Читать книгу Die Spiele - David Goldblatt - Страница 22
ОглавлениеDREI
Die Olympischen Spiele von Antwerpen waren gewiss nicht als Leichenspiele geplant worden, aber genau dazu wurden sie. Als nach der kriegsbedingten Pause im April 1919 der Entschluss bekräftigt wurde, die Spiele 1920 durchzuführen, waren sich sowohl das IOC als auch die belgischen Veranstalter darüber im Klaren, dass ihnen logistisch und politisch eine schwere Aufgabe bevorstand. Coubertin hoffte, dass Belgien »Glück beschieden [sei] für seine große und tapfere Geste«, und war insgeheim sicher erleichtert, dass die heikle Frage, wer zu den Spielen eingeladen würde und wer nicht, vom IOC auf die heimischen Veranstalter übertragen worden war. Die geschlagenen Mittelmächte, nun auf bloße Nationalstaaten zurechtgestutzt – Deutschland, Türkei, Ungarn und Österreich –, waren nicht geladen, ebenso Russland, das von seinem Bürgerkrieg verzehrt wurde. Die Ressentiments gegen die Deutschen waren so stark, dass der schwedischen Eiskunstläuferin Magda Julin untersagt wurde, zur Musik von Johann Strauss’ Donauwalzer zu laufen, weil sie zu teutonisch sei.1
Die Spiele waren 1913 an Antwerpen vergeben worden, als die Welt noch eine andere war.2 Beim IOC-Kongress in Paris hatte sich die Stadt gegen Rom, Budapest und Amsterdam durchgesetzt, wobei die Bewerbung von einer selbstbewussten Koalition aus Antwerpens bürgerlichen Sportsmännern und den finanziellen und politischen Kreisen, in denen sie verkehrten, unterstützt wurde. Der edel aufgemachte und aufwendig illustrierte Stadtführer, der Hauptbestandteil der Bewerbung, dachte sich die Spiele als eine Feier der schönen Künste, des Sports und des Handels. Antwerpens Elite sah sie außerdem als nützliches Instrument, um die Geschäfte in der Hafenstadt anzukurbeln, die außerdem das Zentrum des weltweiten Diamantenhandels war. Der Sport stand im Zentrum des bürgerlichen Gesellschaftslebens in Antwerpen. Ein Haupttreffpunkt war der Beerschot Club im vornehmen Vorort Kiel, der geplanten Stätte des zukünftigen Olympiastadions. Der Klub selbst war von Alfred Grisar gegründet worden, Antwerpens typischen sportaffinen Dandy der Belle Époque. Spross einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie, war Grisar ein exzellenter Fußballer, Leichtathlet und Polospieler. Tontaubenschießen soll er angeblich geübt haben, indem er die Fußballspieler von Beerschot aufforderte, hohe Abschläge zu treten, die er vom Himmel ballerte. Als der Klubverwalter klagte, er würde sämtliche Bälle des Klubs kaputtschießen, antwortete Grisar: »Keine Sorge; setzen Sie alles auf meine Rechnung.«
Da die Organisatoren nur ein Jahr Zeit hatten, um alles auf die Beine zu stellen, und die finanziellen Mittel nach vier Jahren Krieg und Okkupation knapp bemessen waren, waren die Spiele in Antwerpen ein wenig notdürftig und provisorisch. Die 2.600 Teilnehmer und deren Trainer unterzubringen war ein logistischer Albtraum. Das Rote Kreuz und die belgische Armee, die Mobiliar, Betten und sonstige Ausrüstung bereitstellen sollten, hatten alle Hände voll zu tun mit der gigantischen Flüchtlingskrise auf dem Kontinent, so dass das Komitee letztlich gezwungen war, selbst für alles aufzukommen. Die holländische Mannschaft musste mit einem beengten Boot im Hafen vorliebnehmen, die meisten Schützen wurden in Kasernen untergebracht, und billige Hotels wurden für Athleten in Beschlag genommen, während die hohen Tiere der Nationalen Olympischen Komitees sich die besten Unterkünfte herauspickten. Die endgültigen Statuten und Zeitpläne wurden spät verschickt, und das Stadion erst wenige Tage vor der Eröffnung fertiggestellt. Doch am 14. August 1920 erschien König Albert zum Klang von 200 Hörnern neben Baron de Coubertin im nun umgetauften Olympiastadion. Neben den üblichen Hymnen, Kanonenschüssen und Chören hatte die olympische Flagge mit den fünf verschränkten Ringen ihren ersten öffentlichen Auftritt. Zum ersten Mal wurde der olympische Eid geschworen – bei dieser Gelegenheit vom schneidigen belgischen Fechter Victor Boin.
