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DREI

Hinsichtlich seines eigenen direkten Einflusses bedeuteten die Spiele 1906 in Athen den Tiefpunkt für Coubertin. Von den übrigen Mitgliedern des IOC dazu gezwungen, klein beizugeben, was die Austragung der Spiele und ihren Status anging, tat er sein Möglichstes, sie komplett zu ignorieren. Zwar druckte er in seiner Revue Olympique das Programm der Spiele ab, verschwieg aber, wann sie überhaupt stattfanden. In einer späteren Ausgabe rang er sich in einer Vorschau auf die Olympiade in Athen 14 Seiten ab, auf denen er die Leser ermunterte, die griechische Kunst und Geschichte zu erkunden, erwähnte die Spiele selbst aber nur einmal; auf dem von ihm empfohlenen Rundgang durch Athen blieb das Olympiastadion erstaunlicherweise gänzlich unberücksichtigt.1 Während zahlreiche Mitglieder des IOC den Spielen beiwohnten, blieb Coubertin daheim in Paris und nahm an einer Konferenz über Kunst, Literatur und Sport in der Comédie-Française teil; dabei hatte er Glück, dass ein Putschversuch, der in seiner Abwesenheit in Athen angezettelt wurde und der Kronprinz Georg von Griechenland zum neuen Präsidenten des IOC gemacht hätte, verpuffte. Jahre später, 1949, um genau zu sein, entschied eine IOC-Kommission unter Vorsitz des Amerikaners Avery Brundage, einem unterwürfigen Gefolgsmann des Barons, Athen 1906 nicht als vollwertige Olympische Spiele anzuerkennen.

Paradoxerweise waren es gerade diese Spiele, die Coubertins Vision am ehesten entsprachen. Sie waren gut und von Angehörigen der richtigen Kreise organisiert, boten ein schlankes und doch vielseitiges Sportprogramm innerhalb eines knappen, dichten Zeitplans, konzentrierten sich auf ein einziges, herrliches Stadion und waren bar jeglichen ideologischen Ballasts und ohne den ordinären, kommerziellen Rummel der Weltausstellungen. Sie versammelten mehr Athleten als Athen 1896 und St. Louis 1904 zusammen, und die meisten waren tadelloser Herkunft. Darüber hinaus verlieh die Eröffnungszeremonie der Veranstaltung den feierlichen Ernst, den Coubertin bei den vorigen Spielen so sehr vermisst hatte. Sowohl die griechische als auch die britische Königsfamilie waren vor Ort, und zum ersten Mal gab es einen Einmarsch der Nationen zu bewundern, bei dem die 900 Teilnehmer hinter Namensschildern und Fahnen ins Stadion einliefen.

Es blieb abzuwarten, ob London 1908, das wie seine beiden Vorgänger an riesige Ausstellungen gebunden war, die Spiele aus der Randständigkeit und Bedeutungslosigkeit retten könnte, unter denen sie in Paris und St. Louis gelitten hatten. Dies gelang aus vier Gründen, die alle miteinander verbunden waren. Erstens war die Franco-British Imperial Exhibition von 1908 deutlich weniger ideologisch ausgerichtet und überfrachtet als die Exposition Universelle und das Louisiana Purchase Centennial, die ganz im Zeichen des Triumphs von Wissenschaft und Fortschritt gestanden hatten und von zahllosen wissenschaftlichen Konferenzen begleitet worden waren. London 1908 bot weder großartige intellektuelle Zusammenkünfte, noch hatte es solche hochfliegenden, universalistischen Ansprüche. Es war eine alles in allem viel gemütlichere und süßlichere Feier dessen, was praktisch gesehen erreicht worden war. Infolgedessen gestand die Franco-British Exhibition den Spielen in kultureller wie räumlicher Hinsicht wesentlich mehr Platz zu als ihre Vorgänger.

Zweitens, sieht man von Auswüchsen rassistischer Anthropologie ab, waren die Spiele von 1900 und 1904 nicht von den größeren politischen oder kulturellen Fragen ihrer Zeit berührt worden. 1908 hingegen traten im Rahmen der Spiele britisch-imperiale Ängste zutage, die sich vor allem im Streit zwischen den britischen und amerikanischen Mannschaften äußerten. Darin spiegelten sich die wirtschaftlichen und politischen Konflikte zwischen dem herrschenden Empire und der aufstrebenden Macht. Drittens etablierten die Spiele von London – durch den Einmarsch der Nationen bei der Eröffnungsfeier sowie die Art und Weise, wie die Spiele verfolgt wurden – die nationale Dimension dieser nominell internationalen Spiele; wobei die Frage, was eine Nation ausmachte und wer sie bildete, noch nicht beantwort worden war. Und viertens sorgte der Marathon, ebenso wie 1896, für ein sportliches Spektakel von solcher Wucht, dass die Spiele im Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit verankert wurden.

