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SIEBEN

Man fragt sich, wie lange genau Coubertins olympische Schwärmerei eigentlich anhielt. Er wird noch nicht lange wieder in Frankreich gewesen sein, als er die Nachricht von den chaotischen Zuständen erhielt, die in Athen herrschten. Das Komitee, deren Mitglieder den Spielen zum Teil nicht nur skeptisch, sondern mit offener Ablehnung gegenüberstanden, warf einen Blick auf das Budget und trat, offenbar verzweifelt angesichts der scheinbar unlösbaren Aufgabe, geschlossen zurück. Im Parlament machte sich die Opposition für die Spiele als eine Sache der nationalen Ehre stark und rief Ministerpräsident Trikoupis um seine Unterstützung an, aber vergebens. Ein Abgeordneter klagte: »Heute glaubt die ganze Welt, dass die Olympischen Spiele in Griechenland stattfinden werden; während die Augen der gesamten zivilisierten Welt mit Neugier und Interesse auf uns gerichtet sind – die Nachfahren derer, die die Olympischen Spiele begründet haben –, arbeitet die eigene Regierung dagegen an, das Olympische Komitee verliert allen Mut, und das Organisationskomitee ist so weit, Selbstmord zu begehen.«1

In dieses Vakuum hinein schritt das Könighaus, allen voran König Konstantin. Er setzte ein neues Organisationskomitee ein, das er selbst leitete, mobilisierte die persönlichen Netzwerke der Monarchie, löste ein paar Gefälligkeiten ein und begann mit den Vorbereitungen. Neben einigen öffentlichen Spenden sicherte er dem Komitee eine enorme Schenkung von Georgios Averoff, einem reichen griechischen Unternehmer, der in Alexandria lebte und bereits eine ganze Reihe öffentlicher Projekte und Nationaldenkmäler finanziert hatte. Dank einer Spende von fast einer Million Drachmen konnte das antike Panathinaiko-Stadion, das für die Olympien der vorigen Jahre teilrenoviert worden war, vollständig neu errichtet und in Marmor ausgekleidet werden. Für seinen Einsatz bekam Averoff eine eigene Statue vor dem Stadion. Nach dem Sturz der Regierung Trikoupis im Jahr 1895 erhielt das Komitee von der eher olympiafreundlich gesinnten Nachfolgeregierung umfangreiche Darlehen, die groß genug waren, um mit dem Bau eines neues Velodroms und einer Schießanlage zu beginnen, gesichert durch Ticketverkäufe und die Herausgabe von Gedenkbriefmarken.

Die letzten Monate der Vorbereitung waren von vielen der Kapriolen begleitet, die auch heute noch die olympische Berichterstattung kennzeichnen. Hartnäckig hielten sich Gerüchte, das Stadion und andere Anlagen würden nicht rechtzeitig fertig, was zu einem fieberhaften Briefwechsel in der Times führte. Ausländische Journalisten, wie dieser Korrespondent der New York Times, reisten an, um vor Ort im Dreck zu wühlen: »Reichlich alte Blechdosen und Unrat lagen verstreut, wo einst der silberne Odysseus aufs Meer hinaus strahlte: Der Hain der Platonischen Akademie erinnerte mich an pittoreske Ansichten eines Elendsviertels.«2 Die Enthusiasten und Förderer hingegen waren voll des Lobes, wie auch Coubertin in seinem beschwingten Brief aus Athen, der vor den Spielen veröffentlicht wurde: »Überall polieren die Menschen den Marmor, bringen neuen Putz auf und frische Farbe; sie pflastern, säubern, schmücken … Jeden Abend gegen fünf Uhr kommen die Bürger her, um einen anerkennenden Blick auf die Arbeit zu werfen, die am Stadion verrichtet wird.«

Augenzeugenberichte lassen darauf schließen, dass in ganz Athen große Vorfreude herrschte. Die Spiele begannen, so wie Panagiotis Soutsos es ein halbes Jahrhundert zuvor gefordert hatte, am griechischen Unabhängigkeitstag. In der Stadt wimmelte es von Besuchern, deren »polyglotte Sprachverwirrung beinahe einem Babel gleichkam«, während die Menge sich um Eintrittskarten für die Eröffnungsfeier balgte; die Schätzungen schwanken zwischen 50.000 und 70.000 Zuschauern. Der Autor Anninos erinnerte sich an den Moment: »Die verschiedenen Aufmachungen der Damen, ihre vielfältigen Frisuren, die Bewegungen ihrer Fächer inmitten der schwarze Masse mehrerer Tausend Zuschauer, die glänzenden Uniformen und die Federbüsche der Offiziere, die markanten Farben der wallenden Fahnen, der rege Halbkreis der Zuschauer, die, ohne Eintrittskarten, die Hügel rund um das Stadion besetzten, ergaben einen höchst eigentümlichen und imposanten Gesamteindruck.«3