De Standaard schrieb über die Feier: »Die Haupttribüne ist voll, aber die Ränge sind vorwiegend leer.« Les Sports äußerte sich ähnlich: »Das ist alles ganz nett …, aber freilich fehlen Menschen.« Das gleiche Problem war schon ein paar Monate zuvor bei den belgischen Vorausscheidungen ersichtlich gewesen: »Das Stadion war fast vollständig leer. Die Leichtathletik verpasste somit eine einmalige Gelegenheit, unter den ›einfachen Leuten‹ eine höhere Wertschätzung zu erlangen.«3 Zum Teil lag es an fehlender Reklame. In einem Bericht zum Eröffnungsspiel des Eishockey-Turniers hieß es: »Freitagabend um neun Uhr sollten anscheinend die Olympischen Spiele beginnen. Wie viele Bürger von Antwerpen wussten überhaupt davon? Wegen der Papierknappheit sah man nur sehr wenige Plakate an unseren Mauern.«
Auch die Tickets waren für viele der minderbemittelten Bürger der Stadt unerschwinglich; 5.000 Francs wollten die Händler für eine Karte fürs Eiskunstlaufen haben. Bahnradfahren, das in der Arbeiterschaft viele Anhänger hatte, wurde ignoriert. »Als die Bahnwettbewerbe stattfanden, war der Eintrittspreis fürs Stadion viel zu hoch für die Arbeiterklasse. … Es war keine Menschenseele da. … Vor einer Stunde verließ eine Handvoll Zuschauer das Velodrom, und damit waren die olympischen Bahnwettbewerbe vorbei.«4 Die Straßenrennen waren ähnlich schlecht besucht, im krassen Gegensatz zu den ausgelassenen Feierlichkeiten, mit denen wenige Wochen später der belgische Tour-de-France-Sieger Philippe Thys in Anderlecht begrüßt werden sollte. Selbst als die Veranstalter nach einer Woche Freikarten an Kriegsversehrte und Schulkinder verteilten, und kurz darauf auch an alle anderen, mochten die Leute nicht kommen.
Auch das Wetter hatte es nicht besonders gut gemeint. Tatsächlich war es die ganzen Spiele hindurch miserabel. Im offiziellen Bericht hieß es, »die Laufbahn blieb trotz der ext-rem feuchten Witterung in hervorragendem Zustand«, aber der britische Olympionike Philip Noel-Baker bescheinigte ihr eine »bedenkliche Verfassung« und »mittelmäßige Eignung«. De Standaard meinte verdrießlich: »Der erbarmungslose Regen hat bereits sämtliche Festivitäten in Antwerpen in den letzten vier Tagen verdorben und beginnt unsere Olympiade sehr zu beeinträchtigen.«
Streng genommen fanden in Antwerpen zwei separate Olympische Spiele statt: die frankophonen, bürgerlichen Spiele rund um das Stadion von Beerschot und die volkstümlichen, die sich anderswo abspielten und aus Boxen und Fußball bestanden. Die belgische Gesellschaft war nach Klasse, Religion und Sprache tief gespalten. Dies galt sowohl im Sport als auch in der Politik. Turnen, die älteste organisierte Sportart des Landes, teilte sich in drei eigenständige Verbände: eine frankophon-bürgerliche Organisation, einen Arbeiterverband und einen katholischen Verband. Dass sie in der Lage waren, bei einer Schauveranstaltung im Olympiastadion gemeinsam aufzutreten, wurde als politisch beachtlich erachtet. Am rechten Rand organisierten flämische Nationalisten Widerstand gegen die wirtschaftliche, sprachliche und politische Vorherrschaft der frankophonen Wallonen, indem sie eigene Sportklubs gründeten. Das war mehr als ein bloßer Subtext zu den Spielen. Nur einen Monat vor Beginn der Olympischen Spiele hatte die Antwerpener Polizei bei einem nationalistischen Umzug den Studenten Herman van den Reeck erschossen; wochenlange Proteste und Kundgebungen waren die Folge gewesen.
