Читать книгу Das dunkle Reich - Darius Dreiblum - Страница 15

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12. Kapitel

Clarissa schlenderte Arm in Arm mit Devius an diesem lauen Sommermorgen in Richtung Silvia Adlers Praxis. Und obwohl sie schon recht spät dran waren, zeigten sie keine besondere Eile, denn sie genossen jeden Moment, den sie zusammen verbringen konnten.

Clarissa fühlte sich nach wie vor sehr schwach und war erfüllt von einer tiefen Traurigkeit. Sie vermisste ihre Großmutter wirklich sehr und ihr war fortwährend zum Weinen zumute. Fast alle Menschen, die ihr jemals etwas bedeutet hatten, waren nun tot. Ihr einziger Trost und ihr einziger Halt war derzeit die Zuneigung von Devius, ansonsten wäre sie in dieser oder jeder anderen Welt verloren gewesen und bitterlich zugrunde gegangen. Was die Halbwesen des dunklen Reiches ihr und ihrer Großmutter angetan hatten, war unentschuldbar. Ja, sie fragte sich voller Bestürzung, wie man nur so voller Hass und Grausamkeit sein konnte?

Um sich etwas abzulenken, beobachtete sie Devius ein wenig von der Seite während sie nebeneinander liefen und als er das bemerkte, lächelte er sie voller Verbundenheit und menschlicher Wärme an. Unglaublich, dass sie ihn erst gestern kennengelernt hatte. Alles an ihm kam ihr schon so vertraut vor, als ob sie ihn schon immer kennen würde. Auch wenn es vielleicht komisch klang, aber sie konnte sich schon jetzt ein Leben ohne ihn kaum mehr vorstellen. Sie war voller Liebe zu ihm. Mit diesem Gedanken fing sie ebenfalls an zu lächeln.

Als Clarissa und Devius bald darauf ihr Ziel erreichten und bei der Praxis von Silvia Adler eintrafen, klingelten sie an der alten mit Schnitzereien verzierten Eingangstür. Kurz nach ihrem ersten Klingeln wurde ihnen von Silvia Adler geöffnet. Als sie sie freundlich begrüßt und ihnen die Hand gegeben hatte, bat sie die beiden Liebenden mit einer einladenden Geste herein:

„Ah, Devius, es freut mich Dich wieder zu sehen und das ist sicherlich die junge Frau, von der Du mir gestern so viel erzählt hast. Clarissa, wenn ich mich richtig entsinne?“

„Ja, mein Name ist Clarissa. Es freut mich Sie kennen zu lernen, Frau Adler.“

„Mich freut es ebenfalls. Aber ihr beide seid sicherlich nicht nur zum Austausch von Höflichkeitsfloskeln zu mir gekommen. Devius hatte ich ja erwartet, aber Du hast ihn gewiss aus einem wichtigen Grund zu mir begleitet, oder? Aber lasst uns erst einmal in mein Sprechzimmer gehen, dann könnt ihr in Ruhe anfangen zu erzählen.“

Nachdem sie im Sprechzimmer von Silvia Adler Platz genommen hatten und ihnen von einer Mitarbeiterin von Silvia Adler eine Kanne Kaffee und ein paar kleine Häppchen zum Essen gebracht wurden, begann Clarissa von den Dingen zu berichten, die sie von ihrer Großmutter erfahren hatte. Silvia Adler hörte ihr dabei konzentriert zu und nickte hin und wieder zustimmend.

Danach erzählte Devius von den Dingen, die ihm während seines Alptraumes widerfahren waren. Auch seine Schilderungen verfolgte Silvia Adler sehr interessiert. Auf besondere Aufmerksamkeit stieß dabei seine Erwähnung der dunklen Göttin. Als beide ihren Bericht beendet hatten, begann Silvia Adler zu sprechen:

„Erst einmal möchte ich meine große Freude darüber ausdrücken, dass die Vorsehung Eure beiden Leben zusammengeführt hat und eine so große Zuneigung zwischen Euch entstanden ist. In dem Kampf gegen das dunkle Reich wären wir ohne unsere Liebe und Hingabe verloren. Erst der Hass unter den Menschen konnte das dunkle Reich so erstarken lassen.

