Читать книгу Die Spiele - David Goldblatt - Страница 16
ОглавлениеZWEI
1892 geplant, von aufeinanderfolgenden französischen Regierungen großzügig finanziert und von Alfred Picard geleitet, war die Pariser Exposition Universelle von 1900 die größte und bestbesuchte alle Weltausstellungen der Belle Époque. In ideologischer Hinsicht präsentierte sie sich ebenso ambitioniert wie ambivalent. Einerseits sollte sie die Philosophie des 19. Jahrhunderts resümieren, andererseits zeigen, wie das neue Jahrhundert aussehen könnte. Sport würde ein Teil davon sein, aber in welcher Form genau, blieb abzuwarten. Das Bemühen der Organisatoren, den Sport innerhalb ihres umfassenden Klassifizierungsystems anzusiedeln, trieb hin und wieder abenteuerliche Blüten. Im offiziellen Katalog wurden Eislaufen und Fechten als Untersektionen der Besteckindustrie geführt, Rudern unter Lebensrettung, und Leichtathletikklubs waren unter gemeinnützige Vereine gelistet.
Es bestand allerdings kein Zweifel über die Auffassung der Organisatoren bezüglich der Bedeutung des Sports. Als Coubertin und sein Komitee ihr Programm für die Olympischen Spiele 1900 vorlegten, nicht unähnlich dem von Athen 1896, äußerte sich Picard verächtlich und befand es für »billig und ungeeignet, die Nation zu repräsentieren«, weder prächtig, populär oder demokratisch genug für die Dritte Französische Republik.1 Auch hatte er mit Coubertins Neo-Hellenismus und seinem seltsamen olympischen Spiritualismus nichts am Hut, die er als »absurde Anachronismen« erachtete.
Somit fanden die Olympischen Spiele 1900 ungefähr von Mitte Mai bis Ende Oktober statt, aber ohne Eröffnungsfeier und Schlusszeremonie, ohne Medaillen und Siegerkränze, Hymnen oder Chöre und ohne Spuren von olympischer Ikonografie in offiziellen Broschüren und Werbematerialien. Offiziell firmierten sie als die »Concours internationaux d’exercices physiques et de sports«, die Internationalen Wettbewerbe für Leibesübungen und Sport, aber die Presse war uneins darüber, wie sie einzelne Veranstaltungen nennen sollte, und bezeichnete sie, beinahe willkürlich, mal als »Festivalspiele«, als »Olympisches Festival« oder auch als »Internationale Spiele«. Bis heute ist umstritten, welche Darbietungen olympisch waren und welche nicht, und ob sie diesen Status erhalten, liegt allein im rückwirkenden Ermessen des IOC. Damals jedenfalls war sich fast niemand darüber im Klaren – weder Zuschauer noch Teilnehmer oder Presse –, dass überhaupt Olympische Spiele im Gange waren.
Unter den präsentierten Sportarten waren, außer Boxen, Gewichtheben und Ringen, alle, die schon 1896 dabei waren, dazu kamen einige, die in Athen noch gefehlt hatten, wie Fuß-ball, Rugby und Cricket, außerdem Pelota, Jeu de Paume, Golf, Bowling und Croquet. Noch weiter weg vom olympischen Kernprogramm umfassten die Spiele von Paris außerdem ein umfangreiches Motorsportprogramm, Ballonwettfahrten und Motorbootrennen, Wettbewerbe in volkstümlichen Beschäftigungen wie Angeln und Taubenrennen, Zusammenkünfte der feinen Gesellschaft bei Golf und Polo sowie Massenveranstaltungen mit bis zu 8.000 Turnern und 5.000 Bogenschützen, die die kleineren internationalen Wettbewerbe deutlich in den Schatten stellten. Darüber hinaus gab es nationale Bewerbe in Gefechtsbereitschaft und Lebensrettung, nationale Schulspiele und einen prestigeträchtigen wissenschaftlichen Kongress für Hygiene und Physiologie. Zwar waren die Sportler weitgehend Amateure, es herrschte aber kein generelles Verbot von Profis, für die es Sonderwettbewerbe in Rasentennis, Pelota, Schießen und Radfahren gab.
