Читать книгу Das dunkle Reich - Darius Dreiblum - Страница 12

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9. Kapitel

„Clarissa, mein Kind, hörst Du mich? Clarissa, so wach doch auf.“ Langsam tauchte Clarissa aus den Tiefen ihres Schlafes wieder auf und kehrte in das Hier und Jetzt zurück. Einen Moment dachte sie, sie würde noch bei ihrer Großmutter wohnen und wie jeden Morgen von ihr geweckt werden, denn es war die Stimme ihrer Oma, die sie gerade hörte und die sie in den Tiefen ihres Traumes gefunden hatte. Aber langsam kamen auch die Erinnerungen über die Ereignisse der letzten Tage wieder zum Vorschein und damit auch das Wissen, dass ihre Großmutter todkrank war und im Sterben lag.

Aber die Stimme hörte nicht auf, zu ihr zu sprechen, also war sie doch wirklich und kein Traum. Es war ihre Großmutter, die zu ihr sprach, und sie wollte, dass sie aufwachte. Das tat Clarissa dann schließlich auch. Als sie endlich ihre Augen öffnete, wurde sie liebevoll von ihrer Großmutter angelächelt, die zwar immer noch gesundheitlich angeschlagen wirkte, aber nicht mehr todkrank zu sein schien. Außerdem konnte sie wieder sprechen, was einem kleinen Wunder nahekam. Was war passiert, hatte wirklich das Amulett diese Veränderung bewirkt? Es war fast zu vermuten.

„Oma, Dir geht es wieder besser?“ fragte Clarissa erstaunt.

„Ja, mir geht es Dank Deiner Hilfe wieder gut, Clarissa. Hättest Du nicht das Amulett gefunden und es mir wieder gebracht, wäre ich wahrscheinlich schon tot. So wurde mir ein kleiner Aufschub gewährt, den ich nutzen kann, Dich auf Deine schwere Aufgabe, die Du in nächster Zeit erfüllen musst, vorzubereiten.“

„Was meinst Du denn damit?“

„Das bedeutet, auch wenn es mir im Augenblick wieder gut geht, dass ich doch bald sterben muss. Aber ehe das geschieht, möchte ich Dir noch einige wichtige Dinge erzählen.“

„Aber das kann doch nicht sein. Wieso denkst Du, dass Du sterben musst? Du siehst so viel besser aus als gestern Abend. Auch vorgestern machtest Du nicht eine so guten Eindruck auf mich wie heute.“

„Tut mir leid Clarissa, aber es ist wirklich so, wie ich es sage. Ich werde sehr bald sterben. Dank der Energie, die von dem Amulett erhalten habe, können wir uns aber wenigstens noch in Ruhe voneinander verabschieden und ich kann Dir noch ein paar Dinge erzählen, die mir schon lange auf dem Herzen liegen. Das musst du akzeptieren, auch wenn es Dir vielleicht das Herz bricht.“ Clarissa, die angesichts dieser Worte schwer schlucken musste und feuchte Augen bekam, nickte nun ganz zaghaft.

„Gut, dann kann ich ja beginnen zu erzählen. Angefangen hat alles eigentlich damit, dass ich Deinen Großvater begegnet bin und ich mich in ihn verliebte. Du hast ihn leider nie persönlich kennengelernt. Er war ein großer und gutaussehender Mann mit kurzen blonden Haaren und dunkelblauen Augen. Er verfügte über ein sehr einfühlsames Wesen, aber auch große Willensstärke. Zu unserer Hochzeit, die gegen den Willen meiner Eltern schon zwei Monate nach unserer ersten Begegnung stattfand, hat mir mein geliebter Mann dieses Amulett geschenkt. Er hat mir nie erzählt, woher er es hatte, aber ich fühlte immer, dass es sehr wertvoll für ihn war.