Die Ankunft der königlichen Entourage signalisierte den Beginn der offiziellen Feierlichkeiten. Der Kronprinz hieß den König willkommen. Der König eröffnete die Spiele, und die Kapelle stimmte die olympische Hymne an. »Die Stille, die der beeindruckenden Darbietung folgte, zeugte von gespannter Erwartung; die Olympischen Spiele standen kurz davor, nach einer Unterbrechung von mehreren Hundert Jahren, wiederaufzuerstehen. Unvermittelt erklangen die klaren, durchdringenden Stöße eines Horns, und aus dem antiken Tunnel … erschienen die Teilnehmer des ersten Wettbewerbs.«4

Im Laufe der nächsten zwei Wochen maßen sich 241 Athleten in 43 Wettbewerben in neun verschiedenen Disziplinen: ein kleiner, aber aufschlussreicher Querschnitt der urbanen Eliten der industrialisierten Welt und ihrer Sportkultur. Sie waren natürlich ausschließ-lich Männer und, mit Ausnahme der glattrasierten amerikanischen College-Boys, trugen sie alle den typischen gewichsten Schnurrbart der jungen Sprösslinge des Großbürgertums und der Aristokratie, den die aufstrebende Mittelklasse nachäffte. Sie waren außerdem samt und sonders weiße Europäer oder Nordamerikaner europäischer Herkunft. Das Nationale Olympische Komitee Chiles pocht zwar weiterhin darauf, dass Luis Subercaseaux Errázuriz, der damals in Frankreich zur Schule ging und später als Botschafter im Vatikan und reiselustiger Diplomat fungierte, in den Vorläufen über 100 m, 800 m und 1.500 m angetreten sei, was aber niemand, auch nicht das IOC, bestätigen mag. Die griechische Mannschaft speiste sich aus der gesamten Diaspora, wobei die Auswahl eher auf Ethnizität denn auf tatsächlicher Staatsangehörigkeit basierte, mit Athleten aus Ägypten, Anatolien und Zypern, das damals Teil des Britischen Empire war. Die Bulgaren versuchten, den Schützen Charles Champaud als einen der ihren zu deklarieren, aber er war zweifelsfrei ein Lehrer aus der Schweiz.

Wenngleich einige wenige Athleten aus eher bescheidenen griechischen Familienverhältnissen stammten, traf das für die große Mehrheit nicht zu. Unter den Medaillengewinnern im Schießen waren Pantelis Karasevdas und Ioannis Frangoudis, damals junge Kadetten, die zu ranghohen Offizieren in der griechischen Armee heranwuchsen. Charilaos Vasilakos, ein Jurastudent und Marathonläufer, stieg bis an die Spitze des öffentlichen Dienstes auf, während die Fechter Ioannis Georgiadis und Periklis Pierrakos-Mavromichalis Karriere als führender Toxikologie-Professor des Landes bzw. Minister des Inneren machten. Die Amerikaner, die nach Athen kamen, waren ebenso blaublütig, die meisten von ihnen waren Studenten aus Harvard, Princeton oder dem exklusiven Boston Athletic Club. Die Ungarn, Österreicher und Deutschen waren überwiegend Männer aus der gehobenen Mittelschicht, darunter viele jüdische Athleten wie der ungarische Schwimmchampion und spätere Architekt Alfréd Hajós oder die österreichischen Schwimmer Otto Herschmann, seines Zeichens Anwalt, und Paul Neumann, der später Medizin studierte. Die Deutschen, alle voran die Turner, kamen gegen den ausdrücklichen Willen des ultranationalistischen Deutschen Turnerbunds, des obersten Wächters der deutschen Version modernen Sports. Er erachtete die Spiele als so alarmierend undeutsch und kosmopolitisch, dass er seinen Mitgliedern unter Androhung des Ausschlusses die Teilnahme untersagte.

