Читать книгу Ängste, Panik, Sorgen - Daniel Voigt - Страница 20
2.6Generalisierte Angststörung (GAS): »Ich darf gar nicht daran denken, was passieren könnte …«
ОглавлениеFrau V., eine 25-jährige Studentin, berichtet:
»Ich bin eigentlich andauernd angespannt, kann kaum noch schlafen und muss oft vor Anspannung weinen. Ich hab vor so vielem Angst, mein Körper zittert dann, ich habe Druck auf Hals und Brust, dass ich manchmal glaube, ich muss sterben. Manchmal kann ich nicht mehr scharf sehen, fühle mich körperlich wie taub und wie in einer Blase, ohne Kontakt nach außen. Ich kann zurzeit kaum etwas für mein Studium machen, meistens geht es mir sofort schlechter, wenn ich den PC anschalte, weil dann die ganzen Sorgen über mein Studium wieder losgehen. Ich habe auch oft Angst vor wirklich sinnlosen Sachen, z. B. mich an verschimmelten Essen zu vergiften. Oft befürchte ich, dass ich falsche Entscheidungen treffe und damit unglücklich werde, z. B. dass meine ganzen Ängste der Beweis sind, dass ich eigentlich was ganz anderes studieren müsste, aber jetzt nicht mehr zurückkann und deswegen mein Leben lang unzufrieden bin. Obwohl mir das Studium ja eigentlich gefällt! Wenn ich dann mit einer Freundin darüber rede und sie sagt, dass alles o. k. ist, beruhige ich mich schnell wieder und merke, wie übertrieben das ist. Ängstlich und schüchtern war ich schon immer, früher noch viel mehr, auch wenn ich nach außen oft nicht so wirke …
Entscheidungen fallen mir superschwer, oft fühle ich mich in mehrere Richtungen gleichzeitig gezogen und habe Angst, mich falsch zu entscheiden. Bei Stress kommen dann immer wieder Zweifel, ob das alles richtig so ist. Dann denke ich, ich muss alles anders machen, weiß aber nicht, was und wie, und grüble dann darüber nach, bis ich nicht mehr kann und total erschöpft bin …«
Sorgenketten, ängstliche Erwartung und Stress
Die manchmal auch »Sorgenkrankheit« genannte Störung wird diagnostiziert, wenn ausgeprägte Ängstlichkeit und Sorgen (»worrying«) über eine Vielzahl von Situationen im Vordergrund stehen. Es kommt zu unkontrollierbaren »Sorgenketten« und der Vorahnung zukünftigen Unglücks, wie: »Es könnte X (etwas Schlimmes) passieren, und dann passiert Y (etwas noch Schlimmeres), das kann ich nur vermeiden, indem ich Z tue, aber das schaffe ich nicht, wie soll ich nur …«
Patientinnen leiden unter allgemein erhöhter Anspannung und körperlichen Stresssymptomen, wie Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Muskelverspannungen oder Durchfall. Diese körperlichen Beschwerden sind meist der Anlass für eine erste Vorstellung, meist bei der Hausärztin. Typisch sind außerdem Nervosität, Reizbarkeit, Erschöpfung und Konzentrationsprobleme sowie Derealisationserleben (die Welt ist wie unwirklich) und Depersonalisation (selbst nicht wirklich da sein). Manchmal kommen Panikattacken oder panikähnliche Symptome dazu, wie bei der oben beschriebenen Patientin Frau V.
Schwarzmalerei: Wer das Schlimmste befürchtet, vermeidet böse Überraschungen
An die Sorgen und Ängste haben sich die Personen meist schon so sehr gewöhnt oder sie als Teil ihres Wesens akzeptiert, dass ihretwegen keine Hilfe gesucht wird. Die Inhalte dieser Ängste und Sorgen wechseln häufig, Freud (1926) bezeichnete diese Form der Angstneurose als »frei flottierende Angst«. Die sinnvolle Funktion von Sorgen, nämlich Unsicherheit zu reduzieren und auf mögliche negative Ereignisse vorzubereiten, ist dann verloren gegangen. Die Sorgen laufen aus dem Ruder. Inhaltlich geht es dabei meist um:
• die eigene Gesundheit und die von Angehörigen (»ich könnte krank werden«)
• finanzielle Sicherheit (»mein Partner könnte seine Arbeit verlieren, wir können den Kredit nicht mehr abzahlen und er fängt dann an zu trinken«)
• familiäre und soziale Sorgen (»mein Kind hat einen neuen Freund in der Schule, es könnte unter schlechten Einfluss geraten und Drogen nehmen«)
• Sorgen über den Alltag und das Weltgeschehen (»immer mehr Kriege und immer mehr Gewalt«/»das Finanzsystem könnte zusammenbrechen«)
• mögliches Versagen und Scheitern (»ich könnte meine Prüfung vergeigen und dann bei der Nachprüfung so aufgeregt sein, dass ich auch da scheitere und mein Studium abbrechen muss«)
• existenzielle Themen wie den Sinn des eigenen Tuns, die Beschränktheit des Lebens und die Unausweichlichkeit des Todes (»ich kann nicht daran denken, dass ich mal tot sein werde, das ertrage ich nicht«).