Zugleich möchte ich Dir Clarissa mein unendliches Bedauern über den Tod Deiner Großmutter aussprechen. Obwohl wir in der gleichen Stadt wohnten, hat es uns die Fügung nie erlaubt, uns persönlich kennenzulernen. Wie ich aber von anderen Menschen erfahren habe, war sie eine gütige und liebevolle Frau. Und als Hüterin des Amuletts und Besitzerin des dunklen Spiegels, war sie für unsere Sache sehr wichtig und wird für immer unvergessen bleiben.“

Silvia Adler hielt kurz inne, um einen Schluck Kaffee zu trinken, dann blickte sie erneut auf und schaute Clarissa und Devius offen und voller Warmherzigkeit an. Gleich darauf fuhr sie in einem ernsten Tonfall fort:

„Innerhalb kürzester Zeit habt ihr beide unabhängig voneinander viele wichtige Dinge über die Niedertracht und die Bösartigkeit der finsteren Mächte in Erfahrung gebracht, aber hütet Euch davor, irgendwann zu glauben, sie wirklich zu kennen. Die Facetten der Dunkelheit sind so vielfältig wie die Farben der Nacht. Niemals wird es jemanden gelingen, sie völlig und ganz zu durchschauen oder ihre Handlungen vorauszusehen. Wie ein Krebsgeschwür findet sie immer neue Wege sich auszubreiten und ihre tödlichen Kräfte anzuwenden.“

Dann zu Clarissa gewandt:

„Und da wäre noch etwas. Jetzt nachdem Deine Großmutter tot ist, befindet sich das verbotene Buch in Deinem Besitz. Obwohl dieses Buch nicht unbedingt eine verlässliche Quelle wahrheitsgemäßer Informationen ist, wie die schrecklichen Erlebnisse und der Tod Deiner Großmutter gezeigt haben, wäre es trotz allem wichtig, darin nach versteckten Hinweisen suchen zu können. Meinst Du Clarissa, Du könntest mir das Buch eine gewisse Zeit leihweise zur Verfügung stellen?“ Clarissa, die aufgrund der Beschreibung der Macht der finsteren Kräfte mit ihren Gedanken gerade an einem der dunkelsten Orte ihrer Vergangenheit weilte, brauchte einen Moment ehe sie bemerkte, dass Silvia Adler sie direkt angesprochen hatte und antwortete daher etwas zögerlich:

„Aber natürlich, Frau Adler, das mache ich. Ich möchte dieses Buch, das an dem Tod meiner Großmutter eine erhebliche Mitschuld trägt und mich daher auch immer wieder an dieses schreckliche Ereignis erinnern wird, nicht unbedingt behalten. Daher leihe ich es Ihnen gerne aus.“

Silvia Adler nahm dies mit einem wohlwollenden Lächeln zur Kenntnis. In diesem Moment ahnte sie allerdings noch nicht, in welche große Gefahr sie Clarissa durch ihr Ansinnen brachte.

„Ach ja, und dann wäre es noch sehr wichtig, den dunklen Spiegel wieder in Deinen Besitz zu bringen. Nur durch ihn ist eine Reise von der Welt des Lichts in das dunkle Reich möglich. Schau Dir bitte auch die Notizen an, die Deine Großmutter für Dich hinterlassen hat. Wahrscheinlich wirst Du darin einige wichtige Anhaltspunkte finden, die uns im Kampf gegen das dunkle Reich weiterhelfen können.“

