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15. Kapitel

Clarissa wurde von der Fremden und den drei Halbwesen über die holprige Steinbrücke zu dem Gefängnis gebracht, das ein riesiges altes Backsteingebäude aus dunkelgrauen feucht wirkenden Steinen war. Sowohl am Ende der Brücke als auch vor dem Eingang des wenig einladend wirkenden Gefängnisbaues standen zwei missgestaltet Wesen als Wächter.

Diese und alle anderen Wächter an denen sie noch vorbeikamen verbeugten sich voller Respekt vor der fremden Frau, als ob sie eine hochgestellte Persönlichkeit im dunklen Reich war. Nachdem sie durch den Eingang des Gefängnisses gegangen waren, standen sie in einer großen Eingangshalle, von der jeweils zwei Gänge nach rechts und nach links abgingen und zwei Treppen nach oben führten. Die Eingangshalle wurde von einer Reihe von Fackeln mit blauem Feuer erleuchtet. Auch dort standen wieder in allen Ecken abscheulich aussehende Wächter, die den Raum bewachten. Es roch hier stark nach Moder und schimmliger Feuchtigkeit und alle Wände waren mit schwarz grünem Moos bewachsen.

Als Clarissa mit ihren Entführern die Halle betrat, wurden sie von einem kleingewachsenen weiblichen Halbwesen begrüßt, das den Unterkörper einer riesigen Schlange besaß und ab dem Bauchnabel den Körper einer menschlichen Frau. Auch ihr Kopf hatte etwas Schlangenartiges und als sie ihren Mund öffnete sah Clarissa, dass sie über die spitzen Zähne und auch die gespaltene Zunge einer Schlange verfügte. Das Halbwesen sprach leicht lispelnd und während sie sprach tropfte ständig grünes Gift aus ihren Zähnen auf die Lippen, was sie immer wieder mit ihrer Zunge weglecken musste.

Seit dem sie im dunklen Reich angelangt waren, verstand Clarissa wie durch Zauberei die Sprache der Halbwesen und damit auch was die Schlangenfrau ihnen zu sagen hatte:

„Seid gegrüßt Lethe, Göttin des Vergessens, ebenso wie Eure Begleiter. Wie kann Euch die Herrin der dunklen Kerker zu Diensten sein?“

„Ich danke Dir, Ennova, Herrin der dunklen Kerker, auch ich grüße Dich und erteile Dir meinen dunklen Segen. Wir haben hier eine ganz außergewöhnliche und bedeutsame Gefangene für Dich. Sie ist sehr wichtig für unseren Kampf gegen die Welt des Lichts. Nur Du bist für meine Großmutter und mich vertrauensvoll genug, um über sie zu wachen und sie Deiner Obhut zu überlassen.“

„Euer Vertrauen ehrt mich und ich gelobe Euch bei meinem Leben, dass ich Euch nicht enttäuschen werde. Sollen wir sie wie alle anderen Gefangenen mit den Methoden der dunklen Folter vertraut machen und langsam und qualvoll zu Tode bringen oder nachsichtig und behutsam behandeln und sie etwas länger am Leben lassen?“

„Die Gefangene ist ein Faustpfand, um ihren Geliebten in eine Falle zu locken. Sie muss nur so lange überleben, bis ihr Geliebter sich in unserer Gewalt befindet. Dann kann sie über den Acheron in das Totenreich geschickt werden. Wie ihr sie letztendlich tötet, ist mir einerlei. Wenn es Euch Freude bereitet, könnt ihr sie hiernach auch zu Tode quälen.“

„Oh, das hören meine achtsamen Ohren gern. Wir hatten schon lange kein Wesen aus der Welt des Lichts hier, um daran unsere Künste zu erproben.“ sagte die Schlangenfrau mit einem bösartigen Lächeln und tätschelte dabei mit ihrer Schwanzspitze das Gesicht von Clarissa, die sich daraufhin angeekelt abwandte.