Die wichtigste Figur für die Durchführung der Spiele in London war weder Coubertin noch der Vorsitzende des Organisationskomitees, Lord Desborough, sondern Imre Kiralfy. Geboren 1845 in Budapest als Imre Konigsbaum, gingen er und sein Bruder mit einer ungemein erfolgreichen ungarischen Volkstanztruppe auf Tournee; später organisierten sie Festivals und Volksfeste in Brüssel, bevor sie sich dem Vaudeville und Amerika zuwandten, wo sich ihre Shows durch Extravaganz und langbeinige Revuetänzerinnen einen Namen mach-ten. 1887 tat sich Imre mit dem berühmten Zirkusdirektor P. T. Barnum zusammen und erregte Aufsehen mit spektakulären Bühnenversionen von Around the World in Eighty Days, The Fall of Babylon und Nero: The Burning of Rome. Anschließend ging er nach London, wo man ihm die Leitung des Veranstaltungsgeländes Earls Court im Londoner Westen übertrug, das zwar recht groß, für Kiralfys Ambitionen aber bei Weitem nicht geräumig genug war. 1904 schlossen die Regierungen von Frankreich und Großbritannien eine Reihe komplexer Abkommen über koloniale Herrschaftsbereiche ab, die Entente cordiale, und läuteten damit eine neue Ära diplomatischer und militärischer Zusammenarbeit ein. Im Zuge dessen gab es u.a. seitens der französischen Handelskammer eifrige Bestrebungen, eine gemeinsame Ausstellung auf die Beine zu stellen, und Kiralfy war genau der richtige Mann dafür.

Er versicherte sich der Unterstützung von Krone und Regierung, pachtete ein riesiges Areal alten industriellen Brachlands im Westen von London nahe Shepherd’s Bush, gewann die Rothschilds als Investoren und begann Anfang 1907 damit, Aufbauten zu errichten und neue Gleise und Stationen zu bauen. Als Lord Desborough und die British Olympic Association, die die Spiele angenommen hatten, ohne so recht zu wissen, wo sie eigentlich stattfinden sollten, an ihn herantraten, bot Kiralfy ihnen einen Deal an: Er würde ihnen ein dem Anlass angemessenes Stadion bauen, dafür aber drei Viertel der Eintrittsgelder einstreichen. Als Dreingabe bot er ihnen noch einen Vorschuss, den das ebenso aristokratische wie knauserige Komitee auch dringend brauchte. Sie waren natürlich einverstanden.

Im Laufe der fast sechs Monate, die es geöffnet war, strömten 8,4 Millionen Besucher auf das Messegelände der Franco-British Imperial Exhibition, das jedermann als White City bekannt war. Inspiriert durch den gleichnamigen Bau der Chicagoer Weltausstellung von 1893, war die Ausstellung architektonisch verspielter und heiterer als ihr Vorläufer. Mit ihren vielen Schnörkeln und Verzierungen und einer Skyline aus Kuppeln und Zinnen, Rotunden und Rondellen, Spitzen und Glockentürmen war sie viel mehr Lustgarten als Industrieausstellung. In einem einzigen Gebäude konnte man Elemente entdecken, die von arabischer, gotischer und fernöstlicher Architektur beeinflusst waren. Dorische Säulen standen neben arabischen Minaretten, siamesische Balkone hingen über seichten Teichen, ein Labyrinth schattiger Arkaden und kunstvoll angelegter Pfade führte Besucher in nur wenigen Schritten durch die Universitäten von Oxford und Cambridge, Haussmanns Paris, vorbei am Taj Mahal und dem Gare du Nord.

Doch das Herz der White City bildeten die volkstümlichen Vergnügungen: nächtliches Promenieren im Licht von tausend matten elektrischen Lampen; Schwanenboote, die über den künstlichen See im Court of Honour glitten, und das Flip-Flap, ein Fahrgeschäft, dessen riesige freischwebende Stahlgitterstäbe Wagemutige hoch über das Gelände trugen, von wo aus sie einen atemberaubende Aussicht auf die Weiten des imperialen London hatten. Das eigentliche Thema der Show, die britischen und französischen Empires, war an das nördliche Ende der White City verbannt worden, wo Besuchern eine Auswahl kolonialer Bauten geboten wurde: Vertreten waren Tunesien, Algerien, Indien, Ceylon, Australien, Kanada und, am größten von allem, das pseudoirische Dorf Ballymaclinton, wo junge Colleens, irische Frauen, in einem von Konflikten und Republikanismus bereinigten Irland Butter rührten und Wolle spannen.

Das größte Gebäude auf dem Gelände war aber das Stadion. Ursprünglich sollte es im gleichen überbordenden Stil erbaut werden wie der Rest von White City, doch wurde es nie fertiggestellt, und ein Großteil bestand aus offenen Baugerüsten, provisorischen Zäunen und sehr einfachen Sitzbänken. Was aber an Ausstattung fehlte, machte es durch seine schieren Ausmaße wieder wett. In der Reklame für die Ausstellung hieß es, möglicherweise in Unkenntnis der griechischen Ursprünge der Spiele, das Stadion sei »so breit wie der Circus Maximus im alten Rom und länger als das Kolosseum«. Es war etwas mehr als 300 Meter lang an seiner größten Ausdehnung und hätte damit das gesamte Panathinaiko-Stadion von 1896 auf dem Spielfeld innerhalb der Laufbahn unterbringen können.

