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EINS

Als die Olympischen Spiele 1920 in Antwerpen wiederaufgenommen wurden, lag der Gestank des Todes in der Luft. Mit seiner pindarischen Ode an die Spiele sprach Sir Theodore Cook – Oxbridge-Klassizist, Olympiateilnehmer im Fechten und Herausgeber der Zeitschrift The Field – vielen Angehörigen seines Standes aus dem Herzen. Die Göttin Atlanta fragt: »Zu wessen Ehren versammelt ihr euch nun? Welchen toten Anchises oder Patroklos feiert ihr in euren Leichenspielen?« Die Toten in den Schützengräben von Ypern antworten: »Wir sind die Toten … wir [sind] marschiert aus zerstörten Städten und verheerten Feldern, aus wüsten Gräben, durchlöchert vom Stahl grässlicher Hagelschauer.«1 Auf dem Triumphbogen, der als feierlicher Eingang des in aller Eile wiederaufgebauten Olympiastadions diente, sah man dort, wo man vielleicht einen klassischen Diskuswerfer erwarten würde, die Skulptur eines belgischen Soldaten, der gerade eine Handgranate warf. Die amerikanische Wasserspringerin und Goldmedaillengewinnerin Aileen Riggin nahm sich einen Tag frei, um sich auf den erst vor Kurzem verlassenen Schlachtfeldern in Flandern umzuschauen, und zeigte sich von den Spuren des Krieges tief erschüttert: »Deutsche Helme lagen auf den Feldern, und wir brachten einige mit heim. Ich las einen Stiefel auf und ließ ihn gleich wieder fallen, als ich sah, dass sich noch die Reste eines menschlichen Fußes darin befanden.«2 Selbst der ewig unverzagte Coubertin stellte in seiner Nachbetrachtung der Eröffnungsfeier fest, dass »hier und da jemand zu sehen war, dessen Schritt weniger unbeschwert als gewohnt war, dessen Gesicht älter wirkte; doch der Durchhaltewillen war unverändert groß«.3

Die Zeremonie selbst hatte in der Liebfrauenkirche begonnen, wo Kardinal Mercier, Prälat von Belgien, sich an die Athleten, das IOC und Vertreter des internationalen Militärs wandte und über den Sport sagte, er habe »vor 1914 zur Vorbereitung auf den Krieg gedient, … heute ist er eine Vorbereitung auf den Frieden … und die grässlichen Eventualitäten, die noch nicht am Horizont verschwunden sind«. Mit einem kaum verhohlenen Seitenhieb auf die Deutschen argumentierte er, Sportler seien »nicht bloß eine rohe und arrogante Interpretation von Nietzsches Lebensanschauung. … Wir sind, Gott sei Dank, keine Wilden und rühmen uns im Gegenteil, jene zu zivilisieren, die es noch sind.«4

Die Vorstellung, Europa und seine erhabene Tribüne des Sports – der Olympismus – könnten so bald jemanden zivilisieren, erschien angesichts der Leichtigkeit und Begeisterung, mit der die Sportwelt im August 1914 in den Krieg gezogen war, geradezu absurd. So hatte der Kapitän der Cricket-Mannschaft von Yorkshire, A. W. White, mitten im Spiel gegen Lancashire das Feld verlassen, um sich seinem Regiment anzuschließen. Die nationalistisch gesinnten Turner aus Deutschland, Frankreich und dem sonstigen Mitteleuropa hielten es ganz ähnlich. Das britische Rugby stellte den Spielbetrieb ein, und die Fußballstadien des Landes dienten als zentrale Aushebungsstellen für die Streitkräfte der Nation. Henri Desgrange, der Begründer der Tour de France, wetterte auf den Seiten seiner Sportzeitung L’Auto: »Die Preußen sind ein Haufen Bastarde … dreckige Quadratschädel. … Diesmal müssen wir sie drankriegen. … Dies ist das große Spiel, das wir zu bestreiten haben, und dabei müssen wir uns jeglicher Tricks bedienen, die wir im Sport gelernt haben.« Selbst Baron de Coubertin vernahm den Ruf und schloss sich wieder der französischen Armee an. Für die Dauer des Krieges legte er sein Amt als Präsident des IOC nieder, mit der Begründung: »Ich hielt es nicht für richtig, würde unser Komitee von einem Soldaten geleitet werden.«