Innerer Dialog: hektische Sorgen und dumpfes Grübeln
Flückiger (2015) beschreibt den inneren Dialog der Patienten als geprägt von
a) Worrying, also Sorgenketten mit gedanklichem Handlungsplanen, um das Eintreten der Befürchtungen zu vermeiden (»um nicht durch die Prüfung zu fallen, muss ich mehr lernen, aber das schaffe ich nicht, wenn ich so aufgeregt bin, darum muss ich …«),
b) pessimistischem Versumpfen (Grübeln, Rumination) und
c) negativen Grundannahmen, die es erschweren, sich von den Sorgen zu distanzieren (z. B. perfekt sein zu müssen, um Kritik zu vermeiden).
Während das sich innerlich überschlagende Worrying hektisch und schnell geschieht, ist das Versumpfen quasi die apathische, resignative Gegenreaktion, wenn die Sorgenketten ins Leere laufen und keine Entlastung folgt.
Oft glauben Betroffene auch, dass Unglücke in magischer Weise dadurch vermieden werden können, dass man sich intensiv genug sorgt.
Der Fluch der bildhaften Vorstellung – da hilft nur: »Bloß nicht daran denken!«
Das Dilemma der Patienten ist: Einerseits kreist ihr Denken ständig um Worst-Case-Szenarien, andererseits können sie diese nicht als bildhafte Vorstellung zulassen und dadurch verarbeiten, weil sie dann eine Überflutung mit Angst befürchten. Die bildhaften »Horrorszenarien« werden also um keinen Preis zu Ende gedacht, sondern gestoppt durch Sorgen und Ideen darüber, wie man sie eventuell vermeiden kann. Das ist sinnvoll, denn lebhafte Horrorszenarien aktivieren massive Angst- und Abwehrreaktionen. Die Sorgen über die Bedrohung sind dann ein Lösungsversuch, um mit dem Horrorszenario und der Anspannung und Hilflosigkeit umzugehen. Sorgenklienten sind übrigens, wie viele Menschen, die unter Ängsten leiden, oft Meister in bildhafter Vorstellung – was Fluch und Segen zugleich ist, denn diese Fähigkeit lässt sich genauso gut für die therapeutische Arbeit nutzen.
Meta-Sorgen
Nicht nur die Ängste und Sorgen selbst machen die Störung aus, sondern die Meta-Sorgen, also Sorgen darüber, sich wieder Sorgen zu machen und davon belastet zu sein. Das beeinträchtigt die Fähgkeit, mit den Gefühlen, Gedanken und Körperempfindungen der Angst und Bedrohung konstruktiv umgehen zu können.
Die andere Seite: verantwortungsbewusst, empfindsam und empathisch
Menschen, die sich viel sorgen und gute Antennen für Probleme haben, werden oft als sehr verantwortungsbewusst erlebt – mit dem Sichsorgen geht das Sorgetragen für andere häufig einher. Die Ängste und Sorgen drücken daher auch ein hohes Verantwortungsgefühl und Mitgefühl für andere oder die Welt aus. Sie münden aber nicht in konstruktives Handeln, sondern die Personen verharren in der passiven Sorge.
Ziel der Therapie ist darum nicht unbedingt, sich weniger Sorgen zu machen, sondern mit ihnen konstruktiver und lebenstüchtiger umzugehen. Die hohe Empfindlichkeit für Störungen und Probleme geht oft mit einer Berührbarkeit auch durch positiv bewertete Erfahrungen einher – wie Liebe, Verbundenheit, Schönheit usw.
Häufigkeit, Abgrenzung und Verlauf
Die Diagnose einer GAS trifft für circa 5 % der Menschen irgendwann in ihrem Leben zu, bezogen auf die letzten 12 Monate gilt das für etwa 3 % der Frauen und 1–2 % der Männer (Jacobi, Höfler u. Strehle 2014). Häufig gibt es zeitgleich oder in der Vorgeschichte andere Ängste (z. B. Trennungsangst, spezifische Phobien). Die Störung wird meist zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr deutlich, wobei viele Patienten sich schon von klein auf als besorgt und ängstlich beschreiben.
Die Komorbidität vor allem mit anderen Angststörungen, depressiven und somatoformen Störungen sowie schädlichem Substanzgebrauch ist mit ca. 90 % sehr hoch, Grund dafür sind die sich teilweise stark überlappenden diagnostischen Kriterien.