Sogar noch beeindruckender, was Einrichtung und Ausführung anbelangte, war der Imperial Sports Club, ein weiterer weißer Palast mit Kuppeldach. Er wurde am Südende des Stadions errichtet als Stützpunkt für das Organisationskomitee und um der feinen Londoner Gesellschaft eine angemessene Umgebung zu bieten, wenn sie den Spielen beiwohnte. Für die meisten der 1.900 Aristokraten und Diplomaten, die sich angemeldet hatten, vom Herzog von Westminster bis zum russischen Botschafter, war Shepherd’s Bush bis dahin Terra incognita gewesen. Der Imperial Sports Club war ein provisorisch errichteter Gentlemen’s Club inklusive getäfelter Speise- und Rauchzimmer. Die Mitgliedschaft beinhaltete Parkplätze für die frisch Motorisierten, einen Privateingang ins Stadion und die besten Plätze im Haus.

In der umfangreichen Berichterstattung der britischen Presse zu Sinn und Zweck der Spiele ließen sich drei verschiedene Denkrichtungen feststellen. Zum einen gab es, wenn auch erstaunlich verhalten, den freimütigen, optimistischen, internationalen Olympismus. Lord Desborough erklärte im Vorfeld der Spiele im Gespräch mit der Daily News: »Die zugrunde liegende Hoffnung ist, dass die Jugend, und vor allem die sportlich gesinnte Jugend, der unterschiedlichen vertretenen Nationen, indem sie sich in freundschaftlicher Rivalität begegnen, einander besser kennen- und schätzen lernen. Vielleicht sogar wird das Wohlwollen zwischen den Nationen – das Wohlwollen, das dazu beiträgt, den Ausbruch eines Krieges zu verhindern – durch diese Olympischen Spiele mindestens ebenso sehr gefördert wie von Diploma-ten, die an einem am runden Tisch sitzen.«2

Der Evening Standard befand hingegen, dass das geopolitische Potenzial der Spiele nicht in einem Beitrag zum Frieden läge, sondern in der symbolischen Etablierung Britanniens an seinem rechtmäßigen Platz als globaler Hegemonialmacht und Urheber universeller Regeln, inklusive Sportregeln, die vom Rest der Welt ganz selbstverständlich anerkannt würden. Die Zeitung argumentierte weiterhin, dass es nicht darum ginge, wie viele Medaillen das Empire gewänne, sondern um die Größenordnung der Schau und den Willen zur Führerschaft, auf den die Besucherzahlen bei den Spielen verweisen würden:

England hat in vielen Sportarten die Richtung vorgegeben. Die Spiele, die seine Söhne als erste spielten oder mit Regeln und Vorschriften zur Ordnung brachten, sind von vielen Nationen übernommen worden. Es stellt die Regeln auf in der vollen Gewissheit, dass ihnen gehorcht wird ohne das Zutun von Schlachtschiffen und Maschinengewehren. Die Stellung, die England in der Welt des Sports einnimmt, wird bleibenden Schaden nehmen, sollten die Spiele von 1908 denen, die ihnen vorausgingen, nicht nur ebenbürtig sein an Ausmaß und Resonanz, sondern diese nicht sogar so weit übertreffen, dass daraus eine erhebliche Zunahme der Begeisterung für solche internationalen Zusammenkünfte entsteht.3

Der Bystander nahm ironisch eine dritte Haltung zu den Spielen aufs Korn: die Angst, dass die Vorherrschaft des britischen Imperiums nicht mehr gesichert war und dass das körperliche und sportliche Auftreten der Nation sowohl Ursache als auch Wirkung dieses Niedergangs sei. Es war erst wenige Jahre her, dass die britische Armee, auf dem Höhepunkt des Zweiten Burenkriegs, erkennen musste, dass die große Mehrheit ihrer Rekruten aus der Arbeiterklasse bei so schlechter Gesundheit war, dass sie für den aktiven Dienst nicht infrage kam. Wer einen üppigen Medaillenregen für die Gastgeber erwartete, würde ein böses Erwachen erleben:

Oh Britisches Empire, groß und frei.

Der Moment ist magisch, kommt herbei!

Wie einst Rom werden wir vergehen,

Falls wir im Hochsprung leer ausgehen.