Als diese Worte ausgesprochen waren, konnte Clarissa nicht verhindern, dass ihr ein eisiger Schauer über den Rücken lief. Jetzt wusste sie, woran sie war. Voller Schrecken sah sie vor sich, in welcher großen Gefahr Devius und sie schwebten. Die Halbwesen hatten sie entführt, um Devius dazu zu bewegen, in das dunkle Reich zu kommen. Er sollte aus Angst um sie jegliche Vorsicht vergessen und nur noch das Ziel haben, sie aus ihrer Gefangenschaft zu befreien. Wenn ihr Geliebter dann in das dunkle Reich eindrang, wartete wahrscheinlich schon eine Übermacht von Halbwesen auf ihn, um ihn zu töten oder zumindest gefangen zu nehmen. Das musste sie unbedingt verhindern. Sie musste ihn auf irgendeine Art und Weise warnen, nur wie?

Clarissa wurde in ihren Gedankengängen unterbrochen, als sie von dem Halbwesen, das sie bisher trug, heruntergelassen und der Schlangenfrau übergeben wurde.

„Nun, dann werde ich die blonde Schönheit mal in ihr Zimmer bringen lassen. Ich habe zwei besonders gut geeignete Wächterinnen, die die Bewachung unseres neuen Gastes übernehmen werden.“ sagte Ennova zu Lethe gewandt. Danach drehte sie leicht den Kopf und rief mit lauter Stimme in Richtung des linken Ganges:

„Artepa und Eniba, kommt zu mir und bringt die neue Gefangene in ihr Verlies!“

Kurz darauf hörte man Schritte im linken Gang erklingen und dann sah man zwei Gestalten, die sich gemächlich der Gruppe in der Eingangshalle näherten. Je näher sie kamen, desto deutlicher konnte Clarissa erkennen, wie schrecklich verunstaltet ihre zukünftigen Wächterinnen waren. Die eine Gestalt war groß und unförmig und ähnelte der Mischung zwischen einer Wildsau und einer menschlichen Frau. Borstige Haare bedeckten fast ihren gesamten Körper und sie hatte einen gewaltigen, keilförmigen Kopf und eine sehr bewegliche lang gestreckte Schnauze. Außerdem besaß sie zwei sehr große Eckzähne und kleine schwarze Augen. Die andere Wächterin war halb Mensch halb Hyäne. Sie hatte das tupfige Fell einer Hyäne und ging leicht gebückt auf zwei Beinen. Außerdem verfügte sie über einen wuchtigen Kopf und einen kräftigen Nacken. Auch ihre Schnauze war recht breit und darin war ein sehr kräftiges Gebiss zu sehen.

Als die beiden Wächterinnen bei der Gruppe ankamen, befahl Ennova ihnen, Clarissa in die für sie vorgesehene Gefängniszelle zu bringen, die sich im rechten Trakt des Gefängnisbaues befand. Die größere von beiden nahm daraufhin das Seil, mit dem Clarissa immer noch gefesselt war, in ihre riesigen Pranken und begann, sie voller Gewalt hinter sich her zu ziehen, während die andere ihnen dichtauf folgte und immer wieder mit einer neunschwänzige Katze auf Clarissa einschlug, um sie zum schnelleren Gehen zu bewegen.

Die schrecklichen Schmerzen, die das verursachte, ließen Clarissa oftmals zu Boden stürzen und voller Verzweiflung darauf hoffen, dass sie bald zu ihrem Ziel, der Zelle gelangen würden. Nach einer kleinen Ewigkeit, so kam es zumindest Clarissa vor, hatten sie endlich ihr Verlies erreicht. Die Hyänenfrau schloss die Zellentür auf, während die Wildsaufrau Clarissa voller Brutalität mit den Worten

„Willkommen in der Hölle der dunklen Kerker!“ in ihre Zelle warf und dann die Tür laut zuschmiss.

Jetzt war Clarissa also endgültig gefangen. Als erstes musste sie versuchen, sich von diesen Fesseln zu befreien, die ihr das Blut in Armen und Beinen abschnürten. Das gelang ihr glücklicherweise schon nach kurzer Zeit mit Hilfe einer kleinen Scherbe, die sie auf dem Boden der Zelle fand. Danach betastete sie ihren Rücken, der voller blutiger Striemen war, die wie Feuer brannten und bei deren Berührung sie jedes Mal laut aufstöhnte. Sie hoffte darauf, dass sich die Wunden nicht entzünden würden, denn das würde ihr wahrscheinlich ein noch schnelleres Ende bereiten als die Folter der Wächterinnen.