Der australische Sprinter Stanley Rowley war wenig angetan: »Diese Veranstaltungen wie Weltmeisterschaften anzugehen, wäre eine regelrechte Beleidigung der wichtigen Veranstaltungen, die sie eigentlich sein sollen. Die meisten Teilnehmer fassen sie als EINEN GROSSEN WITZ auf.«2 Das Cricketturnier beschränkte sich auf ein einziges Match zwischen zwei britischen Teams, den tourenden Devon Wanderers und einer Mannschaft in Paris lebender Exilbriten. Beim Fußball waren drei Teams dabei, die englischen Amateure von Upton Park, eine von der USFSA zusammengetrommelte französische Elf und ein Haufen belgischer Studenten. Die Mosley Wanderers, die englischen Vertreter des ebenso winzigen Rugbyturniers, trafen ein, spielten und reisten noch am gleichen Tag wieder ab, ohne sich dessen bewusst zu sein, an Olympischen Spielen teilgenommen zu haben.
Die Schwimmwettbewerbe, im schmutzigen Wasser der Seine ausgetragen, muteten fast kurios an und umfassten u. a. ein Hindernisrennen, bei dem die Teilnehmer einen Mast erklimmen, unter einem Bug herschwimmen und dann über einen zweiten klettern mussten. Was das Croquet betraf, so war im offiziellen Bericht zu lesen: »M. André Després, Zivilbeamter von Profession und Gesetzgeber des Croquet, ließ dem Turnier die verständigste und hingebungsvollste Sorgfalt angedeihen. Baron Gourgaud stellte, weder Kosten noch Mühen scheuend, einen eigens für diesen Anlass angelegten Sandplatz in einem hübschen Winkel des Cercle de Bois de Boulogne bereit.« Die Mühe hatte sich kaum gelohnt. »Zuschauer kamen keineswegs zahlreich, wenngleich ich einen englischen Liebhaber des Spiels erwähnen muss, der die Reise von Nizza nach Paris angetreten war. … Sofern ich mich aber nicht sehr täusche, war dieser Gentleman der einzige zahlende Zuschauer.«3
Trotzdem war nicht jeder so enttäuscht wie Coubertin. Die beliebte Sportzeitung L’Auto-Vélo verstieg sich gar zu der Behauptung, dass »seit den Zeiten, als Olympische Spiele alle vier Jahre in Griechenland und der gesamten antiken Welt extreme Emotionen weckten, dem Sport nicht mehr solche Ehre zuteil geworden war wie in diesem Jahr, nie hat er eine solche Menge versammelt. … Der Sport ist gewiss zu einer neuen Religion geworden.«4
Vier Jahre später zog die Show nach Westen und wurde sogar noch größer: Die Louisiana Purchase Centennial Exposition von 1904 war eine Ausstellung von gewaltigen Ausmaßen. Die Anlage wurde im gleichen provisorischen Beaux-Arts-Stil wie bei der Chicagoer Weltausstellung von 1893 errichtet, war aber zweimal so groß und umfasste 1.500 Gebäude, 80 Kilometer Fußwege sowie Pavillons aus 62 Nationen und 43 der damals 45 Staaten der USA. In den Werbebroschüren wurde nicht nur den Investoren, die fast 20 Millionen Dollar bereitgestellt hatten, ein schöner Profit versprochen, sondern auch die Ausrichtung der inzwischen obligatorischen »Ausstellung des menschlichen Fortschritts … der neuesten und edelsten Errungenschaften, seiner Triumphe in Fertigkeit und Wissenschaft, seiner bewährtesten Lösungen gesellschaftlicher Probleme«.5
Das Sportprogramm dauerte mehr als sechs Monate, von Mai bis November. Es wurde von James Sullivan organisiert, der außerdem Leiter der Abteilung für Körperkultur und Präsident der American Athletic Union war. Das Programm veranschaulichte die amerikanische Philosophie, nach der Sport nicht nur ein Zeitvertreib für den Gentleman war, sondern ein Teil dessen, was Präsident Theodore Roosevelt »the strenuous life« genannt hatte, das anstrengende, harte Leben. Nun, da der Wilde Westen erschlossen war, wo würde die kommende Generation die vielen Tugenden lernen und die physische Kraft erlangen, die die Nation erschaffen hatten? Die Antwort lautete: im Sport, in der Liebe zur freien Natur, in der Pfadfinderei und körperlichen Betätigung, nicht nur für die Elite, sondern für die ganze Nation. Unter Einbeziehung der neuesten wissenschaftlichen und medizinischen Erkenntnisse und deren praktischer Umsetzung in modernen Trainingsformen und anderen Anwendungen könnte Amerika eine Nation gesunder Sportsmänner hervorbringen.
Sämtliche dieser Aspekte waren – sehr zu Coubertins Leidwesen – in Sullivans Sportprogramm berücksichtigt. Es umfasste Schülermeisterschaften des Staates Missouri, Basketballund Baseballturniere für College-Mannschaften, nationale Leichtathletikmeisterschaften des YMCA, dem gälischen Sport gewidmete Tage sowie Vorführungen in Gymnastik und Turnen, außerdem Golf, Bogenschießen, Croquet, Schwimmen, Lacrosse und Fechten.