Unser Stern, einst hell, wird sich bald senken

Sollten wir – nicht auszudenken! –

Im Sprint nicht unser Können zeigen

Und über die Hürden es vergeigen.4

Rückblickend betrachtet näherten sich die europäischen Großmächte ohnehin ihrem Ende. Zehn Jahre später, am Ende des Ersten Weltkriegs, lag das deutsche, russische, österreichischungarische und osmanische Reich in Trümmern, ein weiteres Vierteljahrhundert und einen zweiten Weltkrieg später dann auch das britische, französische, niederländische und belgische. Die Zukunft gehörte Nationen und Nationalstaaten. Die Eröffnungszeremonie nahm sich die in Athen 1906 zum Vorbild und trug diesem Umstand Rechnung mit einer großen Parade der Nationen vor König Edward VII. und einer Reihe europäischer Monarchen und Kronprinzen. Während der Spiele berichtete die Presse, dass es »nicht die Namen der einzelnen Athleten waren, die ihre Landsleute riefen, sondern der ihrer Nation, so wie die Namen von Sparta und Athen über die Ebene von Olympia hallten«.5

Vor allem die Amerikaner machten sich Gedanken, wie die olympische Gesamtmeisterschaft zwischen den Nationen entschieden würde und wie viele Punkte jede Nation für einen ersten, zweiten oder dritten Platz erhalten sollte. James Sullivan, Delegationsleiter des USTeams in London, entwickelte sein eigenes System. Der San Francisco Chronicle verstieg sich zu der Behauptung, dass die Briten ein perfides Zählsystem ausheckten, das ihre Athleten bevorzuge und ihnen die Meisterschaft sichern würde. Tatsächlich existierte kein solches System – jedenfalls keines, das jemals offiziell gutgeheißen wurde; die ganze Sache war ein Hirngespinst der Presse, mit aktiver Unterstützung des sportlichen Establishments.

Wie Theodore Cook jedoch im offiziellen Bericht von 1908 sinnierte, beschäftigte die Briten eine ganz andere Frage »von nicht geringer Schwierigkeit«: Mal ganz abgesehen davon, wie viele Punkte ein Land sammelte, was war überhaupt ein »Land«? Die Organisatoren richteten sich nach der 1906 vom IOC festgeschriebenen Definition: Laut dieser war ein Land oder eine Nation »jedes Territorium mit eigenständiger Repräsentanz im Internationalen Olympischen Komitee oder, wo eine solche Repräsentanz nicht vorliegt, jedwedes Territorium unter einer souveränen Jurisdiktion«.6 Die zweite Hälfte dieser Regelung ließ sich problemlos auf eindeutig unabhängige Nationalstaaten anwenden, aber die erste Hälfte ließ einen gewissen Interpretationsspielraum für Territorien, Nationen und Identitäten, die keine nationale Unabhängigkeit erlangt und, ganz wichtig, einen Fürsprecher im IOC hatten.

Dadurch konnte sowohl 1906 als auch 1908 eine böhmische Mannschaft am Einmarsch der Nationen teilnehmen, obwohl Böhmen eine mehrheitlich tschechischsprachige Provinz des Österreichisch-Ungarischen Kaiserreichs war, wenn auch eine mit einer lange erloschenen Monarchie und semi-autonomem Parlament. Im Universum des IOC aber machte Jiří Guth-Jarkovskýs Mitgliedschaft im Komitee es zu einem zulässigen, eigenständigen Territorium. Gleichzeitig war auch das Kaiserreich selbst in olympischer Hinsicht gespalten: in eine österreichische und eine ungarische Mannschaft. Damit spiegelte es den heiklen konstitutionellen Kompromiss von 1867 wider, der beiden Kronen gleichberechtigten Status in einem einzelnen, zentralisierten Kaiserreich zusicherte.

Der Auftritt des Britischen Empires erwies sich 1908 als ebenso komplex, mit eigenständigen Mannschaften und Flaggen für Südafrika, Kanada, Australasien und Großbritannien. Südafrika war damals indes nicht mehr als eine geografische Bezeichnung, die politisch vier eigenständige Kolonien umfasste und denen man eine provisorische und in aller Eile ersonnene Fahne zuweisen musste – einen roten Banner mit einem Springbock. Kanada, eine Konföderation mehrerer Kolonien, gab sich daheim durchaus den Anschein eines Nationalstaats, war nach außen hin aber nur ein Dominion, dessen Außenpolitik und Militär von London aus kontrolliert wurden. Australasien bestand aus Australien, das 1901 als Föderation zuvor eigenständiger Kolonien entstanden war, plus Neuseeland, das 1907 den Status eines Dominions erhalten hatte.

Großbritannien hätte vielleicht als Nation aufgefasst werden können, aber als Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Irland umfasste es eine beträchtliche Bevölkerungsgruppe, die nur äußerst widerwillig unter britischer Fahne mitmarschierte. Tom Kiely, der 1904 im Zehnkampf gewann, wird offiziell als Mitglied der britischen Mannschaft geführt, aber als überzeugter irischer Nationalist lehnte er diese Vorstellung rundweg ab und sah sich selbst als unabhängigen bzw. irischen Teilnehmer. 1906 in Athen gewann Peter O’Connor die Goldmedaille im Dreisprung und Silber im Weitsprung. Er war unter der Ägide der Gaelic Athletic Association geschickt worden, doch die Organisatoren weigerten sich, diese als Nationales Olympisches Komitee anzuerkennen, so dass O’Connor mit zwei weiteren irischen Athleten in das britische Team versetzt wurde. Aus Protest feierte er seinen Sieg, indem er, während sein Kollege Con Leahy Schmiere stand, im Stadion einen Fahnenmast erklomm und eine irische Trikolore hisste.

