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2.7Soziale Angststörung (Soziale Phobie)
ОглавлениеHerr O., technischer Angestellter, 30 Jahre alt:
»Eigentlich hab ich immer irgendwie Stress, wenn andere dabei sind, außer vielleicht bei meinen zwei besten Freunden. Am schlimmsten ist es, wenn ich in einem Meeting angesprochen werde und nichts zu sagen weiß. Wenn ich mit Kumpels unterwegs bin, überspiele ich den Stress, indem ich witzig bin, das kann ich ganz gut, aber nur wenn ich mir vorher Mut angetrunken habe. Wenn die anderen wüssten, wie es eigentlich in mir aussieht, würden die mich wahrscheinlich für einen echten Psycho halten … Ich hab auch dauernd ein schlechtes Gewissen, so als hätte ich was Schlimmes verbrochen, weiß aber nicht was …
Wenn ich in der Firma was präsentieren muss, grüble ich immer schon über mögliche Fehler und wie die anderen mich dann auseinandernehmen, dabei sind die eigentlich ganz nett. Wenn sowas ansteht, dann wache ich schon Tage vorher mit Würgegefühl und Übelkeit auf. Eigentlich könnte ich mit meiner misslungenen Schulkarriere stolz sein, dass ich Lehre und Abi geschafft habe, aber ich fühle mich immer als Versager und Außenseiter. Ich entspanne mich eigentlich nur, wenn ich Anerkennung von anderen bekomme – das hält aber nie lange an …
Eigentlich fühle ich mich fast immer einsam, wenn ich mit anderen zusammen bin, wie unter einer Käseglocke. Am besten geht es mir anonym unter vielen Menschen. Dabei will ich gern Beziehungen, auch zu einer Frau, aber das hat noch nie geklappt. Ich hab solche Angst davor, was andere denken! Das ist seelisch immer ein Auf und Ab zwischen aufgewühlt und niedergeschlagen, wie ein ewiger Kampf. Manchmal hasse ich alle anderen so sehr, dass ich nicht weiß, wohin mit meiner Wut …«
Bei der sozialen Angst kreisen die Befürchtungen der Betroffenen um die negative Bewertung durch andere Menschen. Neben der Angst ist Scham das vorherrschende Gefühl. Die Hauptbefürchtung ist: »Die anderen lehnen mich ab, finden mich unangenehm oder peinlich, weil ich … dumm/hässlich/nervös/schwach/langweilig bin oder zittere/rot werde/stottere usw.« Die Angst bezieht sich darauf, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen und sich dann peinlich oder beschämend zu verhalten. Solche Situationen sind vor allem:
• unstrukturierte Interaktionen und Aktivitäten in kleinen Gruppen (z. B. Pause im Seminar, Small Talk auf einer Party, Flirten und alle Kontakte zu potenziell attraktiven Personen)
• Leistungs- und Prüfungssituationen (z. B. einen Vortrag halten, Prüfungen, Bewerbungsgespräche, bei einer Besprechung eigene Ideen vorstellen, Kontakt mit Autoritäten)
• sich in der Öffentlichkeit zeigen und dabei eventuell beobachtet werden (z. B. essen, trinken, schreiben oder Sport machen vor anderen, in Bus oder Zug angeschaut werden, im Geschäft etwas aussuchen oder anprobieren)
• eigene Interessen vertreten (den Nachbarn wegen lauter Musik ansprechen, im Geschäft etwas zurückgeben).
Für die Diagnose einer spezifischen sozialen Phobie genügt es, wenn Angst oder Vermeidung in einer Art von Situationen vorliegen, z. B. vor einer größeren Gruppe zu sprechen. Die gleiche Diagnose, aber meist viel schwerwiegendere Probleme haben Menschen, bei denen fast alle sozialen Situationen starke Angst und Vermeidungsimpulse auslösen, also Personen mit einer generalisierten sozialen Angst.
Betroffene befürchten, in den jeweiligen Situationen nichts sagen zu können, zu stottern, zu erröten, zu zittern oder zu erbrechen und dann kritisiert, abgelehnt, ausgelacht oder gedemütigt zu werden. Sie leiden unter starker vegetativer Erregung, zusätzlich können eben das befürchtete Erröten, Zittern oder Harndrang tatsächlich auftreten. All diese Körpersymptome werden vor allem deshalb gefürchtet, weil sie mit der Angst verbunden sind, dadurch noch unangenehmer oder peinlicher aufzufallen.
Selbstbeobachtung, Kontrolle und Vermeidung als Lösungsversuche
Verschärfend wirkt die hohe Selbstaufmerksamkeit in Form eines maximal kritischen Außenblicks, mit dem sich die Betroffenen permanent scannen und versuchen, ihre Symptome zu kontrollieren (»Mein Gesicht glüht, ich werde sicher wieder rot! Und meine Hände zittern ja! Die anderen halten mich bestimmt für total unfähig«).