Auf seinen Wunsch hin habe ich es auch nie abgelegt, da er meinte, es würde meinem Schutz dienen. Wie Du weißt war Dein Großvater Archäologe und verbrachte sehr viel Zeit an irgendwelchen Ausgrabungsstätten im Ausland. Oft war es so, dass ich ihn auf seinen Reisen begleitete, aber auf der letzten und wichtigsten Reise war ich nicht zugegen, da ich zu diesem Zeitpunkt hochschwanger mit Deinem Vater war. Seine Hauptforschungsgebiete waren die griechische und römische Mythologie. Im Rahmen seiner Forschungen machte er auf seiner letzten Reise wohl einige hochbrisante Entdeckungen, wie er mir in einem seiner Briefe schrieb. In seinem allerletzten Brief machte er dann Andeutungen, dass er kurz vor einer Entdeckung stand, die ihm den Nobelpreis für Archäologie einbringen sollte. Aber kurz danach war er dann verschwunden und tauchte auch nie wieder auf.

Natürlich versuchte ich Nachforschungen anzustellen, aber mit einem Neugeborenen auf dem Arm war dies nicht ganz leicht. Von dem Forschungsinstitut Deines Großvaters bekam ich nach einer gewissen Zeit seine ganzen persönlichen Dinge zugeschickt. Dazu gehörten auch seine Notizen, in denen er alles genau notiert hatte, mit dem er sich damals beschäftigt hatte. Beim Durchschauen dieser Unterlagen dachte ich zunächst, dass mein geliebter Mann wahnsinnig geworden wäre. Er schrieb dort von einem Übergang in eine andere Welt und von schrecklichen Wesen, die in dieser dunklen Welt leben sollten.

Aber nach und nach fand ich immer mehr Hinweise, dass das wirklich so sein könnte und er vielleicht einen Weg in dieses dunkle Reich gefunden hatte. Unter Umständen war er gar nicht umgekommen, sondern konnte aus was für Gründen auch immer nicht mehr hierher zurückkehren. Natürlich konnte und wollte ich nie ganz die Hoffnung aufgeben, dass er doch eines Tages zu mir zurückkehren würde, aber das geschah leider nie. Um nicht den Verstand zu verlieren, musste ich das irgendwann akzeptieren und mein Leben weiterleben. Also konzentrierte ich mich voll und ganz auf die Erziehung meines Sohnes und, nachdem Du geboren warst, dann auf Dich.

Insgesamt ließ ich diese Dinge für mehr als zwei Jahrzehnte auf sich beruhen. Aber als Dein Vater und Deine Mutter mit dem Auto verunglückten und im Feuer einen schrecklichen Tod starben, war das Thema der Übergänge in andere Welten und eines möglichen Lebens nach dem Tod wieder bei mir präsent. Es ließ mich seither nicht mehr los. Seit dem ich Dich damals voller Trauer in die Arme schloss, verbrachte ich viel Zeit damit, in alten Büchern und anderen Quellen nach irgendwelchen Hinweisen darauf zu suchen.

Meine Suche hat sehr lange gedauert, ehe sie letztendlich doch noch erfolgreich war. Erst kurz vor meinem Schlaganfall fand ich in einem sehr alten verbotenen Buch konkrete Hinweise darauf, dass es diese andere Welt, dieses dunkle Reich wirklich existiert und wie man dorthin gelangen kann.“

Clarissa, die ihrer Großmutter in den letzten Minuten wie gebannt zugehört hatte, traute sich erst jetzt, sich leicht zu räuspern und ihr eine Frage zu stellen:

„Und wie kann man dorthin gelangen, Großmutter?“

„In diesem Buch wurde davon gesprochen, dass der Übergang von unserer Welt in das dunkle Reich nur über einige wenige besondere Spiegel mit Hilfe des Aussprechens einer Abfolge von uralten Worten möglich sei. In dem Moment als ich das las, fiel mir ein, dass nur wenige Tage, nachdem die persönlichen Dinge Deines Großvaters damals bei mir eintrafen, sein Institut mir auch noch den antiken Spiegel überlassen hatte, der seitdem im Flur meines Hauses steht. Da keimte in mir die Hoffnung auf, dass ich meinen geliebten Mann unter Umständen doch noch einmal wiedersehen konnte und vergaß dabei alle Vorsicht.

