Читать книгу Ängste, Panik, Sorgen - Daniel Voigt - Страница 8

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1Einführung

1.1Angst-Autobahnen und Kompetenz-Dschungelpfade

»Angst ist ein wichtiger Ratgeber, aber ein lausiger Anführer.«

(Noam Shpancer: »Der gute Psychologe«)

Angst ist die Beschützerin des Lebens und das wohl wichtigste Gefühl, das wir haben. Ohne sie wären unsere Vorfahren vom Tiger gefressen worden und wir längst Opfer unserer Neugier oder Risikofreude. Wenn jedoch Angst als Störung erlebt wird, dann hat sie meist die Führung im Leben übernommen und ihre Rolle als hilfreiche Beschützerin verloren. Die Beziehung der Betroffenen zu ihrer Angst wird von Angst vor der Angst bestimmt. Oberstes Ziel ist dann das Vermeiden und Kontrollieren dieses Gefühls. Hierzu entwickeln Patienten ein reiches Repertoire an mehr oder weniger hilfreichen Lösungsstrategien: Vermeidung der vermeintlichen Auslöser, Ablenkung, Betäubung mit Substanzen, Konsum und Arbeit, dauernde Kontrolle des eigenen Erlebens und der Umwelt, nichts dem Zufall überlassen usw. Der Preis dafür sind auf lange Sicht meist Erschöpfung, Rückzug, eingeschränkte Lebendigkeit und Verzicht.

Bei vielen Betroffenen ähneln die neuronalen Netzwerke von Angst und Vermeidung gut ausgebauten Autobahnen, während andere Wege im neuronalen Dschungel längst zugewachsen oder auf der inneren Landkarte gar nicht mehr verzeichnet sind. Diese anderen Wege sind die »Kompetenz-Dschungelpfade« des Vertrauens, des Mutes, der Zuversicht, der Selbstbestimmung und der Freude, des Verbundenseins mit eigenen Bedürfnissen, Zielen und wichtigen Menschen. Sie gilt es, wieder begehbar zu machen und auszubauen.

Was ist dann eine realistische Zielerwartung von Angsttherapie? Übergeordnetes Ziel Systemischer Therapie ist das Erweitern von selbstbestimmten Möglichkeiten und Handlungsspielräumen – statt Ausgeliefertsein und Einengung durch das Symptom. Ziel ist nicht Angstfreiheit, sondern wieder handlungsfähiger und lebendiger zu werden – auch mit oder trotz Angst. Das Gegenteil von Angst ist nicht »keine Angst«, sondern Vertrauen, Mut und Freiheit.

Systemische Therapie geht davon aus, dass sich das von Patientinnen definierte Problem der Angst und die bisherigen Lösungsversuche für dieses Problem (Kampf, Kontrolle und Vermeidung) gegenseitig verstärken. Nach dem Motto »Wenn du etwas stärken willst, bekämpfe es!« führen alle Versuche, die Angst zu besiegen, zu vermeiden oder zu kontrollieren dazu, dass sie langfristig größer wird. Systemische Therapie fokussiert daher weniger auf die Angst selbst, sondern auf die von diesen Lösungsversuchen geprägte ablehnend-kontrollierende Beziehung des Patienten zu ihr. Ziel ist eine Veränderung der Beziehung zur Angst: Akzeptanz, Integration und Kooperation mit der Angst, ohne von ihr beherrscht zu werden. Dies gelingt aber nur, wenn Patienten sich den massiven körperlichen und seelischen Erscheinungen der Angst nicht mehr hilflos ausgeliefert fühlen, sondern in der Therapie Strategien lernen, um die damit verbundene Spannung zu regulieren und sich zu beruhigen.

Das Neue steht immer in Konkurrenz zu den alten Mustern. Um die neuen Kompetenz-Pfade zu finden und begehbar zu machen, brauchen Menschen zugewandte Aufmerksamkeit, Energie und gute Ausrüstung. Therapie kann helfen, diese Aufmerksamkeit zu fokussieren und die nötige Ausrüstung zusammenzustellen. Therapeutinnen hilft etwas Geländekenntnis im Netzwerk der Angst, ein kleiner Vorrat an möglichen Landkarten des Gelingens und Ideen, wie man von einer Angst-Autobahn wieder hinunter und auf neuen Wegen vorankommt. Insiderkenntnisse aus der zentralen Straßenplanungsbehörde können auch nicht schaden – also Wissen darum, aus welchen guten Gründen diese Autobahnen einst gebaut wurden.

Bei alldem soll dieses Buch helfen.