In dem Wunsch, die Symptome zu kontrollieren, werden häufig Alkohol, Cannabis oder Medikamente (v. a. Betablocker, Benzodiazepine) konsumiert.
Dazu Herr O.:
»Eigentlich kann ich ohne Alkohol nicht mit anderen zusammen sein, schon gar nicht auf einer Party, oder in einer Gruppe ausgehen. Meist glühe ich dann schon zu Hause vor, um aufzutauen. Das Problem ist, dass ich letztens bei einer Party mit Kollegen wieder die Kontrolle verloren, erbrochen habe und einen Filmriss hatte. Irgendjemand hat mich dann nach Hause gebracht. Jetzt frage ich mich, was ich da alles gesagt und gemacht habe, und traue mich vor Scham fast gar nicht mehr in die Firma. Immer dieses Gefühl, dass alle jetzt über mich tuscheln: ›Da ist wieder dieser peinliche Typ – total verspannt, und wenn er säuft, rastet er aus.‹«
In einer Art »Sei-spontan-Paradoxie« fordern die Betroffenen von sich Lockerheit und Spontaneität und prüfen sich diesbezüglich andauernd selbst. Tatsächlich wird Spontaneität aber gerade durch einen Verzicht auf Selbstkontrolle ermöglicht und durch einen Fokus auf die Situation im »Hier und Jetzt« statt auf innerliche Prozesse und die Bewertung durch andere.
Leistungs- vs. Interaktionsängste: Vortrag oder Small Talk?
Soziale Ängste beziehen sich bei manchen Menschen ausschließlich auf typische Leistungssitationen, in denen das eigene Verhalten explizit bewertet wird, wie das Halten von Vorträgen, mündliche Prüfungen, Gespräche beim Chef usw. Die gleichen Menschen, die dort extrem gehemmt und ängstlich reagieren, können in geselliger Runde entspannt und redegewandt sein. Oft gibt es hier als Auslöser eine einschneidende belastende Erfahrung, z. B. panikartige Symptome, massive Kritik, Demütigung oder Beschämung in entsprechenden Leistungssituationen.
Andersherum können sich brillante Rednerinnen oder begabte Schauspieler in informellen Interaktionen, z. B. auf Partys, beklommen und abgelehnt fühlen oder sich in spontanen Gesprächen ängstlich, hölzern und wortkarg verhalten, weil es keine vorgegebene Rolle und keinen strukturierten Ablauf der Interaktion gibt.
Häufigkeit, Abgrenzung und Verlauf
Die Häufigkeitsangaben zur sozialen Angststörung schwanken stark – zwischen 3 % und 8 % der Bevölkerung erfüllen im Laufe eines Jahres die Kriterien der Störung (Morschitzky 2009, S. 99; Jacobi, Höfler u. Strehle 2014). In diesen Häufigkeiten sind jedoch spezifische und generalisierte soziale Angststörungen vermischt. Das Geschlechterverhältnis scheint ausgeglichener als bei anderen Angststörungen. Soziale Ängste beginnen oft in später Kindheit und frühem Jugendalter mit ausgeprägter Schüchternheit und sozialem Rückzug. Sie scheinen bei jüngeren Menschen besonders stark vorhanden zu sein.
Generalisierte soziale Ängste sind oft mit großem Leid verbunden. Soziale Situationen lassen sich schlecht vermeiden, und selbst wenn das gelingt, werden damit zentrale Grundbedürfnisse nach Bindung, Beziehung und Zugehörigkeit (bei Interaktionsängsten) oder nach Wachstum, Entwicklung und Bestätigung eigener Leistung (bei Leistungsängsten) verletzt.
Damit einher gehen oft geringer Selbstwert, chronische Scham, Depressivität und Isolationsgefühle. Gerade bei generalisierten Sozialängsten ist die Komorbidität mit depressiven Störungen und Abhängigkeitserkrankungen sehr hoch.
Prüfungsangst
Die häufige Prüfungsangst wird von vielen Autoren als Form der (spezifischen) sozialen Phobie vom Leistungstyp angesehen (z. B. Morschitzky 2009; Fehm u. Fydrich 2011), da Furcht vor Bewertung und Kritik oft im Vordergrund stehen. Eine gute Darstellung von Prüfungsangst und (hypno)systemischen Therapieoptionen dazu findet sich bei Häublein (2018).
Ein ausführlicher Beitrag zur Systemischen Therapie der sozialen Angststörung findet sich im in dieser Reihe erschienenen Band von Jochen Schweitzer und Kolleginnen (Schweitzer et al. 2020).