Die wenigen, die in die Stadien gingen, erlebten in der Leichtathletik und im Schwimmen eine Dominanz der Amerikaner. Coubertin würdigte das neu erbaute Stade Nautique als »das Beste, das die Olympischen Spiele bis dahin zustande gebracht hatten«, für die Sport Revue war es schlichtweg die »schönste Freiluft-Schwimmanlage der Welt«. Die Amerikaner jedoch – deren Unzufriedenheit mit europäischen Anlagen und Nahrungsmitteln ein wiederkehrendes Thema bei den Spielen der 1920er Jahre war – waren entsetzt und bezeichneten es als »einen Graben mit einem Damm, gefüllt mit schwarzem kaltem Wasser«. Um sich warm zu halten, griffen sie auf Wollsachen, Schals, Wärmflaschen und Massagen zurück. In der Leichtathletik erwiesen sich die Finnen als echte Macht über die Langdistanzen. Hannes Kolehmainen gewann den Marathon, während der 23-jährige Paavo Nurmi Gold über 10.000 m, im 8.000-m-Geländelauf im Einzel und mit der Mannschaft sowie Silber über 5.000 m holte. Tennis wurde im Beerschot Tennis Club ausgetragen, in einem exklusiven sportlichen und gesellschaftlichen Umfeld, wo sich sonst der lokale Mittelstand tummelte.
Fechten, in Belgien fast ausschließlich ein Zeitvertreib der Aristokratie, sollte ursprünglich in den Gärten des Egmont-Palasts in Brüssel stattfinden, wurde dann aber in einen kolonialen Messesaal im Antwerpener Middelheimpark verlegt. So oder so eine angemessene Örtlichkeit. Der große Star war der unvergleichliche Italiener Nedo Nadi, der fünf Medaillen gewann. Ostende war Schauplatz des Polo-Turniers, bei dem die amerikanischen und britischen Teams ausschließlich aus Offizieren bestanden, die Spanier bis auf den letzten Mann blaublütige Aristokraten waren und die Belgier aus den Reihen des Großbürgertums stammten. Eine ähnliche soziale Mischung herrschte auch im Pferdesport, Modernen Fünfkampf und beim Schießen vor.
Was die Klassenzugehörigkeit anging, war Rudern bei den Spielen von 1920 ein Grenzbereich. Der Sport selbst war gespalten zwischen den Gentlemen-Amateuren der Eliteuniversitäten und Privatklubs einerseits und einer Arbeitertradition aus Bootswettrennen, Geldpreisen, Uferfesten und Glücksspiel andererseits. Es war ein Konflikt, der dem Rennen im Ruder-Einer besondere Bedeutung verlieh. Darin traf der amerikanische Maurer John B. Kelly auf den britischen Fabrikantensohn und Armeeoffizier Jack Beresford. Die soziale Kluft zwischen den beiden Favoriten auf Gold war zu einem früheren Zeitpunkt in der Saison zutage getreten, als Kelly von der prestigeträchtigen Henley-Ruderregatta ausgeschlossen wurde, da die Richtlinien des britischen Amateurruderverbands die Teilnahme von Handwerkern untersagten – ein Makel, der auf Beresford gewiss nicht zutraf.
Diesmal würde das Duell zwischen den beiden nicht an dem von Bäumen und gemähten Wiesen gesäumten Ufer der Themse stattfinden, sondern auf dem Canal de Willebroek in der Nähe von Brüssel, einem trüben Abwasserlauf mit Blick auf Staubecken, Öltanks und schmutzige Fabrikmauern. Coubertin sprach von »einem Ort, der so grässlich war, dass keinerlei Versuche unternommen wurden, seine Scheußlichkeit zu verbergen«. Kelly holte die Goldmedaille und danach noch eine weitere im Doppelzweier. Auch im Achter – der prestigeträchtigsten Entscheidung, bei der üblicherweise die Besatzungen der Eliteschulen unter sich waren – triumphierten die Amerikaner, mit einer Mannschaft disziplinierter Marinesoldaten und einer ansehnlichen Begleitcrew aus Ersatzruderern, Ärzten, Köchen und Masseuren. Beresford erachtete ihre Methoden als »eine Offenbarung … sie waren prachtvolle Männer«.5 Das Zeitalter der Gentleman-Amateure sah sich den Angriffen sowohl der niederen Stände als auch des skrupellosen Rationalismus der Staatsbürokratie ausgesetzt.