Coubertin, damals bereits 61 Jahre alt, kam nicht an die Front, aber unter den Millionen von Offizieren und Männern, die in den verschiedenen Armeen dienten, waren zwangsläufig auch einige Olympioniken zu finden. Somit zählte die Auffassung vom Sport als internationaler Friedensstifter zu den ersten Opfern des Krieges. Ihm sollten noch viele weitere folgen. Mehr als zwei Dutzend ehemalige Teilnehmer der Tour de France kamen um, ebenso über 100 Olympia-Athleten. Großbritannien allein verlor 34 erstklassige Cricketspieler, 27 englische Rugby-Auswahlspieler, Hunderte professionelle Fußballer und mehr als 40 Olympioniken. Nur ein Tropfen in dem Ozean aus Blut, ein Bruchteil der fast 890.000 britischen Kriegstoten, der 1,3 Millionen Franzosen, 1,7 Millionen Deutschen und 15 Millionen, die auf der ganzen Welt ums Leben kamen, aber auf seine Weise repräsentativ.

Als das IOC Anfang 1919 erstmals wieder zusammentrat, wirkten seine zentralen politischen Forderungen fadenscheinig, und seine sportliche Kernklientel – die privilegierte männliche Jugend Europas und Nordamerikas – war dezimiert worden. Die britische Armee hatte 13 Prozent ihrer Rekruten und 20 Prozent ihrer Offiziere verloren, außerdem waren 28 Prozent der Oxbridge-Absolventen von 1910 bis 1914 – das Rückgrat des britischen Olympismus – umgekommen. Mit einer gewissen Besorgnis konnten Coubertin und das IOC verkünden, dass die Spiele 1920 wieder aufgenommen und in Antwerpen stattfinden würden, doch zeichnete sich bereits ab, dass die Welt, in der das IOC agierte, sich für immer verändert hatte und dass das Monopol, das es einst auf internationale Sportfeste innehatte, durchbrochen werden würde. Im Laufe des folgenden Jahrzehnts sah sich die olympische Bewegung ideologisch wie auch institutionell zahlreichen Angriffen ausgesetzt.

Hatte einerseits der Krieg selbst die olympische Bewegung massiv geschwächt, brachten die politischen und kulturellen Auswirkungen des Konflikts neue und mächtigere Alternativen und Gegenspieler hervor. Allen voran wurde die politische und kulturelle Landschaft in der industrialisierten Welt durch die Russische Revolution und das zaghafte Aufkommen des allgemeinen Wahlrechts transformiert. Überall bekamen traditionelle politische und soziale Hierarchien Risse. Die Arbeiter stellten die Vorherrschaft des Kapitals infrage, Frauen die der Männer. Massenkultur und neue Kommunikationstechnologien bedrohten die Hochkultur. Dies alles hatte auch eine sportliche Dimension. Die Arbeitersportbewegung in Europa wurde rasch größer und ehrgeiziger und richtete in den 1920er Jahren die erste Arbeiterolympiade aus, die in ihren Ausmaßen alles übertraf, was das IOC bis dahin auf die Beine gestellt hatte.