Genau wie in dem alten verbotenen Buch beschrieben, stellte ich sechs Kerzen rund um den Spiegel auf, platzierte mich direkt davor und sprach die beschriebene Beschwörung aus. Und tatsächlich fing der Spiegel an bläulich zu schimmern. Nach kurzer Zeit war nicht mehr mein Spiegelbild in dem Spiegel zu erkennen, sondern eine andere Gestalt gewann zunehmend an Form und Schärfe. Ich konnte es kaum fassen, aber vor mir, auf der anderen Seite des Spiegels, stand ein Mann, der wie Dein Großvater aussah. Er sah keinen Tag älter aus als damals, kurz bevor er verschwand, und lächelte mich sogar mit dem verschmitzten Lächeln Deines Großvaters an.

Ich war wie verrückt vor Glück und wollte ihn schnellstmöglich in meine Arme schließen, aber als ich versuchte den Spiegel anzufassen, wurde ich wie von einer Art unsichtbarem Kraftfeld davon abgehalten. Ja, ich konnte die Oberfläche des Spiegels weder mit meinen Händen berühren noch sie mit meinen Fingern durchdringen. Die Gestalt auf der anderen Seite hatte das alles sehr genau beobachtet und schien zu wissen, woran es lag. Sie deutete auf mein Amulett und gab mir zu verstehen, dass ich es ablegen und dann nochmals versuchen sollte.

Naiv wie ich zu diesem Zeitpunkt noch war, legte ich das Amulett tatsächlich ab, und berührte dann erneut den Spiegel. Diesmal glückte es mir wirklich, mit meiner Hand auf die andere Seite zu gelangen. Das Wesen mir gegenüber fing nun an vor Freude zu strahlen und nahm meine Hand ganz zärtlich in die seine. Erst war ich überglücklich, Deinen Großvater endlich wieder spüren zu können, dann bemerkte ich aber, dass irgendetwas nicht richtig war. Die Hand dieses Wesens war so kalt wie die Hand eines Leichnams und hatte nichts Lebendiges an sich. Dann fühlte ich mich irgendwie benommen. Mir fiel es auf einmal schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Ja, je länger er meine Hand hielt, desto schwächer wurde ich und auch meine Erinnerungen an mich und mein Leben wurden immer weniger.

Nun wusste ich mit Sicherheit, dass etwas nicht stimmte. Was geschah gerade mit mir? Der Verdacht in mir wurde stärker, dass dort auf der anderen Seite nicht mein geliebter Mann stand, sondern ein fremdes Wesen, dem es gelungen war, mich durch dunkle Zauberei zu täuschen. Ja, und für einen kurzen Augenblick sah ich jetzt auch, was ich schon befürchtet hatte.

Das Gesicht meines geliebten Mannes verwandelte sich für ein paar kurze Momente in das Gesicht einer reißenden dunklen Bestie. Jetzt gab es keine Zweifel mehr. Dieses Wesen auf der Gegenseite des Spiegels war nicht Dein Großvater, sondern eine Art Dämon, der mich meiner Lebensenergie beraubte. Als ich das erkannte, versuchte ich panisch, mich von seinem Griff befreien, aber er hatte das fast im gleichen Augenblick bemerkt, und verstärkte seinen Griff und hielt meine Hand fest umklammert. Nun stand es fest, dass der Dämon mich nicht freiwillig loslassen würde, jedenfalls nicht ehe er mich vollkommen meiner Kräfte beraubt hatte oder ich tot war.

Ich wusste nicht, wie ich mich von ihm befreien konnte, daher begann ich ihn voller Verzweiflung anzuschreien:

„Was willst Du von mir, Du dunkles Geschöpf? Lass mich endlich los und gib mir meine Freiheit zurück.“ Da fing er an hämisch zu grinsen und sagte nun in einem schmeichlerischen Tonfall:

„Erkennst Du mich etwa nicht? Ich bin Dein geliebter Gemahl und möchte, dass wir endlich wieder vereint sind. Komm doch zu mir herüber auf die andere Seite, damit ich Dich in meine Arme schließen kann. Komm und drücke Deinen feuchten Lippen auf meine und küsse mich, denn Du schmeckst so köstlich.“

Angewidert wendete ich nun meinen Blick ab. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass, wenn er mir weiterhin so rasant meine Kraft entzog, ich wahrscheinlich bald das Bewusstsein verlieren würde. Dann fiel mir das Amulett ein. Ich hatte es nicht weit weg vom Spiegel auf die kleine Kommode gelegt. Eigentlich müsste es dort durch mich noch zu erreichen sein.

