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Anders als sämtliche Vorgänger war Stockholm 1912 nicht von Krisen geprägt. Es gab keine Finanzierungslücken und keine kurzfristigen Änderungen von Zeitplan und Schauplatz. Coubertin hatte mehr Kontrolle über das IOC und das IOC mehr Kontrolle über seine Spiele als je zuvor. So konnten sie darauf bestehen, dass die Schweden das ziemlich minimalistische Programm, das sie zunächst vorgeschlagen hatten, radikal erweiterten und auch Coubertins persönliches Steckenpferd berücksichtigten: einen modernen Fünfkampf für Offiziere.
Die schwedischen Organisatoren entstammten einem einflussreichen Kreis konservativer gesellschaftlicher Kräfte: Das Königshaus, die Aristokratie, das Militär und das Großkapital waren alle vertreten. Sie brachten mehr als ein Jahrzehnt Erfahrung mit der Durchführung ihrer Nordischen Spiele mit und waren mit einem zentralisierten Sportverband im Bunde, der sämtliche Elemente der heimischen Sportkultur mobilisierte. Außerdem hatten sie den Rückhalt der Regierung, die sie diskret mittels staatlicher Lotterien finanzierte, ohne sich im Riksdag, dem Sitz des schwedischen Parlaments, auf Fragen und langwierige Debatten einlassen zu müssen.
Das IOC bekam nicht überall seinen Willen. Die Schweden weigerten sich beharrlich, Boxen bei ihren Spielen zuzulassen, und auch Coubertins hartnäckige Forderung, neben dem Sport auch eine Kunst-Olympiade auszurichten, traf auf taube Ohren. In Gesprächen zwischen dem Komitee und Vertretern der schwedischen Kunstwelt erntete der Vorschlag nichts als Hohn und Spott. Was sie aber auf die Beine stellten, war genau die Art formvollendetes, gediegenes Festival des Sports, das Coubertin immer gewollt hatte: ohne den ideologischen Ballast und die kommerzielle Vulgarität der Weltausstellungen, gleichzeitig aber mit Anklängen an die Moderne – global in seiner Tragweite, rational in der Organisation und technologisch versiert.
Etwas mehr als 2.400 Athleten aus 28 Ländern nahmen teil, darunter erstmals Mannschaften aus Ägypten, Serbien, dem Osmanischen Reich (vertreten durch zwei Armenier), Japan und Chile, womit Stockholm die ersten Spiele waren, bei denen Teilnehmer aus allen Kontinenten dabei waren. Zudem waren es die letzten Spiele, bei denen sich Privatpersonen anmelden konnten, wie der britische Offizier Arnold Jackson, der, obwohl von der Nationalauswahl abgelehnt, die Goldmedaille über 1.500 m gewann; alle anderen kamen auf Einladung ihrer jeweiligen Nationalen Olympischen Komitees. Die Schweden strafften außerdem den Zeitplan der Spiele und stellten ein komprimiertes Programm auf, in dem alle Wettbewerbe innerhalb einer verlängerten Woche Mitte Juli ausgetragen wurden.
Das sportliche Programm wurde außerdem gestutzt. Experimente mit Motorsport und Ballonfahren waren passé. Offensichtliche Randsportarten wie Jeu de Paume, Rackets und Pelota wurden gestrichen. Cricket, das schon 1908 von den Organisatoren als nicht international genug erachtet wurde, wurde nicht wiederbelebt. Nach wie vor gab es Platz für Abseitiges – isländischer Ringkampf war in Stockholm als Demonstrationssport zu sehen –, aber nicht im Hauptprogramm. Es gab auch keine Neuauflage des 1900 in Paris gezeigten Schießens auf lebende Tauben oder des fabelhaften Radpolo-Turniers, das in London ausgetragen wurde und bei dem zwei Mannschaften zu je sieben Fahrern auf Rennrädern ihre Poloschläger schwingend ein Fußballfeld rauf und runter jagten. Elektronische Zeitnahmegeräte, ausgelöst durch die Startpistole, wurden als Ergänzung zu tragbaren Stoppuhren eingeführt, und erstmals kamen Kameras zum Einsatz, um bei knappen Entscheidungen den Sieger zu ermitteln. Angesichts der Streitereien über die Neutralität der Kampfrichter bei den Spielen 1908 bemühten sich die Schweden, die fachliche Kompetenz der Schiedsrichter zu verbessern und internationale Regeln und Standards festzulegen.