Flaggen erwiesen sich bei den Spielen 1908 als problematisch. Für die Eröffnungsfeier sollte das Stadion mit den Fahnen aller teilnehmenden Nationen geschmückt werden, allerdings versäumten es die Organisatoren, die amerikanische und schwedische zu hissen; zu allem Überfluss hatten sie es fertiggebracht, die Flaggen Chinas und Japans aufzuziehen, die aber beide nicht dabei waren. Politisch noch problematischer war der Status der finnischen Flagge. Bis 1809 Teil von Schweden, wurde Finnland anschließend dem Russischen Reich als weitgehend autonomes Großfürstentum Finnland angegliedert, ein Zustand, der der finnischen Bevölkerung zunehmend bitter aufstieß, bis sie 1917 schließlich ihre Unabhängigkeit erklärte.

Die Finnen waren aufgrund von Problemen mit dem Heizkessel ihres Linienschiffs erst spät, aber noch rechtzeitig in London eingetroffen. Da sie eine eigene Fahne mitgebracht hatten, baten sie die Organisatoren, hinter ihr einmarschieren zu dürfen. Die Russen, deren sechsköpfiges Aufgebot der Eröffnungsfeier fernblieb, lehnten dies rundweg ab, akzeptierten aber den Kompromiss, die finnische Mannschaft mit Namensschild, aber ohne Fahne außerhalb der alphabetischen Reihenfolge einmarschieren zu lassen. Die gleiche diplomatische Lösung wurde 1912 in Stockholm angewendet, wo die Finnen erneut mit eigenem Namensschild, aber ohne Fahne einliefen. Das schwedische Publikum, das um den finnischen Unabhängigkeitskampf wusste und ihm gewogen war, applaudierte ihnen, während die Kapelle den »Marsch der finnischen Kavallerie« anstimmte, einen alten, populären, schwedischen Militärmarsch zu Ehren der Rolle der Finnen im Dreißigjährigen Krieg, der 1872 mit dem Text des finnischen Komponisten Zacharias Topelius eine nationalistische Note erhalten hatte.

Fast überall auf der Welt war die Nation eine männliche Angelegenheit: Bürger- und Wahlrecht sowie der Wehrdienst waren Männern vorbehalten. Die olympischen Sportnationen waren da kaum anders: 1896 waren ausschließlich Männer am Start, während 1900, zumindest laut offizieller Rekonstruktion, 22 Frauen dabei waren, die Tennis, Golf und Croquet spielten. In St. Louis und Athen nahmen jeweils nur sechs Frauen teil: Bogenschützinnen in Amerika und Tennisspielerinnen in Griechenland. In London waren es zwar schon 37 Frauen, das aber bei einer Gesamtteilnehmerzahl von 2.008 Athleten und beschränkt auf Eiskunstlaufen und Bogenschießen. Immerhin gelang es einer Gruppe dänischer Turnerinnen, die ihr Können außer Konkurrenz vorführten, mit den »anmutigen Proportionen ihrer unteren Gliedmaßen« große Aufmerksamkeit zu erregen.

Als 1912 in Stockholm 47 Frauen antraten, war der männliche Blick so lebendig wie eh und je. Den Einmarsch der Nationen kommentierend, bemerkte die einheimische Presse: »Wo immer die Frauen auftauchten, gab es großen Applaus: für die österreichischen Turnerinnen, für die australischen Schwimmerinnen in ihren langen grünen Mänteln, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Bademänteln aufwiesen, und die weiblichen Turner aus Dänemark.« Ob männlich oder weiblich, waren es im Großen und Ganzen weiße Nationen, die antraten.

Nur zwei farbige Athleten nahmen an den Spielen 1908 teil: der afro-amerikanische Läufer John Taylor, der Gold mit einer Staffelmannschaft gewann, und Tom Longboat, ein Onondaga-Indianer, der für Kanada im Marathon antrat. Sie hatten nur wenige Vorgänger. Bei den Spielen 1900 gehörte der schwarze Haitianer Constantin Henriquez, der in Paris Medizin studierte, den siegreichen französischen Mannschaften im Rugby und Tauziehen an. 1904 war neben den beiden Südafrikanern, die ihren ersten Marathon bestritten, noch George Poage dabei, ein afro-amerikanischer Hürdenläufer und Bronzemedaillengewinner.