Ich beobachtete mein Gegenüber nun ganz genau und als er sich genüsslich die Lippen leckte und dabei die Augen schloss, nutzte ich diesen Moment, um zu versuchen, nach dem Amulett zu greifen. Dabei musste ich feststellen, dass es doch zu weit weg war. Das einzige was mir gelang, war es leicht mit den Fingerspitzen zu berühren. Dies bekam das fremde Wesen allerdings mit und zog mich voller Gewalt noch näher an sich heran. So schwach wie ich war, konnte ich ihm kaum noch Widerstand entgegenbringen. Doch dann fiel mir siedend heiß ein, dass sich in meiner Hosentasche noch mein Schlüsselbund befand und einer der Schlüssel daran relativ lang war. Ich versuchte nun den Schlüsselbund aus meiner Hosentasche herauszubekommen, was nicht gerade einfach war. Nach mehreren Versuchen gelang er mir schließlich doch noch. Gleich darauf versuchte ich, mit Hilfe des langen Schlüssels das Amulett zu erreichen und zu mir in die Nähe zu ziehen. Immer wieder nutze ich dabei Momente aus, in denen die dunkle Kreatur unaufmerksam war. Schließlich bekam ich das Amulett wirklich in die Finger und konnte es umfassen.

In dieser Sekunde passierten mehrere Dinge. Ich fühlte durch das Amulett eine unglaublich große Menge an Energie in meinen Körper fließen. Gleichzeitig nahm ich wahr, wie das Wesen im Spiegel meine Hand plötzlich losließ, als ob es sich daran wie an einem glühenden Eisen verbrannt hätte. Dann zog ich so schnell es ging meine Hand wieder in meinen Teil der Realität zurück. Das dunkle Geschöpf versuchte nun noch schnell wieder nach meiner Hand zu ergreifen, stieß aber gegen die Spiegeloberfläche, die jetzt erneut fest geworden war. Das Wesen auf der anderen Seite des Spiegels heulte deswegen unvermittelt vor lauter Wut laut auf und konnte vor Überraschung seine Tarnung nicht länger aufrechterhalten.

Sein ganzer Leib schien zu zerfließen und dann zeigte er mir endgültig sein wahres Gesicht. Vor mir stand eine schrecklich aussehende Gestalt, mit einem skelettartig abgemagerten menschlichen Körper und einem wolfsähnlichen Gesicht mit langen Fangzähnen, aus dessen Maul dickflüssiger gelber Schleim floss. Sein ganzer Körper war mit großflächigen Wunden übersät, die stark nässten und sich schon teilweise im Stadium der Verwesung befanden.

„Du hast Dich befreit meine Liebste, aber das wird Dich nicht vor Deinem Untergang retten, Ich habe die meiste Deiner köstlichen Energie schon getrunken und Du wirst bald elendiglich sterben. Ja, Du wirst sterben, sterben, sterben!“ schrie das schreckliche Wesen mir zum Abschied zu, ehe es wieder im Dunkeln des Spiegels verschwand.

Ich fühlte mich sterbenselend, nicht nur weil mir ein Großteil meiner Lebensenergie gestohlen worden war, sondern auch weil ich so dumm gewesen war, zu denken, dass Dein Großvater über Jahrzehnte in dem dunklen Reich auf mich gewartet hatte, um dann pünktlich zu erscheinen, nachdem ich die uralte Beschwörung durchgeführt hatte. Wie hirnrissig von mir.

Ich spürte in meinem Innersten, dass dieses Wesen die Wahrheit gesprochen hatte und ich wahrscheinlich nicht mehr lange leben würde. Aber es musste doch eine Möglichkeit geben, diese Lebensenergie zurückzuerhalten, da war ich mir ganz sicher. Doch wie sollte ich das anstellen? Vielleicht fand ich ja eine Heilungsmöglichkeit für mich in einer der alten Schriften. Da ich ahnte, dass mir nicht mehr viel Zeit blieb, begann ich gleich mit dem Studium der in Frage kommenden Literatur. Ich fand in den Büchern wirklich einige Hinweise, die mir vorher nicht aufgefallen waren. Aber leider sagten sie nichts darüber aus, wie man verlorene Lebensenergie, die einem von einem Bewohner des dunklen Reiches gestohlen worden war, wieder zurückgewinnen konnte.