Sowohl ausländische Journalisten als auch potenzielle Touristen wurden eifriger umworben als zuvor, und es wurde ein offizieller Film über die Spiele in Auftrag gegeben. Außerdem wurde besser auf die Bedürfnisse der Zuschauer eingegangen. U. a. schuf man spezielle Anzeigetafeln, auf denen Ergebnisse vermeldet wurden, und Hornisten und Boten mit Megaphonen kündigten die Wettbewerbe in englischer und schwedischer Sprache an. Besucher der Schwimmwettbewerbe konnten dem Geschehen nun leichter folgen, weil die Teilnehmer Badekappen in den Farben ihrer Nation und individuelle Startnummern trugen. Was den feierlichen Rahmen anging, hielten sich die Schweden an das Motto: »Weniger ist mehr.« Die Eröffnungsfeier bestand aus einem geordneten Einmarsch der Nationen, gefolgt von einer Hymne, einem schwedischen Gebet, ein paar Ankündigungen und einer kurzen Ansprache des Königs. Trotzdem hielt es ein amerikanischer Reporter für die »bei Weitem denkwürdigste internationale Veranstaltung aller Zeiten«.1
Die New York Times mochte von der asketischen Schlichtheit der Eröffnungsfeier fasziniert gewesen sein, aber den Schweden sind die Spiele vor allem als »Sonnenschein-Olympiade« in Erinnerung geblieben. Athen 1896 hatte unter kalten, für die Jahreszeit untypischen Regenfällen gelitten, die so heftig waren, dass die Schlussfeier verschoben werden musste. Paris, auf sechs Monate ausgewalzt, hatte alle erdenklichen Wetterkapriolen erlebt, die wenigsten davon gut. London 1908 wurde von einem verregneten englischen Sommer mit Niesel, Schauer und Nebel heimgesucht, aber 1912 war den Olympischen Spielen endlich einmal warmer, durchgängiger Sonnenschein beschieden: »Die Sonne brennt mit intensivem Juliglühen auf das Olympiastadion herab, und die Zuschauer auf den unüberdachten Tribünen leiden wie in einer Sauna. Die Damen sind in ihre dünnsten und durchsichtigsten Blusen gekleidet und halten ihre Fächer in ständiger Bewegung, während die Herren schwedische Konventionen über Bord werfen, sich ihrer Jacken und bisweilen auch ihrer Westen entledigen und ihre gestärkten Krägen ein wenig lockern.«2
Stockholm machte sich in der Hitze locker, und einstmals steife und indifferente Olympia-Skeptiker schmolzen nur so dahin, ließen sich gar mitreißen vom Spektakel und wurden, der Arbeiterzeitung Aftonbladet zufolge, von einer ungesunden nationalistischen Lust auf Siege erfasst: »Wie viele menschliche Wesen dieser Stadt haben bis dato ein Interesse für das Stoßen einer Kugel entwickelt? Oder das Ringen? In den Augen gewöhnlicher Leute war dies ein Zeitvertreib etwa auf einer Stufe mit Flohzirkus, etwas extrem Vulgäres. … Aber jetzt sinken Generaldirektoren und Assistenzsekretärinnen auf die Knie und bitten höhere Mächte um den Sieg im Ringen, damit wir unsere Gesamtpunktzahl steigern.«3
Die Spiele von Paris, die über die ganze Stadt verstreut stattfanden, wurden von der Exposition Universelle überschattet und hinterließen keine Spuren. In St. Louis waren die Spiele in den gigantischen Exhibition Park eingepfercht, der sich in einiger Entfernung zur Stadt befand und im Anschluss vollständig abgerissen wurde. In London waren die Spiele dank der schieren Ausmaße des Stadions und des erheblich höheren Stellenwerts, der ihnen von den britischen Gastgebern eingeräumt wurde, innerhalb der fantastischen White City der Franco-British Exhibition zwar architektonisch sichtbar. Ihre Präsenz im weiteren städtischen Umfeld beschränkte sich aber auf die Marathonstrecke und die Elitesportklubs, wo einige der kleineren Wettbewerbe wie Tennis und Polo ausgetragen wurden. Athen war 1896 und 1906 als Stadt überschaubar genug, dass die Spiele einen echten Eindruck hinterließen, aber selbst damals zogen lediglich die Eröffnungs- und Schlussfeier sowie der Marathon größere Zuschauermengen an.