Ohne jeden Sinn für Ironie konstatierte der offizielle Bericht zu den Spielen, dass »der große Zoologie-Saal besonders angemessen ist für das Boxen und Ringen«. In jedem Fall waren es die Sportarten, die am ehesten eine raue lokale Klientel anlocken würden. Zwischenzeitlich war die Nachfrage nach Eintrittskarten so groß, dass sich die Zooleitung und die dicht gedrängte Reihe der Tierpfleger einschalten mussten, um die Menge zu bändigen. Als Hafenstadt mit einschlägigen Vierteln konnte Antwerpen auf eine lange Tradition harter Männer und einheimischer Champions in beiden Sportarten verweisen, aber da die besten im Profizirkus unterwegs waren, lieferten die verbliebenen Lokalmatadore eine erbärmliche Vorstellung ab. Die Sport Revue nahm die Sportler in Schutz: »Wir haben erst seit Kurzem wieder Weißbrot und Kohle und all die anderen Dinge, die erforderlich sind, um unsere körperliche Konstitution zu stärken.« Ein Mitglied der finnischen Delegation äußerte sich bemerkenswert unverblümt: »Eure Rassen, von Krieg und Alkohol verschandelt, sind der unseren weit unterlegen. Ihnen fehlt Durchhaltevermögen, sie kleiden sich zu warm, obwohl sie in einem recht milden Land leben.«6
In zwei anderen populären Sportarten, Bogenschießen und Gewichtheben, waren aber auch einige Erfolge zu verzeichnen, vor allem für das flämische Antwerpen: Hubert Van Innis gewann viermal Gold und zweimal Silber im Bogenschießen, u. a. in der örtlichen Kuriosität Vogelschießen, bei dem statt auf ferne Ziele auf gefiederte Holzvögel auf einer hohen Stange geschossen wurde. Im Gewichtheben holte Frans De Haes Gold im Federgewicht und wurde gerühmt als »dieses wahre Kind Antwerpens, dieser unverfälschte seijnoor«. Selbst Mitglied der rechtsnationalen Frontpartij, geriet De Haes’ Triumph zu einer öffentlichen und politischen Feier des flämischen Separatismus.7
Keine dieser Sportarten konnte es aber mit der Popularität des Fußballs aufnehmen. Obwohl ursprünglich ein Spiel der belgischen Oberschicht, die es von ihren Standesgenossen in England oder Gaststudenten gelernt hatte, hatte es sich rasch bis in die urbane Arbeiterklasse ausgebreitet. Das Fußballturnier wurde in Antwerpen, Gent und Brüssel ausgetragen und lockte mehr Zuschauer an als alle anderen Wettbewerbe zusammen. Am Tag des End-spiels zwischen Belgien und der Tschechoslowakei war das Olympiastadion gar ausverkauft, und einheimische Jugendliche buddelten einen Tunnel – vom Volksmund »olympischer Graben« getauft –, um auf die Ränge zu gelangen. Jean Langenus, ein belgischer Schiedsrichter, erinnerte sich: »Der olympische Graben war zu einem enormen Portal angewachsen, durch das Tausende hineinkamen. Rund um das Stadion hingen Fans wie Trauben von den Kolonnaden und Bäumen.«8 Belgien ging früh mit zwei Toren in Führung, während die Tschechen sich auf eine recht ruppige Spielweise verlegten. Als der Schiedsrichter kurz vor der Halbzeitpause dem tschechischen Verteidiger Karel Steiner wegen eines groben Foulspiels die Rote Karte zeigte, verließ die ganze Mannschaft geschlossen das Feld und schenkte das Spiel ab. Die Belgier waren Olympiasieger, und die Zuschauer stürmten den Rasen, rissen eine tschechische Fahne nieder und trugen die Spieler auf den Schultern.
Der offizielle Bericht sparte nicht mit überschwänglichem Eigenlob: »Trotz der schwierigen politischen, ökonomischen und sogar meteorologischen Bedingungen … wurden die Spiele der VII. Olympiade mit Meisterschaft, Perfektion und Würde abgehalten.« Eine Meinung, die kaum jemand teilte. Die heimische Presse, ungewohnt einig über die sprachlichen Grenzen hinweg, befand, dass die Spiele in ihrer eigenen bourgeoisen Blase stattgefunden hätten: »Es war nur wenig Interesse seitens größerer Kreise zu spüren. … Darüber hinaus scheint die ganze Olympiade keinen Bezug zum einheimischen Leben zu haben.« Noch schärfer urteilte Ons Volk: »Die Olympiade von Antwerpen scheint hinsichtlich der Beteiligung der Wettkämpfer ein Erfolg gewesen zu sein. Was das öffentliche Interesse anbelangt, war sie ein Fehlschlag.«9 Ihren Zweck erfüllt hatte sie sicherlich in Bezug auf bestimmte private Interessen. Der Beerschot Club hatte ein neues Stadion, die Familie Grisar, der weite Teile des Bodens rund um das Stadion gehörten, freute sich über einen beträchtlichen Zuwachs ihrer Grundstückswerte, und als schließlich herauskam, dass die Spiele ein erhebliches Defizit eingefahren hatten, bekam das geplagte belgische Olympische Komitee die Rechnung präsentiert, die diskret von der Regierung übernommen und auf den belgischen Steuerzahler umverteilt wurde. Die Spiele von Antwerpen mochten antiquiert gewirkt haben und noch dem Geist der Belle Époque verhaftet gewesen sein, aber zumindest in dieser Hinsicht waren sie zukunftsweisend.