Dafür fand ich aber viele Hinweise darauf, welche verschiedenen Arten der Beschwörung eines Spiegels sinnvoll und welche höchst gefährlich waren. Die Beschwörung, die ich durchführt hatte, galt als eine der gefährlichsten Beschwörungen, denn sie diente nicht nur dem Öffnen des Übergangs zwischen unserer Welt und dem Reich der Dunkelheit, wie in dem verbotenen Buch beschrieben, sondern auch dem Herbeirufen eines Halbwesens des dunklen Reiches, was mir ja ebenfalls erfolgreich gelungen war.

Als ich nach einigen Tagen des Studiums immer noch keinen hilfreichen Informationen zu meiner Heilung gefunden hatte, konnte ich es nicht länger ertragen, diesen unseligen Spiegel oder irgendeinen anderen Spiegel in meinem Haus zu belassen, daher rief ich einen bekannten Antiquitätenhändler an und ließ die Spiegel aus meinem Haus abholen und in Kommission zum Verkauf anbieten.

Aber das war nur ein kurzes Aufflackern meiner Tatkraft. Mir ging es von Tag zu Tag schlechter und ich merkte, dass ich mich nur mit Hilfe der Energie des Amuletts am Leben halten konnte. Allerdings auch nur so lange bis ich das Amulett durch meine Unachtsamkeit verlor und schließlich den Schlaganfall erlitt und endgültig zu sterben drohte.“

„Und warum hast Du denn nicht bei mir gemeldet, vielleicht hätten wir gemeinsam eine Möglichkeit für Deine Heilung finden können, Großmutter?“

„Ja, eventuell wäre das möglich gewesen, aber ich wollte Dich unter keinen Umständen in Gefahr bringen, Clarissa.“

„Rosemarie, Du hast mich vielleicht eher durch meine Unwissenheit in Gefahr gebracht.“ sagte Clarissa Ihrer Großmutter mit einem vorwurfsvollen Unterton und berichtete ihr in allen Einzelheiten von der Durchsuchung ihrer Wohnung und von der fremden Frau, die sie so lange verfolgt und schließlich gestern überfallen hatte. Rosemarie Mandel war fürchterlich erschrocken, von dem, was ihre Enkelin da erzählte:

„Wie bitte, die Wesen des Dunklen Reiches sind schon auf Dich aufmerksam geworden und wollten Dir das Amulett stehlen? Das ist ja schlimmer, als ich befürchtet hatte. Wie konnten sie nur Deine Spur aufnehmen? Wie ist es ihnen gelungen, unbemerkt in unsere Welt einzudringen? Scheinbar hat es inzwischen eine nicht unerhebliche Verschiebung des Machtgefüges zu Gunsten des dunklen Reiches gegeben, wie es schon vor langer Zeit prophezeit wurde und was sicherlich nicht gut für die Menschheit ist. Die dunklen Göttinnen werden alles daran setzen, die Herrschaft über die Welt des Lichts zu erlangen und die Menschen zu ihren Dienern zu machen.“

Rosemarie Mandel hielt kurz inne, dann sagte sie voller Inbrunst:

„Clarissa, du musst mir versprechen, dass Du mit aller Kraft versuchen wirst, das zu verhindern. Schau Dir die Notizen an, die ich im Keller meines Hauses auf dem Schreibtisch liegen habe. Dort wirst Du wichtige Hinweise darauf finden, was in dem Kampf gegen das dunkle Reich hilfreich und wichtig ist. Außerdem werde ich Dir jetzt das Amulett übergeben, auf das es Dich beschützen und Dir Kraft geben wird, wenn Du Schutz und Stärke benötigst.“, mit diesen Worten nahm sie das Amulett ab und legte es Clarissa um. Im gleichen Augenblick sah Clarissas Großmutter wieder schwach und sehr verletzlich aus. Trotzdem fuhr sie fort:

„Ich merke, dass, wenn ich gleich einschlafen sollte, ich nicht mehr aufwachen werde und freue mich darauf, Deinen Großvater im Reich der Toten nach sehr langer Zeit endlich wiederzusehen. Es tut mir schrecklich leid, dass ich Dich nicht mehr bei Deinem Kampf unterstützen kann, aber mich hat nun jede Kraft verlassen. Bitte nimm mich jetzt noch ein letztes Mal in den Arm, damit ich Deine Wärme und Deine Liebe spüren kann.“

Clarissa, die Tränen in den Augen hatte, nahm ihre Großmutter zum Abschied fest in den Arm. Dann bemerkte sie, wie sich der Körper ihrer Großmutter kurz aufbäumte, um kurz darauf völlig zu erschlaffen. Jetzt war es geschehen. Rosemarie Mandel war in ihren Armen eingeschlafen und in das Reich der Toten eingegangen. Clarissa wollte es in diesem Moment aber nicht wahrhaben, dass ihre Großmutter nun tatsächlich tot sein sollte. Für immer und ewig verloren an die Finsternis. Sie wollte ihre Oma nicht loslassen. Hoffte darauf, dass sie wieder aufwachen würde. Doch das geschah nicht. Der Körper von Rosemarie Mandel wurde von Minute zu Minute immer kälter. Schließlich blieb Clarissa nichts anderes übrig, als der Wahrheit ins Gesicht zu blicken. Ihre Großmutter war tot. Was sollte nun aus ihr werden? Völlig auf sich selbst gestellt musste sie den Kampf gegen die dunklen Mächte aufnehmen. Aber dann dachte sie kurz an Devius und mit diesem Gedanken stahl sich ein kleines Lächeln auf ihr Gesicht. Vielleicht doch nicht ganz alleine.

Clarissa schüttelte kurz ihren Kopf, um wieder einigermaßen klar denken zu können und um zu wissen, was als nächstes zu tun war. Sie legte ihre Großmutter sanft zurück in das Bett und faltete ihr voller Liebe und Zärtlichkeit die Hände zusammen. Dann gab sie ihr noch einen letzten Kuss auf die Stirn und ging ohne sich nochmals umzudrehen aus dem Zimmer. Nachdem sie sich etwas gesammelt hatte, sagte sie der diensthabenden Schwester auf der Intensivstation Bescheid, dass ihre Großmutter gerade gestorben war. Als sie nach der Erledigung der Formalitäten schließlich vor der Tür der Intensivstation stand, wurde sie von Gefühlen der Einsamkeit und der Machtlosigkeit überwältigt und fing plötzlich an zu zittern und dann entsetzlich an zu weinen.

Da stand sie nun, eine einsame und verlassene junge Frau, die den Kampf gegen eine ganze Welt aufnehmen sollte, dabei fühlte sie sich so schwach und klein, dass sie diesen Kampf nur verlieren konnte. Aber sie musste diesen Kampf, wie sich gleich herausstellte, nicht alleine führen. Plötzlich spürte Clarissa, wie sie jemand in den Arm nahm und ihr die Tränen abwischte. Es war Devius, der, als sie gestern Abend nicht an ihr Telefon gegangen war, angefangen hatte, sich Sorgen um sie zu machen und nach ihr zu suchen. Sie war ihm sehr dankbar, dass er sie hier gefunden hatte und jetzt bei ihr war und sie voller Mitgefühl tröstete.

Während die beiden Menschen sehr eng umschlungen beieinander standen und sich tief in die Augen blickten, machte sich das dunkle Reich bereit, den alles vernichtenden Schlag gegen die Menschheit zu führen. Die dunklen Mächte spürten die Gefahr, die von der Enkelin Rosemarie Mandels ausging. Daher wollten sie Clarissa auf keinen Fall Gelegenheit geben, sich den Machtbestrebungen des dunklen Reiches zu widersetzen. Bald würden sie sich nicht mehr damit begnügen, sie nur zu beobachten, sondern stattdessen versuchen, ihrer habhaft zu werden und sie ihrer Lebenskraft zu berauben. Nur das ahnte Clarissa noch nicht.

Das dunkle Reich

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