Die Mischung aus herrlichem Wetter und Olympiafieber lockte die Stockholmer nach draußen auf die Straßen und stellte so eine Beziehung zwischen dem Gastgeber und den Spielen her, die ihnen bis dahin versagt geblieben war. Das neu erbaute Stadion, eine romantische Backsteinburg mit Rundtürmen und Rondellen, befand sich mitten in der Stadt. Die Besucherzahlen bei allen Wettbewerben, mit Ausnahme des Ruderns, waren gut. Die Tickets waren größtenteils so teuer, dass die Armen außen vor blieben, aber die Stehplätze im Olympiastadion sorgten für eine gesellschaftliche Durchmischung. Und schließlich wurde auf einer militäreigenen Wiese in der Nähe des Stadions ein provisorischer Lustgarten – Olympia genannt – errichtet, der ein größeres zahlendes Publikum anlockte als alle olympischen Veranstaltungen zusammen.
Die Spiele von Stockholm waren außerdem die ersten, bei denen das Publikum begeistert und lautstark mitging. In einem Bericht vom Tennisturnier – in Schweden die vornehmste aller Sportarten – war zu lesen, dass »wieder und wieder donnernder Applaus durch den Pavillon hallte, die Zuschauer riefen ihre Bravos hundertfach«. Die Menge ließ sich von der Finesse und der Dramatik des Spiels mitreißen: »Das Match wurde mit leidenschaftlichem Interesse verfolgt, die Menschen trampelten, pochten mit ihren Stöcken, Füßen und Schirmen auf den Boden, wenn ein schwieriger Schlag ausgeführt wurde, und stöhnten noch mehr auf als die Spieler selbst, wenn ein Ball verfehlt wurde oder ins Aus ging.«4 Wie Fotos von den Spielen belegen, bildeten Frauen einen beträchtlichen Teil des Publikums, insbesondere bei den gehobenen Sportarten wie Tennis, Fechten und Reiten, für die Stockholms feine Gesellschaft sich ganz besonders herausputzte.
Das war nicht nach jedermanns Geschmack. Die Kolumnistin Else Kleen schrieb: »Es ist alarmierend, um zwei Uhr nachmittags perlenbesetzte Seide bei einer Sportveranstaltung zu sehen!« Noch überraschter vom Engagement der weiblichen Zuschauer zeigte sich Maria Rieck-Müller in einem Beitrag für das Magazin Idun: »Wer hätte sich vorstellen können, dass Tausende manierlicher schwedischer Frauen sich mit Körper und Seele an Ovationen beteiligen, wie wir sie bis dahin nur von Beschreibungen exotischer Galas kannten.«5
Die Menschenmassen sangen außerdem, denn die Stockholmer Spiele waren die musikalischste aller Olympiaden. In Athen und London waren bei den Zeremonien die olympische Hymne und die Nationalhymnen zu hören gewesen, dargeboten von Militärkapellen und großen Chören, aber Stockholm wartete darüber hinaus noch mit mindestens einem musikalischen Ensemble an jedem Veranstaltungsort der Spiele auf. Die Musiker vertrieben den Zuschauern nicht nur die Zeit zwischen den Wettbewerben, sondern kommentierten sie hin und wieder sogar. So wurde beim Einmarsch der Nationen die finnische Mannschaft mit einer spontanen Interpretation des »Marsch der finnischen Kavallerie« begrüßt. Nach dem Finale über 400 m Brust, den der Deutsche Walter Bathe vor einem Schweden und einem Briten gewann, spielte die Kapelle nacheinander die deutsche, schwedische und britische Hymne.