Nun erst sah sie sich in ihrer Zelle um. Es war ein kleiner dunkler Raum mit einem Steinpodest, der wohl ihr Bett darstellen sollte, und einem kleinen Hocker. Dann befand sich in einer Ecke des Verlieses ein Loch im Boden, was scheinbar zur Verrichtung der Notdurft dienen sollte. In dem Raum war es sehr kühl, außerdem roch es feucht und modrig. Auch hier wuchs Moos an den Wänden Beleuchtet wurde die Zelle durch eine blauflammige Fackel, die aber keine Wärme spendete. Während sie sich näher in der Zelle umschaute, entdeckte Clarissa an den Wänden teils im Laufe der Zeit und durch die Feuchtigkeit unkenntlich gewordene, teils aber auch noch lesbare Schriftzeichen, die hier offenbar von den Gefangenen, die vor ihr in dieser Zelle saßen an die Wände geschrieben worden waren. Auch der kleinste Raum der Wände ihrer Gefängniszelle war mit Schriftzeichen bedeckt.

Zu ihrer Verblüffung konnte sie diese Schriftzeichen ohne Probleme entziffern und lesen, obwohl sie in einer ihr unbekannten Sprache verfasst waren. Was war mit ihr geschehen, als sie von den Halbwesen durch den Übergang von der Welt des Lichts in das dunkle Reich gebracht wurde? Weshalb verstand sie plötzlich ihre Sprache und wieso konnte sie, ohne darüber nachdenken zu müssen, ihre Schrift lesen und verstehen? Vielleicht hing das mit dem Amulett ihrer Großmutter und den darin steckenden Zauberkräften zusammen? Ja, das wäre gut möglich.

Clarissa schaute auf ihre Uhr und stellte fest, dass es erst kurz nach zwei war. Es kam ihr durch die dämmrige Düsternis im dunklen Reich schon sehr viel später vor. In dem Moment, als sie daran dachte, wurde ihr bewusst, wie müde und erschöpft sie sich fühlte. Sie entschloss sich, sich etwas hinzulegen. Nachdem sie sich erst einmal ausgeruht und etwas geschlafen hatte, würde sie sich anschließend näher mit den Schriftzeichen an den Wänden befassen. Vielleicht konnte sie ja in den Texten ein paar Hinweise darauf finden, wie sie aus diesem schrecklichen Gefängnis entkommen konnte. Außerdem musste sie sich Gedanken darüber zu machen, wie sie Kontakt zu Devius aufnehmen und ihn warnen konnte.

Mit diesen Gedanken legte sie sich auf die kalte und feuchte Steinpritsche und schlief fast sofort ein. Kaum war sie eingeschlafen, fing sie auch schon an zu träumen. Sie träumte davon, dass ihre Großmutter wie ein Geist durch die Zellentür glitt, sie in den Arm nahm und dann zu sprechen begann:

„Clarissa, es tut mir sehr leid, dass ich Dich in eine so große Gefahr gebracht habe und Du diese schrecklichen Dinge erleiden musst, sei aber sicher, dass dies nicht umsonst sein wird. Vertraue auf Dich und die Kraft Deiner Liebe. Denn die Stärke Deiner Liebe birgt die Macht Dich aus diesem Gefängnis zu befreien.“ Ehe Clarissa ihrer Großmutter etwas erwidern konnte, wurde sie durch die Kälte eines Schwall Wassers und die höllischen Schmerzen, die das Salz in diesem Wasser in ihren Wunden auslöste, geweckt. Als Begleitmusik dazu ertönte noch das höhnische Lachen ihrer Wächterinnen, die ihr das voller Bosheit angetan hatten. Im gleichen Moment hörte sie folgende voller triefendem Hass hervorgestoßene Worte:

„Ach, unsere blonde Schönheit hat sich zum Schönheitsschlaf hingelegt, aber wir möchten nicht, dass sie sich ausruht und es ihr gut geht. Wir möchten, dass sie bitterlich friert und sie vor Schmerzen schreit.“