Die eigentlichen Olympischen Spiele im Sinne des IOC fanden größtenteils von Ende August bis Anfang September statt, allerdings war außer für die Veranstalter nicht klar ersichtlich, dass diese Wettbewerbe einen anderen Stellenwert hatten. Fast alle Konkurrenzen wurden im kleinen und schmucklosen Francis-Field-Stadion und der zugehörigen Turnhalle ausgetragen, die zum Campus der University of Washington gehörten und in einer Ecke des Messegeländes hinter dem ungemein beliebten Fluggelände versteckt lagen. Für die Wasserwettbewerbe musste man sich mit dem künstlichen See neben dem Palace of Agriculture begnügen.
Die Veranstaltung begann mit einer kaum als solche zu bezeichnenden Eröffnungsfeier beim Interschultreffen des Staates Missouri im Mai. Der Vorsitzende des Organisationskomitees der Ausstellung, David Francis, und Außenminister John Milton Hay schritten vom Feld hinauf zu ihrer Loge auf der Haupttribüne, der »Star-Spangled Banner« wurde gespielt, und die Wettbewerbe begannen. Viel prächtiger ging es auch beim Beginn der eigentlichen Olympischen Spiele im August nicht zu. Bei diesem Anlass schritten David Francis und James Sullivan flüchtig eine Doppelreihe von Athleten ab, bevor die Kapelle zu spielen begann, was für alle das Zeichen war, sich zu verteilen und aufzuwärmen.
Nur 687 Athleten kamen nach St. Louis, davon 526 Amerikaner und 56 Kanadier. Unter den vielleicht hundert Sportlern aus der übrigen Welt waren kleine Aufgebote aus dem Britischen Empire, Kuba, Deutschland, Österreich, Griechenland, Ungarn und der Schweiz, aber keine Franzosen, Italiener oder Skandinavier, ganz zu schweigen von Asiaten oder Afrikanern. So überrascht es kaum, dass die USA die erfolgreichste Mannschaft stellten, mit 70 von 94 Goldmedaillen. In der Leichtathletik gewannen sie 21 von 22 Entscheidungen und dazu 42 der 44 zweiten und dritten Plätze.6 Boxen, Tauziehen, Radfahren, Tennis und Roque (ein kurzlebiger amerikanischer Spleen für Croquet auf Beton) machten die Amerikaner unter sich aus. Fußball und Lacrosse waren Weltmeisterschaften mit rein nordamerikanischer Beteiligung, ausgetragen zwischen ortsansässigen Sportklubs und kanadischen Teams.
Amerikaner und Deutsche lieferten sich einige heftige Auseinandersetzungen. Beim Wasserball erachteten die Amerikaner einen aufgeblasenen Volleyball als ein adäquates Spielgerät, und ein Tor wurde erzielt, indem man den Ball ins Netz hielt, statt ihn zu werfen. Die Deutschen sprachen von »Wasserball für Weichlinge« und weigerten sich anzutreten. Beim Wasserspringen brachten sie ihr eigenes Brett mit spezieller Kokosnussauflage mit und bestanden darauf, dass die Punktevergabe nur auf Grundlage akrobatischer Bewegungen erfolgen solle und nicht etwa danach, wie wenig Wasser beim Eintauchen verspritzt wurde. Die Amerikaner waren anderer Meinung. Alfred Braunschweiger weigerte sich daher, zum Stechen um die Bronzemedaille gegen einen Amerikaner anzutreten, den er seiner Meinung nach längst bezwungen hatte. Der deutsche Delegationsleiter in St. Louis, Dr. Theodor Lewald, später Mitglied des IOC, hatte einen Bronzepokal für den siegreichen Wasserspringer gestiftet, war aber so empört über das Ergebnis, dass er sich weigerte, ihn zu verleihen. Abseits solcher Streitereien verlegte sich die amerikanische Presse darauf, den Wettbewerb zum nationalen Duell zwischen dem alten Ostküsten-Establishment und den neuen Universitäten und Athleten der Westküste umzudeuten.