Neben den Spielen richtete Stockholm ein nationales Liederfestival aus, das 4.000 Sänger in die Hauptstadt lockte. Für die musikalischen Wettbewerbe war ein 8.000 Zuschauer fassendes provisorisches Auditorium errichtet worden, und das Festival gipfelte in einer Darbietung von 6.000 Menschen im Olympiastadion. In diesem Rahmen und in größerer Zahl und Lautstärke als je zuvor stimmte die Menge das alte Volkslied »Du gamla, du fria« an, das sich, ohne offizielle Billigung, als Nationalhymne herausbildete. Als der schwedische König eintraf, um seiner Mannschaft beim Fußball gegen England zuzuschauen, stimmten die Engländer im Publikum »For He’s a Jolly Good Fellow« an und wurden mit einem königlichen Winken belohnt. Bei einer besonders bemerkenswerten Gelegenheit verlangte die Menge nach Musik: Auf Neuigkeiten vom Marathon wartend, »schien es, als wäre das gewaltige Olympiastadion eingeschlafen. Dann waren befremdliche rhythmische Rufe von der Nordtribüne zu hören. … Jemand langweilte sich und rief nach Musik. … Kurz bevor das Neueste vom Marathon eintraf, wurde ein verspielter Walzer gegeben, und die Nordtribüne war wieder ruhig.«6
Ebenso ausgelassen, wenn nicht sogar noch mehr, waren die Zuschauer beim Fußball, wie ein dänischer Bericht zum Spiel der Schweden gegen Holland verdeutlicht: »Die große Tribüne am Ende des Olympiastadions brodelte vor Begeisterung, die Menschen schwenkten ihre Mützen und Fahnen, sie schwenkten ihre Stöcke, sie riefen, und die Rufe schwollen zu einem fürchterlichen Gebrüll, das die Erde erschütterte.«7 Viele Schweden waren selbst ein wenig beunruhigt darüber, wie sehr sich ihre eigenen Landsleute von nationalistischem Eifer mitreißen ließen. »Man ist fieberhaft vor Begeisterung und brodelt vor Ressentiments, Tausende geballter Fäuste werden in den Himmel gereckt, als Todesstoß für die Geschlagenen, als Salut für ihre Favoriten.«
Wo keine schwedischen Athleten vertreten waren, unterstützte man andere Nationen, wie beispielsweise die Dänen im Fußballspiel gegen England: »Aber dann erzielen die Dänen ein Tor, und es bricht Jubel aus, die Leute applaudieren, trampeln, rufen, erheben sich, lupfen die Mützen, schwenken kleine dänische Fahnen – stellen Sie sich nur mal einen reservierten Stockholmer vor …, der mit einem dänischen Fähnchen wedelt.«8 Bezeichnenderweise waren die Spiele in Stockholm das erste öffentliche Großereignis, bei der die schwedische Fahne – die viele Schweden immer noch als aristokratische Kuriosität betrachteten – als Wahrzeichen der ganzen Nation wehte.
Hin und wieder kochten die Emotionen über: Verärgert über die vermeintliche Parteilichkeit der Schiedsrichter beim Wasserball-Match der Gastgeber gegen England, stand ein Schwede auf und verließ aus Protest mit Hunderten weiteren Zuschauern den Ort des Geschehens. Zu einer »beschämenden Episode« kam es nach dem Schlusspfiff des Fußballspiels zwischen Dänemark und England, als von der Haupttribüne aus Kissen aufs Spielfeld geworfen wurden. Neben den eigenen Fans war die schwedische Presse vor allem von der amerikanischen College-Tradition des Anfeuerns mit Wiederholungen, Reimen und individuellen Gesängen angetan: »Der 200-m-Lauf wurde durch die Schlachtrufe der amerikanischen Einpeitscher angeheizt. Der Name Craig wurde in absolut ohrenbetäubender Weise skandiert.«9 Die Amerikaner fühlten sich hier ohne Zweifel eher zu Hause als in London: »Dort wurde Anfeuern und Fahnenschwenken als unschicklich erachtet und die amerikanischen Zuschauer für ihre Begeisterungsausbrüche und Schlachtgesänge getadelt. Hier sieht man mehr Fahnen und Wimpel als Blätter an den Bäumen. Das heutige Geschehen war so turbulent wie ein College-Football-Spiel.«10