Als Clarissa nun von ihrer Pritsche aufschreckte, sah sie die beiden Wächterinnen vor ihrem Bett stehen und sie triumphierend angrinsen. Im Hintergrund stand Ennova die Schlangenfrau und lächelte bösartig und falsch. Sie schien sehr zufrieden über die Tat ihrer Untergebenen zu sein. Langsam stand Clarissa nun von der Pritsche auf und sagte sehr leise und ohne Zorn zu zeigen:

„Verlasst meine Zelle und lasst mich in Ruhe!“ Scheinbar war in ihren Worten und ihrem Blick aber so viel Kraft und Selbstbewusstsein, dass die beiden Wächterinnen zusammenzuckten und schnell gemeinsam den Raum verließen. Kurz bevor die Tür wieder in Schloss fiel, konnte sie auch noch einen Blick auf Ennova werfen und auch ihr bösartiges Lächeln war nicht mehr ganz so selbstbewusst wie zu Beginn. Dann war Clarissa wieder allein. Als sie so dastand, bemerkte sie, dass das Amulett auf ihrer Brust angefangen hatte, ganz leicht zu leuchten. Und sie wusste, das war gut so.

Als sie eine Weile ihren Gedanken nachgehangen war, nahm Clarissa wahr, wie bitterkalt es ihr dank der durchnässten Kleidung war und wie furchtbar sie die Wunden auf ihrem Rücken schmerzten. Um sich davon abzulenken, wollte sie sich die Texte an den Wänden näher anschauen. Also begann sie die Schriftzeichen eingehend zu studieren. Je länger Clarissa las, desto gebannter war sie von den vielen unterschiedlichen Geschichten. Es war kaum zu fassen, wie viel Leid in diesem Gefängnis schon geschehen war und wie viele Wesen hier schon gefoltert und getötet wurden. Jeder einzelne Text schilderte die Geschichte eines einsamen und furchtbaren Schmerz erleidenden Geschöpfs und allein in dieser Zelle gab es hunderte, vielleicht sogar tausende davon. Fast alle wurden aufgrund harmloser Vergehen gefoltert und getötet. Es war furchtbar, was für eine Schreckensherrschaft durch die drei Göttinnen hier im dunklen Reich herrschte. Außerdem war unschwer zu vermuten, dass Clarissa bald das Schicksal dieser bedauernswerten Kreaturen teilen würde, was ihr trotz der herrschende Kälte den Angstschweiß auf ihre Haut trieb.

Gerade hatte Clarissa wieder einen der zahlreichen Berichte zu Ende gelesen, als sie ein seltsam kratzendes Geräusch hörte. Erst vermutete sie, dass ihre Wächterinnen zurückgekehrt waren und sie erneut überfallen wollten. Aber dann horchte sie nochmals genau hin. Das Geräusch hörte sich eher an, als ob zwei Steine aneinander reiben würden. Auch kam es nicht aus dem Gefängnisflur, sondern von der Zelle nebenan. Einen Moment blieb es still, dann hörte sie nochmals dieses schiebende Geräusch und danach auf einmal ein Poltern, als ob etwas Schweres auf den Boden gefallen war. Voller Schreck fuhr sie nun zusammen, so laut hallte dieses Geräusch in der dunklen Stille.

Dann hörte Clarissa unverhofft eine leise Stimme, die nach ihr rief. Clarissa folgte dem leisen Rufen und entdeckte einen kleinen unscheinbaren Spalt in der Mauer, durch den die Stimme ihres Zellennachbarn zwar leise, aber doch klar und deutlich zu verstehen war.

„Junge Frau, hörst Du mich?“ fragte der Unbekannte immer wieder.