Frauen und auch Gehörlose, aus medizinischen und ideologischen Gründen von den etablierten Sportorganisationen lange ausgeschlossen, begannen, eigene internationale Verbände und Wettkämpfe zu organisieren und trotzten, zumindest was die Frauen betraf, dem ansonsten unnachgiebig konservativen IOC einige Konzessionen ab. Doch nicht nur progressive Strömungen und ausgegrenzte Minderheiten sorgten für eine Politisierung des Sports. Auch religiöse Sportverbände, sowohl katholische als auch protestantische, wuchsen in den 1920er Jahren kontinuierlich, während gleichzeitig der hypernationalistische Sport der Vorkriegszeit in faschistischem Gewand wiederbelebt wurde, zunächst in der italienischen, dann in der deutschen Ausprägung.

Während diese sozialen Bewegungen das IOC auf seinem eigenen Terrain herausforderten, indem sie dessen Zeremonien imitierten und Misstrauen gegenüber dem Kommerz teilten, bedrohte der damals aufblühende professionelle Sport die Olympischen Spiele auf ganz anderem Gebiet. In der Zwischenkriegszeit entwickelten sich insbesondere der amerikanische Baseball und der englische Fußball zu populären, kommerziellen Zuschauerspektakeln. Individuelle Stars und ihre Agenten verfielen auf immer neue Möglichkeiten, aus ihrem sportlichen Können Kapital zu schlagen, wie z. B. Werbeverträge, Schaukämpfe und Biografien. Das IOC trotzte weiterhin dem Vormarsch der Profis und schloss, wenn nötig, führende Sportler von den Spielen aus. Und schließlich wurde die eurozentrische Welt des IOC, und mit ihr die zugrunde liegenden imperialen Theorien rassischer Überlegenheit, denen die weiße Sport-elite sich verschrieben hatte, von einer neuen Generation von Athleten aus den Peripherien und Kolonien infrage gestellt. In den 1920er Jahren schickten erstmals China und die Philippinen Mannschaften zu den Olympischen Spielen, und die Japaner gewannen ihre ersten Medaillen. Ägypten nahm auch nach der Befreiung von direkter kolonialer Kontrolle wieder teil. Indien, wo die Unabhängigkeitsbewegung an Kraft gewann, wurde bei den Spielen eine eigenständige Identität zugestanden und erteilte dem kolonialen Mutterland in Form seiner Hockey-Mannschaft eine Lektion. Lateinamerikanischer Fußball verzauberte die Zuschauer bei den Spielen, und allen voran die Männer aus Uruguay zelebrierten Spielarten des Sports und der Maskulinität, die im krassen Widerspruch zur steifen Förmlichkeit und verklemmten Sexualität englischer Privatschulen und europäischer Offiziersmessen standen.

Trotz so vielfältiger ideologischer und politischer Herausforderungen blieben die Olympischen Spiele das herausragende globale Sportspektakel. Die olympische Bewegung konnte zwar von der außerordentlichen Energie der Volksmassen oder der flächendeckenden Berichterstattung, die den neuen Stars des Profisports zuteilwurde, nur träumen. Doch sie verlegte sich stattdessen auf neue Rituale und Symbole, Traditionen, Zeremonien und architektonische Statements, die den Spielen Gravitas, wenn nicht sogar Magie verliehen. Das IOC erwies sich zudem als überraschend geschmeidig darin, seine Philosophie des Olympismus dem Wandel der Zeiten anzupassen: Winterspiele und Frauensport wurden, zu den Bedingungen des IOC, ins Programm aufgenommen. Obwohl noch immer ein kleines Netzwerk, war es als Institution gefestigt genug, um den Stabwechsel von Coubertin, der sein Amt 1924 endgültig niederlegte, zum Belgier Graf Henri de Baillet-Latour zu bewältigen. Dem IOC gelang es außerdem, seine Herrschaft über die aufstrebenden internationalen Sportverbände zu behaupten und mit der Vergabe der Spiele 1932 und 1936 an Los Angeles und Berlin seine eigene Zukunft zu sichern. Doch bevor die Spiele sich der Zukunft zuwenden konnten, muss-ten sie sich zunächst mit der unmittelbaren Vergangenheit auseinandersetzen.

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