Das britische Aufgebot war klein und bestand aus nur sechs Athleten – eine Folge der hochmütigen Indifferenz des Sportestablishments gegenüber Coubertins Projekt und des »selbstmörderischen Grundsatzes der Veranstalter, den Athleten vom Kontinent größere Beachtung zu schenken«, wie G. S. Robertson, frischgebackener Oxford-Absolvent und Hammerwerfer, es formulierte.5 In Abwesenheit des Kerns der britischen Sportelite – die Studenten aus Oxford und Cambridge, die Streitkräfte und die Klubs aus London – hatte die britische Delegation ein eher imperiales Flair, und die Teilnehmer stammten hauptsächlich aus den Kolonien. Charles Gmelin, Sprinter aus Oxford, wurde in Bengalen als Kind christlicher Missionare geboren. Sein Kommilitone John Boland, Sohn eines irischen Geschäftsmanns und später Parlamentarier der irischen Nationalisten in Westminster, gewann das Tennisturnier im Herreneinzel. Launceston Elliot, der sich im Gewichtheben und Ringen versuchte, kam in Indien zur Welt und entstammte einer schottischen Adelsfamilie, die viele imperiale Ämter bekleidet hatte. Gesellschaftlich weiter unten arbeitete der Mittelstreckenläufer Edwin Flack für das Steuerbüro seines Vaters in Australien. Auf der untersten Stufe standen die britischen Radfahrer Edward Battell und Frederick Keeping, aus Irland bzw. England, die beide dem Hauspersonal der britischen Botschaft in Athen angehörten, eine Beschäftigung, die dem Professionalismus so gefährlich nah war, dass das Organisationskomitee mit dem Gedanken spielte, sie von den Spielen auszuschließen.

Der Italiener Carlo Airoldi wurde tatsächlich ausgeschlossen. Ein bekannter und erfolgreicher Langstreckenläufer in Italien und Frankreich, hatte er 1895 das ungeheuer lange und prestigeträchtige Etappenrennen Mailand–Barcelona gewonnen. Selbst nicht auf Rosen gebettet, plante Airoldi, die Reise nach Athen zu finanzieren, indem er einen Großteil der Strecke joggend und mit Unterstützung des italienischen Sportmagazins La Bicicletta zurücklegte. Airoldi kam bis Dubrovnik, nahm ein Schiff nach Patras und erreichte nach einer weiteren strapaziösen Woche entlang der Bahnschienen schließlich Athen. Er versuchte, sich für den Marathon einzuschreiben, aber wegen seines gesponserten Laufs und des Preisgelds, das er im Vorjahr gewonnen hatte, wurde er als Profi und damit nicht teilnahmeberechtigt eingestuft. Damit blieb Giuseppe Rivabella, ein Ingenieur und Schütze, der damals auf Samos lebte, der einzige Vertreter seiner Nation bei den Spielen.

In dieser Welt der Gentlemen-Amateure, ohne die hochgradige Spezialisierung, die den heutigen rationalisierten und kommerziellen Sport kennzeichnet, konnten viele Athleten nicht nur in mehreren Wettbewerben antreten, sondern sogar in mehreren Disziplinen. Der österreichische Fechter Adolf Schmal gewann das Zwölf-Stunden-Radrennen; der Deutsche Carl Schuhmann siegte sowohl im Turnen als auch im Ringen. Der Däne Viggo Jensen versuchte sich im Gewichtheben, Schießen, Turnen und Kugelstoßen. Jeder Edelmann, der zufällig gerade in der Stadt war, konnte ungeachtet seiner sportlichen Erfahrung mit von der Partie sein. John Boland, der Tennisspieler, war von einem griechischen Kommilitonen in Oxford nach Athen eingeladen worden und meldete sich erst bei seiner Ankunft zu den Spielen an. An den Schießwettbewerben nahmen griechische Studenten teil, für die diese Disziplin absolutes Neuland war. Und scheinbar aus einer Laune heraus meldeten sich auch Charles Waldstein, Coubertins amerikanischer Vertrauter, und Anastasios Metaxas, der griechische Architekt, der den Neubau des Panathinaiko-Stadions betreut hatte, an.