Die Zuschauerzahlen bei fast allen Wettbewerben waren mager, die nationale Berichterstattung in der Presse war schlecht, die internationale so gut wie nicht vorhanden. Mehr Aufmerksamkeit als die offiziellen, von der IOC gutgeheißenen olympischen Bewerbe erregte damals das Sportprogramm im Rahmen des von der Abteilung für Anthropologie errichteten Modells einer Indianerschule. Dieses Modell sollte eine bereinigte Version der traditionellen Lebensweise vorführen und zeigen, wie wirkungsvoll Erziehung als Instrument der Anpassung und Kontrolle war.7 An der Indianerschule maßen sich Studenten im Boxen, Baseball und der Leichtathletik und trugen, als Teil des übergeordneten Sportprogramms, das erste College-Football-Match zwischen rein indigenen Mannschaften aus. Dabei standen sich vor ausverkauftem Haus mit 12.000 Zuschauern – mehr als bei jedem anderen olympischen Wettbewerb in jenem Jahr – zwei Mannschaften der Indianerschulen von Carlisle und Haskill gegenüber. Am bemerkenswertesten aber, und das Element der Spiele von 1904, das noch am längsten nachklang, waren die sportlichen Wettbewerbe im Rahmen der sogenannten »Anthropologischen Tage«.8
So absonderlich es aus heutiger Sicht auch erscheinen mag, die Beteiligung der Abteilung für Anthropologie und die Zurschaustellung »originalgetreuer« Stammesdörfer und kolonialer Exponate war durchaus nicht ungewöhnlich. Im ausgehenden 19. Jahrhundert wurden bei Weltausstellungen häufig indigene Völker und Angehörige »primitiver« Stämme aus den Kolonien buchstäblich vorgeführt, während die Tentakel des Imperialismus sich immer weiter um den Globus wanden. In den 1880er Jahren beispielsweise dehnte Frankreich seinen Herrschaftsbereich aus und erwarb neue Protektorate in Tunesien, Indochina und Madagaskar und vergrößerte außerdem seinen Einfluss im pazifischen Raum, während fast ganz Afrika unter konkurrierenden europäischen Mächten aufgeteilt war. Um 1900 war die Bedeutung der Imperien so weitreichend, dass bei der Pariser Exposition Universelle ein riesiges Areal dem französischen Kolonialreich gewidmet war, mit zehn verschiedenen Dörfern, von Französisch-Indien und der Karibik bis zum Pazifik und Nordafrika. Dazu war ein ganzer Bereich reserviert für die kolonialen Exponate anderer Großmächte. Innerhalb des Messegeländes der Louisiana Purchase Exposition war u. a., neben zahlreichen Indianerdörfern und dem Auftritt der Ainu aus Japan und Patagonier aus Südamerika, das Raubgut des neuen amerikanischen Empires im großen philippinischen Dorf zu sehen. Unter der Schirmherrschaft des US-Kriegsministeriums waren 1.200 Filipinos versammelt worden, um in einem riesigen »Reservat« vorgeführt zu werden.
Sport und Anthropologie, Wissenschaft und Spektakel kamen an den, von der lokalen Presse »Stammesspiele« getauften, »Anthropologischen Tagen« zusammen. Sie waren die Schöpfung von James Sullivan und William J. McGee, dem Direktor der Abteilung für Anthropologie. McGee, bisweilen als »der Overlord der Wilden« betitelt, hielt an einer Lesart des wissenschaftlichen Rassismus fest, der alle menschlichen Wesen in einer biologisch determinierten Hierarchie der Rassen verortete, die mit dem rückständigen Primitivismus der Schwarzen begann und dem zivilisierten Fortschritt der Weißen endete. Soweit man es anhand seiner sonstigen Schriften beurteilen kann, war er ein recht konventioneller Verfechter der Überlegenheit der europäischen Rasse. Bei der Ausstellung ergriff er jedoch die Gelegenheit, Sullivan und die wissenschaftlichen Rationalisten der Abteilung für Körperkultur ein wenig zu triezen, und beförderte einen romantischen Sport-Primitivismus. Die Presse war voll seiner Behauptungen, dass diese naturverbundenen, gleichwohl primitiven Völker sich als überlegene Athleten erweisen würden. Laut McGee versammelte St. Louis mehr »Völker der Erde, als je zuvor zusammengebracht wurden«.9 Demnach war es eine hervorragende Gelegenheit, viele der Thesen der Anthropologie zu prüfen.
Um die Theorien zu prüfen, wurden an zwei Tagen Spiele ausgetragen, bestehend aus diversen »eingeborenen« und »zivilisierten« Sportarten, deren Ergebnisse dann mit denen von weißen und olympischen Athleten verglichen würden. Die Spiele waren natürlich eine Farce. Die Teilnehmer, von denen viele gar nicht wussten, was von ihnen erwartet wurde, hat-ten keine Ahnung von den Regeln und Techniken olympischer Sportarten. Bis wenige Tage vor Beginn plante McGee sogar noch Schwimm- und Wasserballwettbewerbe für Menschen, die nicht schwimmen konnten. Zum Gewichtweitwurf gebeten, weigerten sich viele Teilnehmer schlichtweg, etwas so Unsinniges zu tun.