Der Einmarsch der Nationen 1908 war prachtvoll, und die Spiele selbst wiesen das bis dahin größte Teilnehmerfeld auf, doch die Besucherzahlen waren sehr enttäuschend. Es waren vielleicht 30.000 Menschen, die sich in der gewaltigen Schüssel des White-City-Stadions verloren, in der leicht mehr als 80.000 Menschen Platz gefunden hätten. Die Frage der Zuschauerresonanz war sogar schon vor der Eröffnungsfeier ein drängendes Problem gewesen. Bereits im Frühsommer hatte es eine Reihe olympischer Veranstaltungen in London gegeben – Schießen, Tennis und Jeu de Paume, Rackets und Polo –, aber trotz der einwandfrei elitären und aristokratischen Herkunft dieser Sportarten war es ihnen nicht gelungen, im Londoner Sommer für Aufmerksamkeit zu sorgen.

Dies wäre vielleicht weniger beunruhigend gewesen, wären die Ticketpreise auf ein größeres Publikum ausgerichtet worden, aber billige Plätze wurden nur wenige angeboten. Selbst bei zwei Schillingen waren sie für viele noch unerschwinglich, zudem waren sie nicht überdacht, ergiebigen Regenfällen ausgesetzt und ziemlich weit weg vom Geschehen. Wie der Tatler säuerlich anmerkte: »Das breite Publikum, das, wie ich annehme, die Hauptklientel solcher Veranstaltungen ist, beklagte sich darüber, nicht zu Unrecht, für seine bescheidenen ein oder zwei Schillinge irgendwo auf Höhe des Flip-Flap zu sitzen, und wollte sich auch nicht von der Versicherung besänftigen lassen, dass irgendwo in weiter Ferne das größte Sportfest der Welt stattfände.«7

In der Eröffnungswoche war die Resonanz sogar noch geringer und das Wetter noch trostloser. Für die Daily Mail bedeutete dies eine Krise von nationaler Tragweite, denn die ausländische Presse werde »in ihre Heimat zurückkehren mit der Nachricht, dass die britische Rasse Anzeichen des Verfalls zeige und dass wir gleichermaßen verkommen seien an sportlichem Instinkt und körperlicher Begabung«.8 Eine zweite Werbeoffensive, besseres Wetter und drastisch reduzierte Ticketpreise sorgten in der zweiten Woche für größeren Zuspruch, so dass die Nation das Gesicht wahrte, trotzdem waren die Tribünen alles anderes als voll besetzt.

Am spannendsten für alle, die dann doch den Weg ins Stadion fanden, waren die Duelle und Auseinandersetzungen zwischen Briten und Amerikanern. Die Spiele von 1908 bedeuteten nur eine Reihe kleiner sportlicher Konflikte innerhalb einer größeren, komplexeren Beziehung. Die ungeachtet des Unabhängigkeitskriegs engen sprachlichen, ethnischen und imperialen Bande des 17. und 18. Jahrhunderts litten unter den neuen anti-britischen Ressentiments der neuen Amerikaner. Amerikaner deutscher und holländischer Herkunft hat-ten zu den schärfsten Kritikern der Burenkriege gehört. Der lange und zunehmend verbittert geführte Kampf um irische Selbstbestimmung und Unabhängigkeit fand seinen Widerhall in der gesamten Diaspora, insbesondere unter Amerikanern irischer Herkunft, die begeisterte und erfolgreiche Sportler waren. Sowohl die unabhängige als auch die irisch-republikanische Presse in den USA ließ in ihrer Berichterstattung der Spiele keine Gelegenheit aus, weiter Öl ins Feuer zu gießen.

Schon vor dem Beginn der Spiele hatte die World berichtet, dass »die Unterkünfte, die für die amerikanische Olympiamannschaft in London bereitgestellt wurden, nicht zufriedenstellend« seien.9 Der bärbeißige James Sullivan, aufgebracht angesichts der miserablen Unterbringung in London, hatte das gesamte Team nach Brighton verlegen lassen. In den Tagen vor der Eröffnungsfeier gerieten die Amerikaner wegen der Regeln beim Stabhochsprung und der Auslosung für die Vorläufe über 1.500 m mit den Organisatoren aneinander. Die Amerikaner erlaubten Stabhochspringern, kleine Kuhlen zu bohren, in denen sie den Stab vor dem Sprung aufsetzen konnten, und ließen sie in einer Sandkuhle landen. Die Briten untersagten beides. Die geheim durchgeführte Auslosung für die 1.500 m hatte ergeben, dass vier der stärksten amerikanischer Läufer gegeneinander antreten mussten, von denen nur einer weiterkommen konnte. James Sullivans Äußerungen gegenüber der amerikanischen Presse fügten sich ein in die immer lauter werdenden Missklänge voller Argwohn, Überspitzung und nationalistischem Groll: »Es ist entweder außerordentliches Pech oder aber die Art und Weise, wie die Auslosung durchgeführt wurde, die den Amerikaner so ungünstige Bedingungen beschert hat.«10

Seitens der Presse wurden schrillere Töne angeschlagen. In der Berichterstattung über die Eröffnungsfeier hieß es, dass allein die amerikanische Teamfahne nicht gesenkt worden sei, als sie König Edward präsentiert wurde. Fahnenträger Ralph Rose soll gesagt haben: »Diese Fahne beugt sich keinem irdischen König.« Ob dem so war oder nicht, sei dahingestellt; so erinnert sich jedenfalls noch heute die amerikanische Sportnation dieses postkolonialen Akts republikanischen Widerstands.