„Gut, das erledige ich gleich.“

„Und Du, Devius, wie Du in Deinem Alptraum am eigenen Leib erfahren hast, sollte man den Halbwesen des dunklen Reiches nicht wehrlos entgegen treten, sonst läuft man sehr schnell Gefahr, sein Leben zu verlieren. Daher würde ich vorschlagen, während Clarissa in das Haus ihrer Großmutter zurückkehrt und dort alles Notwendige erledigt, dass wir uns wieder Deinen Übungen zuwenden. Heute werde ich Dir den Zauber der Unsichtbarkeit lehren. Falls das gut klappen sollte, ist danach auch noch der Zauber des Vergessens an der Reihe. Diesen Zauber wirst Du benötigen, um Deinen Vater befragen zu können und von ihm den Weg in die andere Welt zu erfahren.“

Als sich die drei Gefährten über das weitere Vorgehen einig waren, begab sich Clarissa zum Haus ihrer Großmutter. Während die dunklen Halbwesen der jungen Frau erneut heimlich folgten, stellten sie mit boshafter Freude fest, dass das Ziel ihrer Begierde nun völlig auf sich allein gestellt war. Noch war der Zeitpunkt, sie zu überwältigen, aber nicht gekommen. Obwohl alles in ihnen danach schrie, ihrer endlich habhaft zu werden, musste das noch ein wenig warten.

Trotzdem Clarissa sie nicht sah, erzeugte die Anwesenheit der düsteren Geschöpfe in ihr ein bedrohliches Gefühl. Daher hatte sie es auch sehr eilig zum Haus ihrer Großmutter zu gelangen. Sobald sie durch die Haustür trat, atmete sie erleichtert auf und wusste nicht, warum das so war. Um sich von dem eigenartigen Gefühl der Bedrohung abzulenken, ging sie in den Keller und suchte dort nach dem verbotenen Buch. Tatsächlich fand Clarissa es auch sehr schnell in einem Wandregal, das in der Nähe des Schreibtisches stand. Als sie gleich darauf noch die Notizen ihrer Großmutter zusammen gesucht hatte, ging sie nach oben, um von dort aus den Antiquitätenhändler anzurufen und zu bitten, den dunklen Spiegel wieder zurück in das Haus ihrer Oma zu bringen. Dieser wollte sich anfangs nicht so richtig darauf einlassen, weil er wohl schon einen Käufer für das antike Stück in Aussicht hatte, aber nachdem Clarissa ihm etwas Honig um Mauls geschmiert und ihm ein wenig Geld für seine Mühen geboten hatte, sagte er dann doch zu, den Spiegel bis spätestens halb eins zurückzubringen.

Demnach hatte sie jetzt noch eine Stunde Zeit, um sich etwas zu Essen zuzubereiten und die Notizen ihrer Großmutter in Ruhe durchzulesen. Clarissa machte sich ein paar Spaghetti mit Olivenöl und Knoblauch und trank dazu einen Schluck guten Rotwein. Während sie aß begann sie in den Notizen ihrer Großmutter zu lesen:

Das dunkle Reich war seit Anbeginn aller Zeiten eine Parallelwelt zu unserer Welt, allerdings war dessen Existenz immer nur sehr wenigen Eingeweihten bekannt. Die einzige Möglichkeit für einen Menschen aus der Welt des Lichts in das dunkle Reich zu gelangen, führte über einen der sieben dunklen Spiegel, die verteilt in der ganze Welt zu finden waren. Zum Öffnen des Zugangs in das dunkle Reich benötigte der Reisende aber darüber hinaus noch eine magische Beschwörungsformel. Die Halbwesen des dunklen Reiches konnten dagegen über jeden beliebigen Spiegel sowohl in die Welt der Menschen wechseln als auch in ihre Welt wieder zurückkehren.

