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SECHS

Im November 1892, keine zwei Jahre nach seinem Aufenthalt in Much Wenlock, begrüßte Coubertin im Rahmen einer Konferenz zur Feier des fünften Jahrestags der Gründung der USFSA drei Redner an der Sorbonne. Georges Bourdon, Theaterkritiker und einer der Begründer des Racing Club de Paris, des renommiertesten Sportvereins der französischen Hauptstadt, referierte über Sport in der Antike. Der Diplomat und Autor Jules Jusserand deckte Ritterlichkeit und Sport im Mittelalter ab, und dann war Coubertin an der Reihe, um über modernen Sport zu sprechen. Sein Thema war »Internationale Wettkämpfe«:

Es ist klar, dass der Telegraf, Eisenbahnen, das Telefon, die leidenschaftliche Forschung in der Wissenschaft, Kongresse und Ausstellungen mehr für den Frieden getan haben als jedes Abkommen und diplomatische Treffen. Nun, ich hoffe, dass der Sport sogar noch mehr tun wird … Schicken wir Ruderer, Läufer und Fechter ins Ausland. Das ist der Freihandel der Zukunft, und an dem Tage, da es sich im Leben und Wandel des alten Europa eingebürgert hat, wird der Sache des Friedens eine neue, mächtige Stütze erwachsen sein. Dies ist genug, um Ihren Diener zu ermutigen, nun davon zu träumen … dieses großartige und heilsame Werk, nämlich die Wiederbelebung der Olympischen Spiele, auf der Grundlage unseres modernen Lebens, fortzuführen und zu vollenden.

Die anfängliche Resonanz war nicht berauschend. Coubertin erinnerte sich: »Natürlich war ich auf jede Eventualität vorbereitet, außer auf das, was tatsächlich eintrat. Widerspruch? Einwände? Spott? Oder gar Gleichgültigkeit. Nichts dergleichen. Jedermann applaudierte …, aber niemand hatte wirklich verstanden.«1 Mancher im Publikum, der sich das Ganze eher als aufwendiges Historienspiel vorstellte, scherzte, ob die Athleten denn nackt sein werden.

Unbeirrt nahm Coubertin jede sich bietende Gelegenheit wahr, sein Anliegen vorzubringen. Eine solche bot ihm 1893 Adolphe de Pallisaux, seines Zeichens Amateurmeister im Gehen und Schatzmeister des Racing Club. Pallisaux schlug vor, die USFSA solle eine internationale Konferenz anberaumen, bei der es um die Grundsätze und Probleme des Amateurismus in der Sportwelt ginge – ein Thema, das Athleten aus Oberschicht und Aristokratie in der ganzen industrialisierten Welt umtrieb. Ihnen war daran gelegen, die niederen Stände aus ihren Sportarten und Klubs fernzuhalten und gleichzeitig die gesellschaftliche Exklusivität und moralische Reinheit ihrer Version des Sports zu bewahren.

Coubertin packte die Gelegenheit beim Schopf, unterstützte aktiv den Vorstoß und schlug vor, dass seine olympische Idee ein kleines Element der Diskussion bilden sollte. In einem Schreiben, das er im Januar 1894 versandte, lud Coubertin die Sportwelt zum »Internationalen Kongress der Amateure« ein. Die ersten sieben Punkte der geplanten Agenda befassten sich mit Themen wie der Definition des Amateurismus, Kompensationszahlungen, der Verteilung von Eintrittsgeldern und dem Vorgehen bei Disqualifikationen. Als Punkt acht hatte sich »Die Möglichkeit der Wiederaufnahme der Olympischen Spiele. Unter welchen Bedingungen wäre sie möglich?« eingeschlichen. In seinem Schreiben äußerte sich Coubertin etwas ausführlicher und behauptete, dass »die Einrichtung der Olympischen Spiele auf der Grundlage und gemäß der Anforderungen des modernen Lebens alle vier Jahre Vertreter aller Nationen der Welt zusammenbringen würde, und ich möchte meinen, dass solche friedlichen, würdevollen Wettbewerbe die beste Form des Internationalismus darstellen«.