Am ersten Tag wurden sie, sehr aus dem Stegreif, in »rassische Mannschaften« unterteilt – Filipinos, Patagonier, amerikanische Ureinwohner, Syrer und Afrikaner – und nah-men an Staffelrennen, Hochsprung, Tauziehen, Kugelstoßen, Speerwurf und Baseballwerfen teil. Gegen Ende des zweiten Tages trugen viele der Teilnehmer lieber ihre eigenen sportlichen Wettkämpfe aus, wie Stabklettern, Schlammkämpfen und Bogenschießen. Im offiziellen Bericht hieß es: »Die Vertreter der wilden und unzivilisierten Stämme erwiesen sich als minderwertige Athleten, in hohem Maße überschätzt.«10 Ein Afrikaner sei die 100 Yards in einer Zeit gelaufen, »die jeder zwölfjährige amerikanische Schuljunge unterbieten könnte«. Der Bericht schloss recht selbstzufrieden: »Der Wilde ist nicht der naturgegebene Athlet, als den man ihn uns weismachen wollte.« Der romantische Athletikbegriff im Sport mochte der Vergangenheit angehören, aber Pseudowissenschaft, die einer Hierarchie der Rassen, sowohl in athletischer als auch intellektueller Hinsicht, Vorschub leistete, war immer noch quicklebendig.
Falls die Spiele von St. Louis und seine Athleten wirklich die Speerspitze der Zivilisation darstellten, dann erinnerte der Marathon an den berühmten Witz von Gandhi, der auf die Frage, was er von der Zivilisation des Westens halte, einmal sagte: »Ich denke, das wäre eine gute Idee.« 32 Läufer gingen an den Start, aber nur 14 kamen ins Ziel. Die Temperaturen lagen bei mehr als 35 Grad Celsius, die Luft war feucht und stickig, und die Läufer hatten außerdem mit dem Staub zu kämpfen, der auf den steinigen, miserablen Straßen von Missouri aufgewirbelt wurde. Erst nach fast 20 Kilometern erhielten die Läufer Trinkwasser, wobei der Amerikaner William Grace so viel trank, dass er sechseinhalb Kilometer später eine fast tödliche Magenblutung erlitt. Andere, im Irrglauben, Flüssigkeitsaufnahme während des Rennens sei schädlich, beschränkten sich auf nasse Schwämme und mit Brandy getränkte Waschlappen. Andarín Carvajal, ein Postbote, der auf eigene Faust aus Kuba angereist war, verlor sein Reisegeld in einem Würfelspiel in New Orleans, traf ohne einen Cent in St. Louis ein und bestritt das Rennen in schweren Schuhen und abgeschnittenen Hosen. Obwohl er zwischendurch anhielt, um zu essen und mit Zuschauern zu plaudern, wurde er Vierter. Unter denen, die ins Ziel kamen, waren die beiden Südafrikaner Len Tau und Jan Mashiani, die als Statisten bei der Nachstellung des Burenkriegs mitwirkten. Sie kamen als Neunter und Zwölfter ins Ziel – beachtlich für blutige Anfänger –, und das, obwohl Tau noch eine zusätzliche Meile hatte laufen müssen, um einem angriffslustigen Hund zu entkommen.
Der Amerikaner Fred Lorz erreichte als Erster das Stadion, und »ein paar Momente lang herrschte ein Heidenlärm«, bis klar wurde, dass er zumindest einen Teil der Strecke in einem Lastwagen zurückgelegt hatte und folgerichtig disqualifiziert wurde. Thomas Hicks, an zweiter Stelle laufend und nur noch im Schritttempo unterwegs, schaffte es gerade so, sich über die Linie zu schleppen. Wie sich herausstellte, hatte sein Trainer Charles Lucas ihm untersagt, während des Rennens Wasser aufzunehmen und ihm stattdessen ein wahnwitziges, aber vollkommen legales Gebräu aus Strychnin, Alkohol und Eiweiß verabreicht. Hicks hatte noch Glück; zwei Spieler der siegreichen amerikanischen Wasserballmannschaft waren sechs Monate später tot, nachdem sie an typhoidem Fieber erkrankt waren, das sie sich mit ziemlicher Sicherheit im künstlichen See der Ausstellung geholt hatten, der gleichzeitig als Sickergrube für tierische und pflanzliche Abfälle diente und bis August zu einer faulenden Brühe aus Bakterien und Krankheitserregern geworden war.