1.2Der Kern der Angst – Ein Worst-Case-Szenario

Ängste wirken oft im Verborgenen – vor allem auf subklinischer Ebene sind sie weder von außen sichtbar, noch werden sie bewusst erlebt. Sichtbar und zum Problem werden hingegen die Lösungsversuche und Bewältigungsstrategien für die Ängste, z. B. Perfektionsstreben aus Angst vor negativer Bewertung, Vermeidung von Alleinsein aus Furcht vor Trennung oder vor Panikattacken usw. Erst wenn diese Lösungsversuche infrage gestellt oder unmöglich werden, wird der Zugang zu den Ängsten und den damit verbundenen Befürchtungen frei. Diese Worst-Case-Szenarien ranken sich im Kern fast immer um die folgenden Themen:

• Angst vor Tod, Sterben, Schmerz und Verletzung

• Angst vor Kontrollverlust über den eigenen Körper, Ohnmacht oder Verrücktwerden

• Angst vor Kritik, Beschämung und negativer Bewertung durch andere Menschen

• Angst vor Trennung, Alleinsein und Verlust wichtiger Menschen

• Angst vor Einsamkeit und Sinnlosigkeit des eigenen Lebens.

Das genaue Nachfragen nach der schlimmsten Befürchtung leistet auch in der Therapie oft einen wichtigen Beitrag zum Verstehen der Symptome und zur Verbesserung der Selbstbeziehung der Patientin (ausführlich dazu in Abschnitt 6.5.1).

1.3Angst und Furcht

Angst und Furcht bezeichnen, wenn auch nicht trennscharf, unterschiedliche Zustände. Während Furcht sich in der Regel auf eine akute Gefahr bezieht, so kann Angst auch unabhängig von der unmittelbaren Gefährdung sein, wie etwa die Angst vor einem möglichen Unglück in der Zukunft. LeDoux (2016, S. 31 ff.) beschreibt sowohl Angst als auch Furcht als vorausschauende Reaktionen auf Gefahren, aber in unterschiedlichem Zusammenspiel mit dieser Gefahr:

»Furchtzustände treten auf, wenn eine Bedrohung gegenwärtig ist oder unmittelbar bevorsteht; Angstzustände sind die Folge, wenn die Bedrohung möglich, ihr Auftreten aber unsicher ist.«

Während also für Furcht die Nähe zur unmittelbaren Bedrohung typisch ist, so ist Angst stärker mit Sorge verbunden:

»… das Selbst [ist] sowohl an der Furcht als auch an der Angst beteiligt. Furcht erleben heißt zu wissen, dass ich selbst in einer gefährlichen Situation bin, und wenn ich Angst erlebe, mache ich mir Sorgen darum, ob zukünftige Gefahren mich selbst treffen könnten.«

So setzen auch Interventionen bei phobischen (Furcht-)Störungen stärker am Umgang mit den angstauslösenden Situationen an, während etwa bei der generalisierten Angststörung eher die quälenden Sorgen im therapeutischen Fokus stehen.

In Anpassung an den allgemeinen Sprachgebrauch und zur Vereinfachung benutze ich in diesem Buch jedoch fast ausschließlich den geläufigeren Begriff der »Angst«. Wenn nicht anders erwähnt, so ist die »Furcht« dann immer mit gemeint.

1.4Die zwei Gesichter der Angst

Angst kann Leben retten, eine hilfreiche Ratgeberin sein oder ein Gefängnis und eine Qual. Sie signalisiert, dass etwas unsicher oder bedrohlich ist und verändert werden soll. Als sinnvolle Anpassungsreaktion auf Bedrohungen oder Gefahren ist sie ausgesprochen hilfreich und eine primäre adaptive Emotion. Hüther (1997) bezeichnet die mit Angst verbundene Stressreaktion als Lenkerin für viele neuronalen Anpassungsprozesse. Angst macht kreativ, erfinderisch und aktiv – sie hilft dabei, alte Verschaltungen zu lösen und neue Wege einzuschlagen.

Wenn Angst uns aber dauerhaft überflutet oder wir die Bedrohung nicht abwehren können, wird Angst eine maladaptive Emotion. Sie führt dann nicht dazu, dass wir durch Handeln zu mehr Sicherheit kommen – die Gefahr geht nicht vorbei, lässt sich nicht lösen oder klären. Die Angst bleibt, aber Hilflosigkeit gesellt sich dazu. Manche Bedrohungen, vor denen wir Angst haben, sind real längst vergangen, fühlen sich aber dennoch gegenwärtig an. Angst ist dann ein »Verrutschen in der Zeit«.

Häufig als belastend erlebt wird auch Angst als sekundäre Emotion. Das ist die Angst vor dem Erleben von Angst oder anderen unangenehmen Gefühlen – wie Scham, Hilflosigkeit, Schuld, innerer Unruhe, Heimweh, Versagen. Angst als sekundäre Emotion signalisiert vermeintliche Bedrohlichkeit dieser Gefühle und fordert dazu auf, sie zu vermeiden.

Die Herausforderung im Umgang mit Angst besteht darin zu entscheiden, wo es sinnvoll ist, ihr zu folgen, weil sie reale Gefahr oder Überforderung signalisiert, und wo es Mut und Vertrauen braucht, um sich ihr zu stellen und trotz Angst Neues zu wagen.

Ängste, Panik, Sorgen

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