Jeder dunkle Spiegel hatte sein Gegenstück im dunklen Reich und war dort in einem Schrein der dunklen Mächte untergebracht. Diese Zugänge wurden durch die Wächter der dunklen Spiegel bewacht. Die Wächter waren tote Seelen, denen der Übergang in das Reich der Toten verwehrt wurde und die dadurch irrsinnig große Schmerzen erleiden mussten. Durch dieses unerträgliche Leid wurden sie nicht nur wahnsinnig, sondern auch blutrünstig und abgrundtief böse. Auch ihr äußeres Erscheinungsbild veränderte sich dadurch. Ihr Hass und ihre furchtbare Verzweiflung wurden Teil ihrer Körper und ihrer Gesichter. Sie entwickelten sich dadurch zu monströsen Gestalten mit furchtbaren Deformationen und Entstellungen.

Das dunkle Reich wurde durch die drei dunklen Göttinnen beherrscht. Das waren Nyx, die Göttin der Nacht und Herrscherin der Dunkelheit, Eris, die Göttin der Zwietracht und des Streites, und Lethe, die Göttin des Vergessens. Den dunklen Göttinnen gelang es vor langer Zeit die Wächter der dunklen Spiegel zu umgarnen und sie seitdem für ihre Zwecke auszunutzen. Sie hatten die grausamsten und widerwärtigsten von ihnen zu ihrer Leibgarde ernannt und im Laufe der Jahrhunderte ein immer größer werdendes Heer aus den immer zahlreicher werdenden Wächtern gebildet, das dem Machterhalt und der Unterdrückung von Aufständen diente. Diese riesige Armee von Elitekämpfern wurde auch die dunkle Horde genannt und unterstand dem direkten Befehl von Nyx, der Urgöttin.

Es herrschte eine strenge Hierarchie im dunklen Reich. Nur die obersten Kasten hatten immer ausreichend Nahrung zur Verfügung und genossen gewisse Freiheiten, die dem normalen Volke vorenthalten blieben. Bei den niederen Kasten herrschten häufig Hungersnöte und auch Seuchen waren dort weit verbreitet. In seiner Gesamtheit litt ein Großteil der Bewohner des dunklen Reiches unter der strengen Herrschaft ihrer Göttinnen, deren Regentschaft durch die blutige Brutalität der dunklen Horden am Leben erhalten wurde. Die ausreichende Versorgung aller Bevölkerungsgruppen mit Nahrung stellte ein großes Problem im dunklen Reich dar. Wie schon der Namen sagte, gab es im dunklen Reich kein Sonnenlicht.

Es herrschte dort eine immerwährende dämmrige Finsternis, dadurch gab es kaum pflanzliche Nahrung. Die wenigen Bäume und Sträucher, die dort wuchsen waren fleischfressenden Pflanzen, die kein Sonnenlicht zum Überleben benötigten, sondern Blut.

Im Vergleich zur Welt des Lichts war das dunkle Reich eine kleine überschaubare Welt mit etwa 50.000 Bewohnern. Die Lebensenergie und die geistige Energie der Menschen der Welt des Lichts hatten sich zum Hauptnahrungsmittel der Halbwesen des dunklen Reiches entwickelt. Wie ein stets hungriger und gefräßiger Parasit hingen das dunkle Reich und seine Bewohner von der Welt des Lichts ab und war ohne sie nicht überlebensfähig. Der Hunger des dunklen Reiches und seiner Bewohner war fast unstillbar. Um ihren Hunger zu sättigen, verfeinerten die Halbwesen des dunklen Reiches permanent ihre Methoden, den Menschen der Welt des Lichts ihre Energie zu entziehen.

Eine dieser Methoden war die Übertragung der Energie über alle möglichen Arten von Spiegeln mit Hilfe eines abgewandelten, eines dunklen und verwerflichen Zauber des Vergessens. Dieser entzog den Menschen der Welt des Lichts völlig unbemerkt ihre geistige Energie, während sie schliefen. Betroffen waren davon meist ältere Menschen, da diese nicht mehr genügend Abwehrkräfte gegen den Zauber entwickeln konnten. Aus diesem Grund nahm die Zahl der Demenzerkrankungen in der Welt des Lichts fortwährend zu. Das war aber nur eine der Auswirkung des vermehrten Hungers des dunklen Reiches auf Energie.