Nicht auf dem Programm standen die enorm erfolgreichen, aber inzwischen immer mehr professionalisierten und kommerzialisierten Sportarten der industriellen Welt: Fußball und Cricket, Boxen und Pferderennen, das amerikanische Baseball – sie alle fehlten. Der in Frankreich und den Niederlanden immens populäre Radsport war mit Bahnrennen im neuen Velodrom und einem Straßenrennen vertreten, aber die olympische Konkurrenz stand bereits im Schatten der professionellen Wettbewerbe. Keiner der besten Fahrer war in Athen dabei, sie alle traten wenige Tage später bei der Premiere des Radsportklassikers Paris–Roubaix an.

Wesentlich charakteristischer für Athen 1896 waren Fechten und Schießen – Disziplinen, die von tröstlich elitärem Gebaren geprägt waren. Die Schießwettbewerbe wurden auf der neu erbauten Anlage im noblen Vorort Kallithea ausgetragen und vom Bischof von Cephalonia feierlich eröffnet und gesegnet. Anschließend feuerte Königin Olga ein mit Blumen geschmücktes Gewehr ab. Die Fechtwettbewerbe fanden im Zappeion statt – das erste Mal, dass in Zappas’ grandiosem Gebäude tatsächlich ein sportlicher Wettbewerb stattfand –, unter den wachsamen Augen der königlichen Familie und ihrer royalen Gäste. Auf der Planche waren außerdem die einzigen professionellen Athleten der Spiele zugelassen – denn die Fechtmeister, ohne die Europas aristokratische und militärische Elite diese Kampfkunst nicht erlernen konnte, wurden als Gentlemen erachtet.

Die Teilnehmer der Spiele von 1896 mochten fast ohne Ausnahme Teil einer länderübergreifenden Klasse bürgerlicher Athleten gewesen sein, aber, wie viele Wettbewerbe zeigten, gab es nur wenige festgelegte internationale Standards. Die Regeln und Formate verschiedener Sportarten unterschieden sich erheblich zwischen den Nationen und Sportkulturen. In der Leichtathletik beispielsweise war die Bahn recht unorthodoxe 330 Yards (ca. 302 m) lang und hatte einen sehr engen Kurvenradius, der Vergleiche mit unter anderen Bedingungen ausgetragenen Läufen nahezu unmöglich machte. Anders als bei den meisten anderen Leichtathletikveranstaltungen der damaligen Zeit wurden die Laufwettbewerbe im Uhrzeigersinn absolviert. Auch was technische Fragen anging, tat sich eine gewaltige Kluft auf zwischen amerikanischen Hürdenläufern, die über die Hindernisse laufen konnten, ohne aus dem Tritt zu geraten, und griechischen Anfängern, die springen, stoppen und wieder loslaufen mussten. Ebenso starteten die amerikanischen Sprinter aus der Hocke, der Rest in ineffektiver Weise aus dem Stand.

Besonders planlos ging es beim Schwimmen zu. Da es in Athen keine Schwimmhalle gab, fanden die Wettbewerbe zwischen zwei Bojen in der Bucht von Piräus statt, in einiger Entfernung zur Mole und den wenigen versammelten Zuschauern. Das Wasser war bitterkalt, die Teilnehmer schlugen sich tapfer, aber die Zeiten waren ausgesprochen kläglich. Der Sieger, der Ungar Alfréd Hajós, fror so sehr, dass »mein Streben nach dem Sieg von meinem Überlebenswillen vollkommen überwunden wurde«. Beim Ringen, das unter hastig aufgestellten Regeln durchgeführt wurde, mit denen versucht wurde, die Differenzen zwischen den Kampfstilen verschiedener Nationen zu überbrücken, kam es zu einem Duell, das sich dermaßen in die Länge zog, dass es aufgrund des nachlassenden Lichts abgebrochen und am nächsten Tag zu Ende gebracht werden musste.

Das Gewichtheben gab Anlass zu Kontroversen, als der Brite Launceston Elliot und der Däne Viggo Jensen beim einarmigen Heben einen Gleichstand erzielten, so dass Prinz Georg, der dem Kampfgericht vorstand, den Wettbewerb aufgrund des besseren »Stils« entscheiden musste. Im Turnen lag der Stil ganz im Auge des Betrachters. Bei den Spielen wurde eine dezidiert deutsche Variante des Sports dargeboten, aber als Brite war G. S. Robertson nicht überzeugt davon, dass es sich beim Turnen überhaupt um einen Sport handelte, zumindest keinen, dem die gleiche Anerkennung gebührte wie den Disziplinen der angelsächsischen Welt. »Ein olympischer Kranz ist eine zu kostbare Sache, als dass man ihn für eine gute Haltung beim Hopsen über ein Pferd oder Hinaufklettern eines Seils vergeuden könnte.«6