Die Resonanz hielt sich weiter in Grenzen. Reisen in die USA und nach Großbritannien Ende 1893 vermochten kein öffentliches Interesse oder Zuspruch zu wecken, aber im Laufe des Frühjahrs 1894 gelang es dem Baron, die anderen zentralen Figuren für den Kongress zu gewinnen. Baron de Courcel, ein französischer Diplomat und ehemaliger Gesandter in Berlin, ließ sich breitschlagen, als Aushängeschild aufzutreten. Racing Club erklärte sich bereit, ein großes Bankett und ein Sportfest für die Gäste auszurichten. Den Briefkopf des Kongresses zierte die beeindruckende Liste von Coubertins Briefpartnern: der König von Belgien, der Prince of Wales, die Kronprinzessin von Griechenland und Schweden und der russische Großherzog Wladimir. Ferner lud der Baron John Astley Cooper als Ehrenmitglied des Kongresses ein.

In den letzten Einladungen, die in aller Eile im Mai 1894 ausgeschickt wurden, wurde das Treffen nun als »Internationaler Sportkongress« statt als »Internationaler Amateurkongress« bezeichnet, und die Olympischen Spiele waren nun ein zentraler Bestandteil der Agenda – drei der zehn Tagesordnungspunkte beschäftigten sich mit ihnen. Coubertin hatte außerdem die inoffiziellen griechischen Kanäle beackert und in den Monaten vor dem Treffen in Paris zwei wichtige Verbündete gewonnen. Zum einen – dank der Vermittlung von Charles Waldstein, Archäologe und Direktor der Amerikanischen Schule in Paris –, erklärte sich der griechische Prinz Konstantin bereit, als Ehrenmitglied zu fungieren. Die Einzelheiten der Gespräche sind unbekannt, aber angesichts der Begeisterung Konstantins und des Könighauses für die Olympien und ihrer eigenen gescheiterten Versuche, 1892 ein olympisches Festival auf die Beine zu stellen, kann man sich gut vorstellen, dass sie mit Freuden bereit gewesen wären, bei diesem Versuch zur Wiederbelebung der Spiele als Gastgeber aufzutreten. Genau dafür sollte ein griechischer Delegierter werben, den Coubertin ebenfalls für den Kongress gewinnen konnte: der griechische Autor Dimitrios Vikelas, dessen patriotische, in der Zeit der Griechischen Revolution angesiedelte Abenteuergeschichte Loukis Lara zunächst in seiner Heimat und dann in ganz Europa zum Bestseller wurde. Coubertin bat ihn, den Vorsitz des Komitees zu leiten, das sich mit der Wiederbelebung der Olympischen Spiele befassen würde.

Coubertins Kongress, inzwischen zum dritten Mal umbenannt, wurde im offiziellen Programm als »Congrès international de Paris pour le rétablissement des jeux olympiques« (Internationaler Kongress von Paris zur Wiederbelebung der Olympischen Spiele) angekündigt. Er lockte 78 Delegierte von Sportklubs und Verbänden an, vor allem aus Frankreich und dem restlichen Europa (darunter Österreich, Belgien, Großbritannien, Böhmen, Griechenland, Italien, Russland, Spanien und Schweden), dazu einen inoffiziellen Gesandten aus Deutschland (zum Missfallen vieler empfindlicher französischer Patrioten), ein paar Amerikaner und einen Neuseeländer.

Der Kongress wurde im großen Amphitheater der Sorbonne eröffnet, wo 2.000 Zuhörer im Publikum die kürzlich entdeckte und übersetzte »Hymne an Apollo« zu hören bekamen, eine klassische Ode zur Musik des Komponisten Gabriel Fauré. Coubertin empfand es so, dass man »mit religiöser Andacht der göttlichen Melodie lauschte, die zu neuem Leben erwachte, um die olympische Wiederauferstehung durch die Dimension der Zeiten hindurch zu begrüßen«, und dass »der hellenische Gast den gesamten Saal durchdrang«.2 Für die meisten Anwesenden bedeutete die Woche eine Aneinanderreihung gesellschaftlicher Verpflichtungen und Festivitäten: Radrennen und Tennisturniere, Empfänge mit Pariser Würdenträgern und ein abendliches Fest auf dem Gelände des Racing Club de Paris mit sportlichen Wettkämpfen, Stelldichein der feinen Gesellschaft und bombastischem Feuerwerk.