„Mein Name ist Gaius und bin hier ebenso ein Gefangener wie Du. Kannst Du mich verstehen?“

Nach anfänglichem Zögern antwortete Clarissa dem Gefangenen aus der Nachbarzelle vorsichtig:

„Ja, ich kann Dich hören, was willst Du von mir?“

„Schön, dass Du mich hören kannst. Ich wollte wissen, ob es Dir gut geht. Es hat sich eben so angehört, als ob Du von den Wächterinnen misshandelt worden wärst. Artepa und Eniba gehen nie sehr zimperlich mit den Gefangenen um. Die meisten davon sind schon nach ein bis zwei Wochen gänzlich wahnsinnig oder tot.“

„Danke für Deine Nachfrage, ich bin zwar völlig durchnässt und mir ist auch ziemlich kalt, aber ansonsten geht es mir gut.“

„Das freut mich zu hören, ich habe hier schon so viel Leid und Tod erlebt, dass es für mich schon sehr erfreulich ist, eine so nette Stimme, wie die Deine hören zu können, und jemanden kennen zu lernen, der noch nicht völlig verzweifelt ist.“

Clarissa, die durch seine netten Worte nun etwas mehr Vertrauen zu ihrem Zellennachbarn fasste, ließ sich, obwohl sie das anfänglich nicht vorhatte, nun doch auf ein Gespräch mit ihm ein:

„Gaius, Du scheinst ja jetzt schon eine Weile hier gefangen zu sein. Wieso bist Du denn dann überhaupt noch am Leben?“ Clarissa hörte Gaius lachen, bevor er ihr antwortete, aber dieses Lachen hatte einen bitteren Unterton:

„Ja, da kommst Du ja ohne Umschweife auf den Punkt und legst Deine Finger tief in eine blutende und schmerzende Wunde. Nun, es stimmt, dass ich schon seit ungefähr zwanzig Jahren hier gefangen bin und in dieser Zeit schon viele Gefangene kommen und gehen gesehen habe. Ich war vor langer Zeit der Geliebte von Nyx.

Allerdings verlor sie eines Tages das Interesse an mir und nahm sich einen neuen Geliebten. Sie spürte aber, wie sehr ich sie weiterhin begehrte und daher meinte sie, dass es qualvoller für mich sei, mich mit diesen sehnsuchtsvollen Gedanken an sie und der Gewissheit, dass sie in den Armen eines anderen Geliebten lag, dahin vegetieren zu lassen als mich einfach nur zu töten. Die schwarze Seele in ihr entschied daher, ihre Enkelin Lethe zu beauftragen, mich in dieses Gefängnis werfen zu lassen. Damit ich möglichst lange am Leben bleibe, genieße ich hier sogar ein paar Vorzüge. Meine Zelle ist etwa dreimal so groß wie die eines normalen Gefangenen und ich darf auch über ein paar persönliche Gegenstände verfügen. Außerdem ist es verboten mich zu foltern und ich bekomme dreimal täglich etwas zu Essen. Übrigens ein schauriger Fraß, aber er hat mir geholfen zu überleben.“

„Hast Du denn nie versucht zu fliehen?“

„Doch, schon viele dutzend Male. Ein- oder zweimal bin ich sogar in die Nähe eines dunklen Spiegels gelangt, doch jedes Mal, ehe ich in die Welt des Lichts wechseln konnte, sind die Wächter meiner habhaft geworden und haben mich wieder hierher zurückgebracht. Ja und langsam werde ich zu alt, um noch ausreichend Kraft für eine Flucht aufbringen zu können. Aber jetzt erst einmal genug von mir und meiner eintönigen und gleichzeitig grausamen Lebensgeschichte. Entschuldige meine Neugierde, aber jetzt würde ich auch gerne von Dir wissen, wer Du bist und wie Du dazu kommst, die Gastfreundschaft von Ennova, Herrin der dunklen Kerker genießen zu dürfen?“

„Mein Name ist Clarissa Mandel. Ich komme aus der Welt des Lichts und bin hierher entführt worden, um meinen Geliebten dazu verleiten in das dunkle Reich zu reisen und ihn damit in eine Falle zu locken.“

„Oh, das hört ganz nach einem Plan der Herrscherin der Dunkelheit an. Sie legt wohl großen Wert darauf, Deinen Geliebten in die Gewalt zu bekommen. Wenn sie so viel Aufwand betreibt, ihn zu fangen, scheint Dein Geliebter ja eine sehr wichtige Persönlichkeit zu sein.“ Dann fuhr er mit einem Hauch Hoffnung in der Stimme fort: “Ist er etwa unser zukünftiger Befreier, der uns vom Joch der Herrschaft der drei dunklen Göttinnen befreien und unsere beiden Welten wieder in Einklang bringen wird?“

„Ich kann nicht sagen, ob er wirklich dieser Befreier ist, aber feststeht, dass ich ihn liebe und ich nicht möchte, dass er bei dem Versuch, mich zu befreien, gefangen genommen oder getötet wird. Daher wäre es sehr wichtig für mich, ihm irgendwie eine Botschaft übermitteln zu können und ihn zu warnen.“

„Nun, das dürfte in Deiner derzeitigen Situation etwas schwierig sein.“

„Tja, da hast Du leider recht.“, sagte Clarissa mit sichtlichem Bedauern.