In einem Bereich erwies sich Athen als innovativ: dem Marathon. Das Rennen war die Erfindung von Michel Bréal, einem französischen Philologen und Gefolgsmann Coubertins, der für seine Idee auf Herodots Darstellung der Schlacht von Marathon um 490 v. Chr. zurückgriff. In dieser Version der Geschichte erkannte die griechische Armee, nachdem sie die persischen Eindringlinge zurückgeschlagen hatte, dass der Feind nun das unverteidigte Athen auf dem Seeweg angreifen könnte, es war also geboten, rasch die Heimreise anzutreten. Bréal schlug ein Rennen vom Schlachtfeld aus nach Athen vor, entlang der Küste und mit Ziel im Panathinaiko-Stadion – eine Strecke von rund 40 Kilometern.

Der Marathon stellte sich als der zentrale Wettkampf der Spiele heraus. Er brachte eine Art mythologischen Helden der Moderne hervor und sorgte für das kollektive Stadionerlebnis, das die Olympischen Spiele von 1896 über das Niveau eines Provinzspektakels oder einer bloßen historischen Kopie hinaushob. Mindestens 80.000 Zuschauer verbrachten einen langen und zunehmend spannenden Nachmittag im Stadion in banger Erwartung der Läufer, über deren Vorankommen sie in regelmäßigen Abständen von berittenen Boten informiert wurden. Der Franzose Albin Lermusiaux führte lange das Feld an, bevor er der Hitze zum Opfer fiel und per Pferdefuhrwerk die Rückreise nach Athen antrat. Danach lag der Australier Flack vorn, aber nachdem er und andere Teilnehmer reihenweise aufgeben mussten, war es schließ-lich ein Grieche, der als Erster ins Stadion einlief: Spyridon Louis.

Die Menge stand kopf. König und Kronprinz stiegen zur Laufbahn hinab, um neben ihm her zu laufen, und als er ins Ziel kam, wurde Louis von Angehörigen der königlichen Entourage und des Organisationskomitees umarmt und geküsst. Coubertin staunte nicht schlecht: »Fürwahr! Die Aufregung und die Begeisterung waren einfach unbeschreiblich. Einer der außergewöhnlichsten Anblicke, derer ich mich erinnern kann. Der Eindruck wird mich stets begleiten.«7 Louis wurde sogleich zum Nationalhelden gekürt, seine zugegebenermaßen bescheidene Herkunft zu der eines kernigen, erdverbundenen Bauern verklärt, dem Fundament der Nation. Allerlei Geschichten von Heiratsanträgen, erwiesenen Ehren und geschenkten Ländereien machten die Runde. Selbst der griechische Satiriker Georgios Souris, der für kaum jemanden schmeichelhafte Worte fand, ließ sich zu einer schlichten patriotischen Lobhudelei hinreißen: »Möge Louis heute die Hymnen des Pindar hören. Lang lebe das Rennen, das Volk und die Krone.«8

Die Schlussfeier, die wegen schlechten Wetters um einen Tag verschoben wurde, hatte etwas von einer ausgelassenen Schulparty, gleichzeitg erwies sie antiken Traditionen – wenn auch erst kürzlich ersonnenen antiken Traditionen – ihre aufrichtige Ehrerbietung. G. S. Robertson brachte sich mit der ganzen Chuzpe und Selbstgefälligkeit, die der herrschenden britischen Klasse auf dem Gipfel ihrer Macht innewohnte, in die Feierlichkeiten ein und trug eine Siegesode an die Spiele selbst vor, die er nach antikem Vorbild und auf Altgriechisch verfasst hatte. Die Athleten wurden von Herolden einzeln angekündigt und erhielten aus den Händen des Königs ihre Preise: Silbermedaillen und Olivenzweige aus dem heiligen Hain in Olympia für die Sieger, Bronzemedaillen und Lorbeerzweige für die Zweitplatzierten. Spyridon Louis erhielt seinen ganz eigenen, von Bréal gestifteten Marathon-Pokal und eine antike griechische Vase, danach gab es Urkunden für alle anderen. Die strenge Kleiderordnung sah schwarze Krawatte und Zylinder vor, außer für Louis, der eine Fustanella trug, den traditionellen Männerrock der griechischen Landbevölkerung. Als er erschien, so ein Beobachter, »erhob sich ein Rumpeln wie Donner von allen Seiten«. Die Sieger machten eine Ehrenrunde durchs Stadion, nahmen den Applaus des Publikums entgegen, und dann erklärte der König die »Ersten Internationalen Olympischen Spiele« für beendet.