An der Sorbonne machten sich unterdessen die beiden Komitees ans Werk. Bei der Eröffnungssitzung des Olympischen Komitees wurde vehement für London statt Athen als erstem Gastgeber plädiert, aber dank seiner herausragenden Vermittlungsqualitäten konnte Coubertin die Delegierten überreden, die Frage bis zum Ende der Woche hintenanzustellen. Bis dahin wäre der Rückhalt für Spiele in London verpufft, und Coubertin hätte, bestärkt durch ein Glückwunschtelegramm des griechischen Königs, seine Unterstützer mobilisiert. Im entscheidenden Moment der abschließenden Plenardiskussion sprach Vikelas vor dem Kongress und machte sich für Spiele in Athen stark; »eine griechische Institution wurde wiederbelebt, für die eine griechische Stadt der gebührende Gastgeber war«. Zu seiner Überraschung wurden Vikelas’ Vorschläge wohlwollend aufgenommen und gebilligt.

Der Kongress bestätigte schließlich, dass die ersten Spiele 1896 in Athen und die nächsten, vier Jahre später, in Paris stattfinden sollten. Unter den strengen Vorgaben, die das andere Kongresskomitee festgelegt hatte, wären, mit Ausnahme von Fechtmeistern, ausschließlich Amateure teilnahmeberechtigt. Die ursprüngliche Liste vorgeschlagener Disziplinen war lang und umfasste u. a. Leichtathletik, Wassersport, Turnen, Radfahren, Ringen, Pferdesport, Boxen, Polo und Schießen. Auf Coubertins herrlich versponnenes Treiben hin wurde außerdem ein Sonderpreis für die jeweils interessanteste Bergsteigerleistung seit den letzten Spielen ausgelobt.

Ein ständiges Komitee wurde gebildet, mit Vikelas als nominellem Präsidenten und Coubertin als Generalsekretär. Die übrigen Mitglieder, die im Grunde von Coubertin ausgewählt wurden, umfassten bürgerliche Erziehungsreformer wie den Ungarn Ferenc Kemény, den Tschechen Jiří Stanislav Guth-Jarkovský und den Argentinier Dr. José Zubiaur, aber auch ranghohe Offiziere wie den schwedischen Major Viktor Balck und den russischen General Boutowsky, die nicht nur Sportsmänner waren, sondern sich auch dafür stark machten, sportliches Training bei ihren Streitkräften einzubinden. Die Briten und Amerikaner waren ebenfalls gut vertreten mit langjährigen Vertrauten des Barons wie William Sloane, Professor für Geschichte an der Universität Princeton und Befürworter des Hochschulsports, Baron Ampthill, der spätere Vizekönig von Indien und eine der herausragenden Persönlichkeiten der Henley Regatta und der Ruderszene von Oxford, Charles Herbert, ehrenamtlicher Generalsekretär der britischen Amateur Athletic Association (AAA), sowie Leonard Cuff, Kapitän der neuseeländischen Cricket-Nationalmannschaft.

Coubertin schrieb später, dass er das Internationale Olympische Komitee nach dem Vorbild der Henley Regatta gestaltet habe, »bestehend aus drei konzentrischen Kreisen: ein kleiner Kern ernsthafter, fleißiger Mitarbeiter; eine Schule zur Ausbildung williger Mitglieder; schließlich eine Fassade von mehr oder weniger nützlichen Leuten, deren Anwesenheit ebenso nationale Eitelkeiten befriedigte wie sie dem Komitee als Ganzem Ansehen verlieh«. So wurde das erste IOC abgerundet durch eine Handvoll italienischer und belgischer Aristokraten und ein bisschen mehr Glitter.3

