatte. Da hab ich schon vor der Wohnungstür versucht zu hören, wie er drauf ist. Im Notfall konnte ich mich dann zum Glück immer zu meiner Mutter flüchten, die hat mich beschützt.«

Lösungsversuch für festgefahrene Konflikte und Beziehungsregulativ

Bei Panik und Agoraphobie werden oft in besonderem Maße Bezugspersonen als Helfer eingebunden. Dies hat starke beziehungsregulierende Auswirkungen und lässt sich hypothetisch als Lösungsversuch für festgefahrene Beziehungskonflikte und als Ausdruck von Beziehungsbedürfnissen (z. B. nach Nähe, Sicherheit, Autonomie) verstehen.

Frau S., 19 Jahre alt, leidet seit einigen Monaten unter Panikattacken, Krankheitsängsten und jetzt beginnender Agoraphobie. Sie wolle auf gar keinen Fall mehr diese Panikattacken haben, darum horche sie jetzt immer in sich rein und rufe im Notfall ihre Mutter an. Sie berichtet, dass sie eigentlich demnächst zum Studium von zu Hause ausziehen wolle, sich das aufgrund der Symptome aber nicht traue. Sie sei immer ein pflegeleichtes Kind gewesen, sei problemlos mitgelaufen, im Gegensatz zu ihrer jüngeren Schwester, die das Sorgenkind war, um das sich immer alles gedreht habe. Jetzt hätten die Eltern wohl mitgekriegt, wie es ihr gehe, und beide seien sehr besorgt.

Häufigkeit, Auslöser und Verlauf

Die diagnostischen Kriterien für eine Agoraphobie werden irgendwann im Laufe des Lebens von etwa 9 % der Frauen und 4 % der Männer erfüllt (Jacobi, Höfler u. Strehle 2014).

Agoraphobische Symptome entwickeln sich nach ursprünglich spontanen Panikattacken oft als Lösungsversuch zur Bewältigung der Hilflosigkeit im Umgang mit der Panik. Bei fast 90 % der Menschen mit der Diagnose Agoraphobie gab es zu Beginn der Störung eine Panikattacke: Panikstörung und Agoraphobie treten daher sehr häufig zusammen oder zumindest direkt nacheinander auf.

Die Symptome entstehen meist erst im Jugend- und Erwachsenenalter, allerdings beschreiben sich die Betroffenen oft als eher ängstliche, vorsichtige Kinder, zum Teil mit starker Trennungsangst in der Vorgeschichte. Die Störung beginnt dann akut oft nach belastenden Lebensereignissen oder andauernden Stresszuständen. Häufig kulminieren diese Stresszustände in Panikattacken.

Menschen mit Agoraphobie scheint es schlechter zu gelingen, Panik und Übererregung aktiv zu regulieren und als Hinweise für konstruktive Lebensveränderungen zu nutzen. Stattdessen dominieren Flucht und Absicherung als zentrale Strategien, um die Kontrolle zurückzugewinnen.

Frau F. und Frau S. aus den vorherigen Fallbeispielen regulieren ihre Angst und ihr Sicherheitsbedürfnis nach der Erfahrung der ersten Panikattacken stark über Flucht, Vermeidung, Absicherung und Selbstbeobachtung. Herr T. hingegen (siehe »Panikstörung«) zieht aus seiner Paniksymptomatik den Schluss, »dass mir mein Körper da echt einen Schuss vor den Bug versetzt hat. Eigentlich irgendwie auch gut, denn ohne die Panik würde ich jetzt immer noch in diesem Saustall arbeiten. Jetzt weiß ich, dass auch ich da meine Grenzen habe und darauf achten muss.« Er entwickelt keine Agoraphobie und erholt sich recht schnell.

Agoraphobische Lösungen verstärken sich selbst und neigen dazu, sich auszuweiten, sodass es oft im Verlauf zu einer Generalisierung der Ängste und Sicherheitsstrategien kommt und der Aktionsradius immer weiter eingeschränkt wird. Häufig nutzen die Betroffenen dann Angehörige und immer aufwendigere »Tricks«, um ihren Alltag zu managen. Viele gehen nur in Begleitung ihrer Kinder oder des Partners aus dem Haus und zur Arbeit. Die Partnerschaft und die Beziehung zu den Kindern sind davon oft chronisch belastet. Der Partner einer Patientin drückte das mit den Worten aus: »Deine Angst hat jetzt unsere ganze Familie versklavt.« Nachvollziehbar ist, wie anstrengend die Aufrechterhaltung des Alltags dann ist. In der Folge kommt es häufig zu starker Erschöpfung und Resignation bis hin zu depressiven Störungen, Beziehungskonflikten, schädlichem Konsum von Alkohol und anderen Substanzen. Erst diese krisenhaften Zuspitzungen sind dann oft der Auslöser für die Suche nach Hilfe und alternativen Lösungswegen.

Aufgrund des häufigen gemeinsamen Vorkommens wird von manchen Autoren vorgeschlagen, Panik und Agoraphobie als Teile eines Spektrums zu verstehen, und eine Panik-Agoraphobie-Spektrum-Störung mit folgenden Merkmalsbereichen konzipiert (Cassano et al. 1997, zit. n. Morschitzky 2009, S. 63 ff.):

• Paniksymptome

• Ängstliche Erwartung/Erwartungsangst

• Tendenz zu phobischer Vermeidung

• Bedürfnis nach Beruhigung durch andere

• Erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Substanzen

• Erhöhte Stressempfindlichkeit

• Erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Trennungs- und Verlusterfahrungen.

Ängste, Panik, Sorgen

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