Es waren internationale Spiele gewesen, sie wurden aber auch als ausgesprochen griechischer Triumph aufgefasst. Der amerikanische Beobachter Rufus B. Richardson bemerkte ebenso edelmütig wie herablassend: »Es ist ein kleines und armes Königreich, aber, so wie das antike Hellas, reich an guten Eigenschaften der Seele.« Der griechische Historiker Spyridon Lambros verglich die Lage der Nation während der Spiele mit der Zeit politischer Umwälzungen und sozialer Rückständigkeit vor der Einsetzung des herrschenden Königshauses und befand, dass »das Griechenland von 1896 das Griechenland von 1862 weit hinter sich gelassen« habe.

In der Tat fühlte sich die Monarchie dermaßen ermutigt durch den Erfolg der Olympischen Spiele, dass der König, im Rahmen eines Banketts, das während der Spiele für alle Athleten und ausländischen Würdenträger abgehalten wurde, sich fragte, ob man »unser Land als friedlichen Treffpunkt der Nationen, als beständigen und permanenten Schauplatz der Olympischen Spiele einsetzen« sollte. In seinen Memoiren schrieb Coubertin dazu säuerlich: »Ich beschloss, den Einfaltspinsel zu spielen, einen Mann, der nichts verstand. Ich beschloss, die Rede des Königs zu ignorieren.«9 Ebenso pikiert reagierte er angesichts des Versäumnisses seitens des Königshauses oder der Presse, seine Rolle bei der Wiederbelebung der Spiele angemessen zu würdigen: »Mir ist einerlei, was die griechischen Zeitungen über mich schreiben. Wenn es um Undank geht, trägt Griechenland leicht den Sieg davon … Ihr bekamt alle eure Zweige – selbst Mr. Robertson – im vollen Stadion aus den Händen des Königs. Ich bin der Einzige, dessen Name, wenn überhaupt, nur hinter vorgehaltener Hand genannt wurde.«10

Das internationale Publikum war ungemein beeindruckt. Die meisten befanden, dass die Spiele etwas eingefangen hätten, was sie als die Herrlichkeiten der Antike erachteten. G. S. Robertson meinte, ihr Erfolg läge im »Triumph des Gefühls, der Verbundenheit, der Auszeichnung, der einzigartigen Pracht« begründet. Rufus B. Richardson war »beinahe überzeugt, dass die alten Zeiten zurückgekehrt waren, als es nichts Ernsthafteres zu tun gab, als zu überlaufen, zu überlisten und zu überwältigen«. Der Sieger im Hochsprung, Ellery Clark, der die Chance hatte, die Spiele von Athen mit späteren Austragungen zu vergleichen, an denen er teilnahm, schrieb, dass »nichts der ersten Neuauflage gleichkam. Der Duft des athenischen Bodens, der unbestimmbare poetische Reiz, dadurch gleichsam mit der Vergangenheit verbunden zu sein, ein Nachfahre der großen heroischen Gestalten vergangener Tage – der vortreffliche Sportsgeist des ganzen Unterfangens.«

Charles Waldstein erklärte die Spiele, wie von einem langjährigen Befürworter des Projekts wohl nicht anders zu erwarten, zu »einem gewaltigen Erfolg«. Doch am ehesten lässt sich ermessen, wie viel Eindruck die Spiele machten – zumindest bei denen, die dabei waren –, wenn man sich die Reaktionen früherer Skeptiker wie G. S. Robertson anschaut: »Allen, die die Vorbereitungen zur Wiederbelebung der Olympischen Spiele aufmerksam verfolgt hat-ten, erschien es gewiss, dass die Spiele ein verheerender Misserfolg würden. Dies war nicht der Fall, wenngleich der Charakter des erreichten Erfolges wohl kaum den Erwartungen der Befürworter entsprochen haben wird.«11 Aber wie bei fast jedem Projekt – mochte ihm auch ein wunderbarer Anfang vergönnt gewesen sein – bestand die eigentliche Herausforderung darin, das Ganze zu wiederholen.

Die Spiele

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