„Gesetzt den Fall, Du würdest es schaffen, aus diesem Gefängnis zu entkommen, was würdest Du dann tun?“

„Ich würde versuchen, wieder in die Welt des Lichts zu gelangen und meinen Liebsten vor den Gefahren, die hier auf ihn lauern, warnen.“

„Aber hatte er nicht von vornherein vor, in das dunkle Reich einzudringen, um die drei Göttinnen zu besiegen.“

„Das stimmt, aber wenn er so besorgt um mich ist, wie ich es vermute, und er nur mein Wohlergehen und meine Rettung im Sinne hat, vergisst er unter Umständen jede Vorsicht und geht unnötige Risiken ein.“

„Ja, da muss ich Dir recht geben. Aber meinst Du nicht, dass es für Dich sehr gefährlich wäre, Dich allein hier im dunklen Reich zu bewegen und nach einem Übergang in die Welt des Lichts zu suchen? Das dunkle Reich befindet sich in einer Art Kriegszustand und Menschen aus der Welt des Lichts fallen hier schnell auf.“

„Nun, dieses Risiko würde ich eingehen, außerdem glaube ich nicht, dass alle Bewohner des dunklen Reiches böse sind und mir nach dem Leben trachten werden.“

Gaius hörte den großen Kummer, der in Clarissas Stimme anklang, aber auch die wilde Entschlossenheit, die sie zum Ausdruck brachte. Daher entschied er sich, ihr bei ihrer Flucht zu helfen, auch wenn er dadurch den Zorn der Göttin der Nacht auf sich ziehen würde. Aber was konnte Nyx ihm noch antun, was sie ihm nicht schon angetan hatte? Ihn töten? Vor dem Tod hatte er schon lange keine Angst mehr. Vielleicht waren die Chancen von Clarissa im dunklen Reich zu überleben, doch nicht so schlecht, wie er dachte, und vielleicht konnte er ein klein wenig dazu beitragen, dass das dunkle Reich irgendwann in Freiheit leben konnte. Ja, er musste ihr helfen. Unter Umständen hatte dann sein Leben doch noch irgendeinen Sinn gehabt.

Clarissa hatte gerade vor Augen, wie Devius beim Übergang in das dunkle Reich grausam von irgendwelchen Untieren abgeschlachtet wurde und fühlte Tränen der Hoffnungslosigkeit in ihr aufsteigen, als Gaius ihr ihre Hoffnung durch ein paar wenige Worte wiedergab.

„Clarissa ich merke, dass Du über ein sehr starken Willen und große Kraft verfügst, um diverse Gefahren zu bestehen. Daher vertraue ich Dir jetzt ein Geheimnis an. Kurz bevor Nyx das Interesse an mir verloren hatte, habe ich per Zufall die Konstruktionspläne dieses Gefängnisses in der Bibliothek der Göttin entdeckt und mir voller dunkler Ahnungen die wichtigsten Einzelheiten davon eingeprägt. Später als ich hier eingekerkert wurde, habe ich aus dem Gedächtnis einen kleine Kopie des Planes gezeichnet. Was mir dabei besonders am Herzen lag, waren die diversen Geheimgänge, die hier zur Sicherheit mit eingebaut wurden. Und einer dieser Geheimgänge hat seinen Eingang in Deiner Zelle. Ich habe diese Zeichnung über viele Jahre im Geheimen aufbewahrt, doch nun ist der Augenblick gekommen, sie Dir zu geben und Dir damit die Chance auf eine baldige Flucht zu geben.“, mit diesen Worten schob Gaius den Plan durch den Spalt in der Mauer zu der jungen Frau.

