Читать книгу Ängste, Panik, Sorgen - Daniel Voigt - Страница 14
2.1.2Wie nützlich ist die klinische Diagnosenbrille für systemische Therapeutinnen?
ОглавлениеIn der Systemischen Therapie spielen psychopathologische Diagnosen als Orientierung für die Therapeutin traditonell eine eher geringe Rolle. Handlungsleitend für die Therapie sind weniger die »objektiven« Störungssymptome, sondern eher deren Auswirkungen für und ihre Bewertung durch die betroffenen Patienten und Systeme. Eine Agoraphobie mit extremer Vermeidung aller Aktivitäten ist so lange keine »Störung«, bis sie von einem der Beteiligten als solche definiert wird. Ludewig (2009, S. 85 f.) schlägt daher vor, statt des Krankheitsbegriffs als Leitidee für klinisches Denken und Handeln das Konzept des »Problems« zu nutzen, da
»Probleme nicht auf der Abbildung einer unabhängigen Realität beruhen, sondern auf subjektiven Unterscheidungs- und Entscheidungprozessen«.
Diagnostik als eine Form der Komplexitätsreduktion erlaubt es, bestimmte beobachtete Muster Kategorien zuzuweisen, die mit bestimmten Handlungsoptionen verbunden sind (Muster: eine Patientin fährt aus Furcht vor einem Panikanfall nicht allein, sondern nur mit dem Partner Auto; Kategorie: »Sicherheits- Vermeidungsverhalten«, eingeschränkte Autonomie).
Da eine objektive Diagnostik einer Störung oder eines Problems nicht möglich ist, fokussiert Systemische Therapie weniger auf das Symptom Angst selbst als auf das damit verbundene Problem für die Betroffenen, z. B. das Leiden unter den körperlichen Anspannungszuständen, Sorgen über ein Wiederauftreten von Angstattacken oder die Einschränkungen der Handlungsmöglichkeiten.
Dennoch ist es hilfreich, die Sprache und Struktur der klinischen Diagnosen zu kennen und sie, ähnlich wie eine Brille, aufsetzen zu können, um zu schauen, ob sich damit neue Perspektiven auftun, die in der therapeutischen Arbeit hilfreich sind. Denn um das Konzept der Störungsdiagnosen herum gruppiert sich viel therapeutisches Erfahrungs- und Forschungswissen, das sich auf diese Diagnosen bezieht. Fast alle Lehrbücher klinischer Psychologie und Psychotherapie ordnen das darin enthaltene Wissen nach Diagnosen. Man muss als systemische Therapeutin diese Diagnosen nicht »glauben«. Es lohnt sich jedoch, sie zu kennen, um das darauf bezogene klinische Wissen einordnen und mit anderen darüber kommunizieren zu können.
Systemische Therapie findet zudem immer mehr in klassischen Domänen des medizinischen Krankheitsmodells statt, die mit psycho-pathologischen Diagnosen selbstverständlich operieren: in Kliniken, psychiatrischen Ambulanzen usw. Darum ist es nötig, an diese Systeme und die dort Tätigen wertschätzend anzukoppeln, sodass die Kommunikation auch mit »nicht-systemischen« Expertinnen möglich und nutzbringend ist.
Fazit: Die klinische Diagnosenbrille ist dann hilfreich, wenn sie die Denk-, Fühl- und Handlungsmöglichkeiten von Therapeutinnen und Patienten positiv erweitert – im Sinne des systemischen »ethischen Imperativs«: »Handle so, dass du die Zahl der Möglichkeiten vergrößerst« (von Foerster 1993).