Der Kongress mochte im Hochgefühl geendet haben, aber die Zuerkennung der Spiele wurde von der griechischen Regierung nicht mit Begeisterung aufgenommen. Bei seiner Rückkehr nach Athen traf sich Vikelas mit Ministerpräsident Trikoupis, der, wie er berichtete, »es vorgezogen hätte, das Thema Olympische Spiele wäre nie aufgekommen«. Seine Treffen mit Außenminister Stephanos Dragoumis und Vertretern der Zappas-Stiftung fielen geradezu verheerend aus: Beide entschieden, mit den Spielen nichts zu tun haben zu wollen. Der Baron traf im November ein und wurde mit einem Brief von Dragoumis empfangen, der erklärte, dass Griechenland angesichts der wirtschaftlichen Lage keinesfalls in der Lage wäre, die Spiele auszurichten, dass der Leistungssport in Griechenland ohnehin nicht ausreichend entwickelt sei und dass er lieber mit Paris 1900 den Anfang machen solle. Der griechische Ministerpräsident Trikoupis stattete ihm einen Besuch im Hotel ab und brachte die gleichen Argumente vor. Coubertin widersprach und meinte, dass ein kleines Budget ausreichen würde, vielleicht gerade einmal 250.000 Drachmen. Dann machte er sich an die Arbeit, sicherte sich die volle Unterstützung von Prinz Konstantin, verteilte unermüdlich seine Visitenkarte und machte der feinen Athener Gesellschaft seine Aufwartung, beschwatzte und umschmeichelte sie.

Von Befürwortern der Spiele eingeladen, vor der literarischen Gesellschaft Parnassos zu sprechen, beschwor er den griechischen Patriotismus: »Meine Herren, wogen Ihre Väter erst sorgsam ihre Chancen auf den Sieg ab, bevor sie sich gegen die Türken auflehnten? Hätten sie es getan, wären Sie nicht hier, als freie Männer in diesem Moment.« Wohl ahnend, dass es angesichts der verhaltenen Entwicklung des modernen Sports in Griechenland Befürchtungen gab, man werde sich nicht gut aus der Affäre ziehen, versicherte er: »Als wir anfingen, Fußballspiele gegen die Engländer zu bestreiten, erwarteten wir zu verlieren. Aber als wir zum siebten Mal gegen sie spielten, haben wir gewonnen … Die Schande ist nicht, geschlagen zu werden, sondern gar nicht erst anzutreten.«4

Trotz Opposition von offizieller Seite gelang es Coubertin, eine Versammlung im Zappeion einzuberufen, um Pläne für die Spiele zu erörtern. Dragoumis eröffnete die Versammlung, verließ sie aber gleich wieder und weigerte sich strikt, sich an den Gesprächen zu beteiligen. Coubertin hatte einige Verbündete unter den versammelten griechischen Würdenträgern, aber die meisten waren aktive Anhänger von Ministerpräsident Trikoupis. Coubertin verkündete, dass Prinz Konstantin sich bereit erklärte habe, als Ehrenpräsident zu fungieren, dass die Kosten für die Spiele bei Weitem nicht so hoch ausfielen, wie sie befürchteten, wählte vier Vizepräsidenten und erklärte sie zum Organisationskomitee für die Spiele 1896 in Athen. Dann verabschiedete er sich nach Paris, mit einem kurzen Umweg über Olympia: »Wir trafen am späten Abend dort ein. Ich musste bis zum Morgengrauen warten, um die Umrisse der heiligen Stätte zu sehen, von der ich so oft geträumt hatte. Den ganzen Morgen wanderte ich in den Ruinen umher.«5 Der lebenslange Hellenophile blieb nur einen Morgen, bevor er heimreiste. Es war der erste von nur zwei Besuchen dort in seinem Leben; der zweite folgte in den 1920er Jahren und war nicht weniger planlos. Seine kurzen Aufenthalte und nebulösen Memoiren lassen vermuten, dass Coubertin bereits alles hatte, was er von den antiken Spielen wollte und brauchte, und keine archäologischen Forschungen oder eingehenden Textanalysen der Quellen würden ihn von seiner Idee oder der von ihm etablierten Vision abbringen.

Die Spiele

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