Die britische Heimtücke sah man bestätigt beim Tauziehen und dem 400-m-Lauf. Im Tauziehen wurden die Amerikaner, die mit einer zusammengewürfelten Mannschaft aus Leichtathleten und Ringern an den Start gingen, gegen eine Mannschaft des Liverpooler Polizeikorps gelost. Im Einklang mit den nach ihrem Verständnis geltenden Regeln traten die Amerikaner in Laufschuhen an. Die Polizisten hingegen trugen ihre mit Stahlnägeln bewehrten Dienststiefel und setzten sich mühelos gegen die Amerikaner durch, die gegen das vermeintlich unzulässige Schuhwerk der Polizisten umgehend Protest einlegten. Die Briten, die abstritten, die Regeln verletzt zu haben und auf die Bedeutung von Technik und Teamwork verwiesen, boten eine Revanche ohne Stiefel an. Die erbosten Amerikaner lehnten ab und zogen von dannen; ihr Management weigerte sich aus Protest, am großen Festbankett teilzunehmen, das Lord Desborough am Abend gab. In den Darstellungen der Presse wurde das Schuhwerk der britischen Mannschaft immer imposanter. Laut New York Evening Post hatten die Schuhe »zentimeterdicke Sohlen und waren schwerer als diejenigen, die von der englischen Navy getragen werden, und der Headman hatte außerdem Spikes an seinen Schuhen befestigt«. Die New York Evening World hielt die Stiefel für »so groß wie North-River-Fährschiffe«.11

Im Finale über 400 m traf der amerikanische Favorit John Carpenter auf den britischen Armeeleutnant Wyndham Halswelle. Auf den letzten 100 Metern versuchte Halswelle außen am in Führung liegenden Carpenter vorbeizuziehen, aber Dr. Roscoe Badger zufolge, einem der zahlreichen Kampfrichter, die das Rennen überwachten, »scherte Carpenter umso mehr aus, je weiter sie kamen, seine rechte Schulter hinreichend vor Mr. Halswelle haltend, um ihn am Überholen zu hindern«. Carpenter wurde sofort disqualifiziert, aber nach einer Reihe wüster Wortgefechte zwischen Amerikanern und Organisatoren wurde schließlich ein Wiederholungslauf auf abgeteilten Bahnen angeboten. Carpenter lehnte ab, seine Landsleute folgten seinem Beispiel, und Halswelle musste das zweite Finale alleine bestreiten. »Straßenraub ist ein harter Ausdruck, aber es gibt keine anderen Worte dafür«, befand US-Trainer Mike Murphy. Die irisch-republikanische Presse forderte die Einstellung der diplomatischen Beziehungen, und auch der Mainstream äußerte sich kaum gemäßigter.

Doch trotz alledem geriet die Leichtathletik zu einem klaren Triumph für die Amerikaner. Die Briten mochten 1908 die meisten Medaillen gewonnen haben, aber in der Leichtathletik, die zur wichtigsten Bühne der Auseinandersetzungen geworden war, holten die Amerikaner 13 Goldmedaillen, die Briten nur fünf. Die US-Mannschaft wurde in New York mit einer Konfettiparade begrüßt und erhielt eine Audienz bei Theodore Roosevelt höchstpersönlich, dem Vorreiter des »harten, anstrengenden Lebens« und obersten Kriegsherrn der aufstrebenden Vereinigten Staaten. Die damals in London ansässige Vanity Fair schrieb: »Die Amerikaner haben uns deutlich besiegt. Fragen Sie einen beliebigen Jungen aus Eton oder Harrow, welche sportlichen Wettbewerbe er gerne gewinnen möchte, und er wird Ihnen … die Läufe oder die Sprünge nennen.« Man musste eingestehen, dass der American Way nicht nur funktionierte, sondern auch das Modell der Zukunft darstellte. Vanity Fair schrieb weiter: »Natürlich hat auch die britische Art, die Dinge locker zu nehmen und sich trotzdem ganz achtbar zu schlagen, etwas für sich, schon klar«, aber mit individuellem Schneid allein sei es nicht mehr getan. Der britische Sport, ebenso wie die britische Gesellschaft, müsse modernisiert werden. »Das Individuum sieht seine kleinen Makel nicht, vielleicht schätzt es sie sogar, aber der Trainer lässt das nicht zu; er korrigiert sie, und die Zeiten seines Schützlings verbessern sich. Unsere Mannschaften müssen sich in die Obhut von Trainern begeben, wollen sie die nächsten Olympischen Spiele gewinnen.«12

Es gab also enorm viel Gerede, und es wurden auch eine Menge Zeitungen abgesetzt, wirklich gefeierte und mitreißende sportliche Wettkämpfe waren es aber nicht; wie schon 1896 in Athen und 1904 in St. Louis war es auch 1908 der Marathon, der die Kastanien aus dem Feuer holte. Die New York Times berichtete euphorisch von einem »Spektakel, wie es noch niemand unter den Lebenden zu sehen bekam und auch keiner, der es gesehen hat, noch einmal zu sehen erwartet«.13 Das Rennen begann am Schloss Windsor, als Umkleide diente den Athleten der Bahnhof. Die Strecke führte durch das Metroland im Londoner Nordwesten und die wachsenden Vorstädte Uxbridge, Ickenham und Ruislip, bevor es nach Süden durch Harrow und Willesden ging.