Daneben waren immer wieder Gerüchte zu hören, dass Menschen der Welt des Lichts in das dunkle Reich entführt wurden, um dort wie Vieh gehalten zu werden und der Ernährung der Halbwesen zu dienen. Es sollte ganze Höfe mit versklavten Menschen in einigen abgelegen Gegenden des dunklen Reiches geben. Aber all das waren allerdings nur Geplänkel im Vergleich zu den Plänen von Nyx. Denn sie plante, die totale Herrschaft über beide Welten zu übernehmen, um damit die Nahrungsprobleme ihres Volkes ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen. Diese Pläne waren schon sehr weit fortgeschritten und näherten sich ihrer Vollendung.

Clarissa war so vertieft in das Studium der Notizen ihrer Großmutter, dass sie zuerst gar nicht bemerkte, wie es an der Haustür klingelte. Erst nach dem dritten Klingeln registrierte sie es und beeilte sich, nun schnell zur Tür zu gelangen und sie zu öffnen. Vor der Tür erwartete sie, mittlerweile schon etwas ungeduldig, der Antiquitätenhändler zusammen mit einem Helfer, um ihr den dunklen Spiegel zurückzubringen. Nach einer kurzen Begrüßung und dem Ausdruck ihres Dankes für die vielen Mühen, ließ sie den Spiegel wieder dort anbringen, wo er lange Jahre stand, nämlich im Flur im Erdgeschoss des Hauses. Als sie den beiden Männern dann noch einen kleinen Geldbetrag in ihre Hände gedrückt und sich von ihnen verabschiedet hatte, war sie recht schnell wieder allein.

Nun konnte sie sich endlich wieder den Notizen ihrer Großmutter zuwenden und ging dazu zurück in die Küche. Gerade wollte sie erneut beginnen zu lesen, da hörte sie auf einmal ein leises Klirren im Flur und dann ein paar flüsternde Stimmen. Waren der Händler und sein Helfer nochmals zurückgekehrt, weil sie etwas vergessen hatten? Aber Clarissa war sich ziemlich sicher, dass sie die Tür hinter ihnen abgeschlossen hatte, als die beiden gegangen waren. Wie sollten sie also in das Haus gelangt sein? Außerdem würden sie sicherlich nicht verschämt wie Diebe flüstern. Als sie an das Wort Dieb dachte, wurde ihr plötzlich ganz heiß und etwas mulmig zumute. Wer war hier mit ihr in dem Haus? Konnte es sein, dass jemand in das Haus eingebrochen war, um eine der vielen Antiquitäten aus dem Haus zu stehlen? Ja, das war gut möglich. Und es war niemand in der Nähe, der ihr helfen konnte. Sie war völlig auf sich selbst gestellt. Dessen wurde sie sich soeben bewusst.

Ehe sie die aufsteigende Panik aber vollends in den Griff bekommen konnte, zwang sie wieder etwas ruhiger zu werden und entschloss sich nachzuschauen, wer unbefugt in das Haus ihrer Großmutter eingedrungen war.

Als Clarissa nun langsam und vorsichtig in das Wohnzimmer schlich, um von dort aus einen Blick in den Flur zu werfen, sah sie zur ihrer Überraschung an dieser Stelle keine Einbrecher, sondern drei Halbwesen aus dem dunklen Reich und ihre Verfolgerin von gestern zusammenstehen und leise miteinander sprechen. Die Fremde war scheinbar die Anführerin der Gruppe und gab den dunklen Kreaturen in einer fremdartigen Sprache irgendwelche Befehle. Dabei deutete sie in verschiedene Richtungen. Es hatte für Clarissa den Anschein, dass die Eindringlinge über den dunklen Spiegel in das Haus ihrer Großmutter eingedrungen und jetzt auf der Suche nach ihr waren.