Clarissa war nun so überwältigt, dass ihr zunächst die Worte fehlten und ihr statt Tränen der Hoffnungslosigkeit, nun Tränen der Freude aus den Augen strömten. Als sie sich schließlich etwas gefasst hatte, sagte sie mit heiserer und Tränen erstickter Stimme zu Gaius:

„Vielen Dank, Gaius, ich weiß nicht, wie ich das jemals wieder gut machen kann. Du kennst mich ja kaum und setzt trotzdem so großes Vertrauen in mich. Ich bin Dir zu ewigem Dank verpflichtet, danke, vielen Dank.“ Clarissa kam es wie ein kleines Wunder vor, dass sie hier in den dunklen Kerkern des dunklen Reiches einem Wesen mit einem so großen Herzen begegnet war. Wie war es möglich, dass ihr jemand so selbstlos half? Ja, sie musste es einfach akzeptieren, dass scheinbar nicht alle Wesen im dunklen Reich böse waren. Nachdem sie Gaius noch viele Male von ganzem Herzen gedankt hatte, konnte Clarissa es endlich hinnehmen, dass das Schicksal ihr heute scheinbar gewogen war, und schaute sich den ihr anvertrauten Plan voller Hoffnung an.

Entsprechend der Anleitung zum Öffnen des Geheimgangs, bewegte sie anschließend in der beschrieben Reihenfolge verschiedene Teile der Mauer ihrer Zelle. Tatsächlich öffnete sich daraufhin mit leichten Knirschlauten der Boden zu ihren Füßen und erschien dort eine steile Steintreppe. Sie nahm sich die Fackel aus der Halterung und begann, nachdem sie sich ausgiebig von Gaius verabschiedet und ihm nochmals gedankt hatte, den Abstieg in die Ungewissheit.

Die Treppe war ziemlich steil und führte schnell in den dunklen Untergrund. Clarissa hatte den Eindruck, dass die Luft, je tiefer sie kam, immer kälter und immer feuchter wurde. Außerdem waren die Treppenstufen von der hohen Luftfeuchtigkeit glitschig, so dass sie darauf achten musste, nicht auszurutschen. Sie zählte fast 700 Stufen, ehe sie unten ankam und einem ebenen Gang folgen konnte, der sich dann mehrfach verzweigte. Entsprechend Gaius Plan durfte sie aber erst die siebte Abzweigung nehmen, um nach kurzer Zeit wieder auf Treppenstufen zu stoßen, die aber diesmal nach oben führten. Clarissas Vermutung nach, hatte sie jetzt wahrscheinlich den Fluss unterquert und würde hoffentlich irgendwo am Ufer wieder an die Oberfläche kommen.

Nun musste sie aber erst einmal die Treppen wieder nach oben gehen. Ihre Fackel war fast abgebrannt, so dass sie die letzte Strecke wahrscheinlich in vollkommener Dunkelheit hinter sich bringen musste, was ihr nicht besonders behagte. Wahrhaftig ging die Fackel kurz nach der zweihundertsten Stufe endgültig aus. Da bemerkte sie aber, dass ihr Amulett immer mehr an Leuchtkraft gewann und nach wenigen Augenblicken ausreichend hell leuchtete, um ihr den Weg weisen zu können. Das rettete Clarissa das Leben, denn kurz bevor sie die Oberfläche erreichte, waren die Treppenstufen witterungsbedingt eingestürzt und hatten ein riesiges Loch hinterlassen, das Clarissa nur mit sehr viel Mühe überwinden konnte. Aber das war nicht die einzige Gefahr, die auf sie lauerte, denn nachdem sie die Oberfläche erreicht und mühsam diverse große Steine zur Seite gerollt hatte, um nach draußen zu gelangen, musste sie mit Erschrecken feststellen, dass sie dort schon von Ennova und ihren beiden Handlangerinnen erwartet wurde, die sie voller gehässiger Schadenfreude angrinsten.

Clarissa konnte es einfach nicht glauben, dass ihre ganze Mühe umsonst gewesen sein sollte. Es schien so, als ob sie ihre neugewonnene Freiheit nur sehr kurz genießen konnte, ehe sie wieder gefangen genommen wurde.

Das dunkle Reich

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