Bei der 20-Meilen-Marke war das Feld bereits von 55 auf 29 Läufer geschrumpft, obwohl heiße und kalte Brühe, Reispudding und Rosinen, Eau de Cologne, Brandy und Strychnin ausgegeben wurden. Ein Trio lag in Führung: der Südafrikaner Charles Hefferon, der Italiener Dorando Pietri, ein Konditor aus Carpi, und der Irisch-Amerikaner Johnny Hayes. Weniger als drei Kilometer vor dem Ziel lag Hefferon vorn. Als ihm ein Bewunderer am Straßenrand ein Glas Champagner reichte, stürzte er es unter dem Jubel der Zuschauer hinunter. Eine halbe Meile später, auf der Old Oak Lane, brach er geschüttelt von alkoholbedingten Krämpfen ein, und Pietri, selbst schon deutlich gezeichnet, zog vorbei. Die New York Evening Post beschrieb, was sich derweil am Stadion abspielte: »Draußen drängte sich die Menge vor den Toren, während die Polizei sie zurückstieß und immer wieder rief, dass keine Karten mehr zu haben seien.« Arthur Conan Doyle hielt es kaum noch auf seinem Sitz: »Wir warten darauf, 80.000 von uns, dass der Mann auftaucht, warten bange, gespannt, unter dem unruhigem Schaukeln und Wiegen, das die Ungeduld der Menge kennzeichnet.«14

Als Pietri ins Stadion einlief, begann die Kapelle »See, the Conquering Hero Comes« (Seht, der siegreiche Held kommt) zu spielen, aber dieser siegreiche Held, sichtlich erschöpft und desorientiert, bog falsch ab und lief in die verkehrte Richtung, bis er wieder auf den richtigen Kurs gebracht wurde. »Er stolperte die Aschebahn entlang wie ein Mann in einem Traum, sein Gang war weder ein Gehen noch ein Laufen, sondern nur ein Taumeln, mit zitternden Armen und wackligen Beinen.« Um die chaplineske Gestalt mit dem komischen Gang, dem kleinen Schnurrbart und dem um den Kopf geknoteten Taschentuch scharte sich ein Halbkreis besorgter Offizieller, die helfen wollten, sich aber zurückhalten mussten. Laut New York Evening Post rief die Menge: »Lasst ihn in Ruhe! Bringt ihn nicht um! Das hat mit Sport nichts zu tun!« Petri ging dreimal zu Boden und wurde von helfenden Händen aufgefangen. In der letzten Kurve vor dem Ziel wurde er gestützt und massiert.

Zu diesem Zeitpunkt erreichte auch der Amerikaner Johnny Hayes schnellen Schrittes das Stadion. Pietri war nur wenige Meter vom Ziel entfernt, lag aber am Boden. Die Daily Mail berichtete: »Im Eifer des Gefechts richteten zwei Kampfrichter Dorando auf und stützten ihn, während er die letzten kaum zehn Meter zurücklegte.« Einige britische Offizielle wollten dies abstreiten, aber nach vehementen Protesten der Amerikaner hieß es aus dem Imperial Sports Club, dass Pietri disqualifiziert und Hayes zum Sieger erklärt worden sei.

Auf einem Bankett nur wenige Stunden danach wusste Lord Desborough zu berichten: »Ihre Majestät [Königin Alexandra] war so entschieden der Auffassung, dass den Italienern eine Auszeichnung für die Leistung ihres Champions gebühre, dass sie beschlossen hat, Dorando Pietri einen besonderen Pokal auf ihre eigenen Kosten zu überreichen.«15 Bei der Schlussfeier überreichte sie Pokale sowohl an Pietri als auch an Hayes. Die italienische Presse betonte den Kontrast und behauptete, dass Pietri eine umjubelte Ehrenrunde drehte, während die Menge »Lang lebe Italien!« skandierte. Hayes wurde von seinen Teamkameraden auf einem Küchentisch getragen, und L’Illustrazione Italiana berichtete, dass »dem Applaus die Wärme und Spontaneität abging, die kurz zuvor dem italienischen Champion zuteil geworden war. Hier und da waren sogar Buhrufe zu vernehmen.«16 In den Wochen darauf wurde der Italiener mit großzügigen Geschenken und sogar Angeboten für eine Sangeskarriere überhäuft. Auf dem Gipfel seiner Macht schwelgte Britannien lieber im ehrenvollen Scheitern, als sich an den simplen, beständigen amerikanischen Maßstäben des Erfolgs messen zu lassen.

Die Spiele

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