Nun wollte sich ein großes Angstgefühl in ihr breit machen, das sie zu lähmen drohte. Was hatten diese Wesen mit ihr vor? Gab es für sie noch eine Möglichkeit zu entkommen? Clarissa ging gedanklich ihre Fluchtmöglichkeiten durch und die sahen nicht besonders gut aus. Die Fremde schien im Flur stehen bleiben zu wollen, während ihre Helfer nach und nach das Haus durchsuchten. Das bedeutete, dass eine Flucht durch die Haustür nicht ohne weiteres möglich war. Höchstens Clarissa vertraute auf ihren gut durchtrainierten Körper. Das hieß, sie rannte in den Flur, überwältigte die Fremde, ehe sie ihre Helfer rufen konnte, und floh aus der Haustür auf die Straße und rief dort um Hilfe.

Auch eine zweite Fluchtmöglichkeit fiel ihr noch ein. Es gab auf der Rückseite des Hauses eine Terrassentür, die in einen kleinen Garten führte, aber die Terrassentür war immer abgeschlossen und Clarissa hatte den Schlüssel nicht einstecken, sondern der lag in einer Schublade in der Küche. Also musste sie zurück in die Küche gehen, sich dort den Schlüssel holen und dann wieder ins Wohnzimmer zurückkehren, die Tür aufzuschließen und daraufhin in den Garten zu fliehen. Der war allerdings hoch umzäunt.

Die letzte Möglichkeit war, sich irgendwo im Haus zu verstecken und zu hoffen, dass die Halbwesen sie nicht finden würden. Sehr unwahrscheinlich und daher die schlechteste aller Lösungen. Die wenigen Sekunden die ihr jetzt noch zur Verfügung standen, ehe sie zwingend eine Entscheidung über ihr weiteres Vorgehen treffen musste, nutzte sie, um Devius eine kurze Nachricht zu senden. Dann hatte sie einen Entschluss gefasst und lief so schnell sie konnte auf die Fremde zu, um dann zu versuchen, sie zur Seite zu stoßen. Die Fremde bemerkte sie anfangs nicht und es sah ganz so aus, als ob ihr Plan gelingen könnte. Kurz bevor sie die Fremde erreichen konnte, kam allerdings plötzlich eines der Halbwesen zurück in den Flur und stand Clarissa damit im Weg. Es gelang ihr zwar noch, sich unter den gewaltigen Klauen des Halbwesens wegzuducken, sie war aber dadurch so abgelenkt, dass sie nicht mehr auf die Fremde achtete. Diese nutzte den Moment der Unachtsamkeit von Clarissa aus, um ihr ihre Hand auf die Schulter zu legen und bei Clarissa mit Hilfe eines dunklen Zaubers eine kurze Ohnmacht auszulösen. Auch wenn dieser Schwächeanfall nur wenige Momente dauerte, reichte das den Kreaturen aus, sie zu fesseln und damit wehrlos zu machen.

Nachdem Clarissa nach einem kurzen Augenblick wieder erwachte, war sie an Händen und Füßen gefesselt und lag wie ein Kartoffelsack auf der Schulter des größten der Halbwesen, einer Mischung aus Mensch und Stier. Diesem riesigen Wesen schien es überhaupt keine Mühe zu bereiten, ihr Gewicht zu tragen. Als Clarissa nun etwas ihren Kopf drehte, sah sie, dass die kleine Gruppe direkt vor dem dunklen Spiegel stand. Dann führte die Anführerin eine Beschwörung aus, worauf der Spiegel anfing, blau zu schimmern, und durchlässig wurde. Einer nach dem anderen schritten die Halbwesen und die Fremde jetzt durch den Spiegel. Als letzte dann schließlich ihr Träger und sie.

Wie Devius ihr schon beschrieben hatte, wurde sie beim Eindringen in den Spiegel von einer Welle des Schmerzes erfasst, als ob sämtliche Moleküle ihres Körpers plötzlich auseinander gerissen wurden, um dann kurz darauf wieder zusammen gesetzt zu werden. Zum Glück dauerte dieses Schmerzempfinden nicht allzu lange an, obwohl es ihr trotzdem fast wie eine kleine Ewigkeit vorkam.

Während sie auf der anderen Seite des Spiegels eintrafen, wurde die Gruppe von zwei grimmig aussehenden Wächtern begrüßt. Der eine Wächter sah so aus, wie man sich einen mutierten Werwolf vorstellen würde, mit übergroßen Fangzähnen und kleinen gelben blutunterlaufenen Augen. Der andere Wächter ähnelte eher einem kleingewachsenen Zyklopen mit nur einem großen Auge auf der Stirn und riesigen muskulösen Händen und Füßen. Sobald der wolfsähnliche Wächter Clarissa zu Gesicht bekam, begann er auch schon hungrig zu knurren und lief ihm sichtbar der Speichel im Maul zusammen und auch daraus hervor.

Als Clarissa das sah, musste sie angewidert wegschauen, um sich nicht vor Ekel übergeben zu müssen. Die Halbwesen bemerkten die Reaktion von Clarissa und fingen daraufhin an, verächtlich zu lachen und sich über sie lustig zu machen. Dadurch wurde der jungen Frau erst wirklich bewusst, wo sie hier eigentlich war. Sie befand sich im dunklen Reich und dazu noch in der Gewalt dieser widerlichen Kreaturen. Wenn nicht ein Wunder geschah, hatte sie kaum die Hoffnung, jemals wieder ihre eigene Welt wiederzusehen. Als sie daran dachte, musste sie sich sehr stark zusammenreißen, um nicht völlig zu verzweifeln und einfach los zu weinen. Nein, diesen Triumph wollte sie den Halbwesen nicht gönnen. Sie würde stark sein und einen Ausweg finden. Das war sie sich selbst schuldig. Irgendeine Fluchtmöglichkeit würde sich schon für sie ergeben. Das musste einfach so sein.

Nachdem die Gruppe den Schrein der dunklen Mächte verlassen hatte, gingen sie in der düsteren Kälte des dunklen Reiches einen kleinen Pfad entlang, der sie schließlich zu einem breiten schnell strömenden Fluss führte. Während sie dem Verlauf des Flusses folgten, sah Clarissa immer wieder eine große schwarze Rückenflosse in dem Fluss auftauchen, die dann wieder längere Zeit in der finsteren Tiefe verschwand. Nachdem sie schätzungsweise eine halbe Stunde am Fluss entlang gegangen waren, kamen ihre Häscher und sie zu einem imposanten Gebäude, das auf einer Insel mitten im Fluss stand und wie ein altertümliches Gefängnis aussah.

Soweit Clarissa erkennen konnte, waren alle Türen und Fenster des Hauses vergittert und wenn man genau hinhörte, konnte man trotz dem Rauschen des Flusses schon aus großer Entfernung die Schreie der gequälten Gefangenen hören. Um zu dem Gebäude zu gelangen, musste die Gruppe eine kleine Steinbrücke überqueren. Je näher sie dem Gefängnis kamen, desto lauter wurden die teils unmenschlichen Schreie, die aus den Fenstern drangen. Dorthin brachten Sie also Clarissa. Das war das Ziel ihres Weges. Was hatten sie nun mit ihr vor? Würden sie sie langsam und qualvoll töten? Oder wollten die Halbwesen ihre dunklen Foltermethoden bei ihr anwenden und sie damit zum Reden bringen? Sie wusste es nicht, aber sie wusste, dass egal was geschehen würde, sie sich auf jeden Fall nicht ohne Widerstand ihrem Schicksal ergeben würde. Nein, zu keiner Zeit.

Das dunkle Reich

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