Unter den besonders begeisterten Zuschauern war auch der Baron selbst. »Der Heilige Geist des Sports erleuchtete meinen Kollegen, und sie billigten einen Wettbewerb, dem ich die größte Bedeutung beimesse«, hatte er in seiner Revue Olympique fröhlich verkündet, und nun würde der Moderne Fünfkampf in Stockholm endlich seine Premiere feiern.11 Die Idee, bei Olympia eine zeitgenössische Variante des klassischen Wettkampfs aus fünf Disziplinen auszutragen, kursierte in elitären Sportlerkreisen schon eine ganze Weile. Man verband damit die Vorstellung, so den idealen Athleten zu ermitteln. Für Militärenthusiasten wie den Schweden Viktor Balck stellte die Kombination aus militärischen Disziplinen (Fechten und Reiten) und Ausdauerrennen die perfekte Prüfung für die Fähigkeiten eines Offiziers dar. Für aristokratische Generalisten wie Coubertin, der sich nicht recht anfreunden mochte mit der Ära zunehmender Professionalisierung und Spezialisierung, war der sportliche und intellektuelle Alleskönner dem begrenzten Technokraten und dem monomanen Athleten allemal überlegen. Dieses Denken war so ausgeprägt, dass das französische Blatt Le Matin über dessen romantischen Reiz berichten konnte: »Wen möchten Sie lieber heiraten? Das junge Mädchen von heute antwortet: einen kompletten Athleten! Der komplette Athlet ist modern.«
Der Moderne Fünfkampf war das Ergebnis umfangreicher Debatten und Gremienarbeit, die sich teils um Fragen der Praktikabilität und Ausrüstung drehten, von Coubertin im offiziellen Bericht aber mit der ihm eigenen Blumigkeit verklärt wurden: »Die Auswahl der fünf verschiedenen, nicht artverwandten Disziplinen entsprang den romantischen, rauen Abenteuern eines Verbindungsoffiziers, dessen Pferd in Feindesland zu Fall gebracht wird; nachdem er sich mit Pistole und Schwert zur Wehr gesetzt hat, überquert er schwimmend einen Fluss und überbringt die Nachricht zu Fuß.« Zu einem früheren Zeitpunkt der Diskussionen hatte Coubertin sich gar einen Modernen Fünfkampf ausgemalt, an dem jedermann teilnehmen könnte und bei dem die Organisatoren Pferde zur Verfügung stellen würden, um dies zu gewährleisten.
Erstaunlicherweise versuchte sich eine 15-jährige junge Frau aus Großbritannien namens Helen Preece für den Wettbewerb anzumelden, wurde von den schwedischen Veranstaltern aber abgewiesen. Somit waren, bis auf drei, sämtliche Teilnehmer Inhaber eines Offizierspatents, darunter ein junger Major namens George Patton, der für die Vereinigten Staaten den sechsten Platz belegte. Alle drei Medaillengewinner waren Leutnants der schwedischen Armee. Man sollte also meinen, dass sich das »junge Mädchen von heute« nach dem Sieger im Modernen Fünfkampf Gösta Åsbrink verzehrt hätte, doch der Schwede bekam in Stockholm starke Konkurrenz. »Sie, mein Herr, sind der größte Athlet der Welt«, soll der schwedische König den Sieger im Fünfkampf und im Zehnkampf Jim Thorpe gepriesen haben, worauf Thorpe angeblich entgegnete: »Danke, König.« Das Zitat tauchte erst drei Jahrzehnte nach den Spielen auf, in einem Interview in einer Zeitschrift, aber die Mischung aus Scheu und Selbstsicherheit klingt durchaus glaubhaft.
Jim Thorpe kam als Kind europäischstämmiger und indianischer Eltern im Indianer-Territorium in Oklahoma zur Welt. Nachdem er von zu Hause ausgerissen war und sich als Jäger und Farmarbeiter durchgeschlagen hatte, besuchte er, inzwischen verwaist, die staatliche Indian Industrial School in Carlisle, Pennsylvania. Dort tat er sich in jedem Sport hervor, in dem er sich versuchte – Leichtathletik, Football, Baseball, Lacrosse –, und gewann 1912 die College-Meisterschaft im Gesellschaftstanz. Erst im Frühling des gleichen Jahres begann Thorpe, für den Zehnkampf zu trainieren. Der Speerwurf war ihm so fremd, dass er, weil er nicht wusste, dass ein Anlauf erlaubt war, bei den US-Trials für die Olympischen Spiele aus dem Stand warf und dennoch Zweiter wurde.
Auch wenn sich die sportlichen Leistungen verschiedener Generationen nur schwer vergleichen lassen, zählen Thorpes Auftritte in Stockholm bis heute zu den herausragenden Darbietungen der olympischen Geschichte. Nicht nur gewann er den Fünfkampf und den Zehnkampf, er erzielte dabei auch Zeiten und Weiten, die ihm in den individuellen Disziplinen noch eine Handvoll weiterer Goldmedaillen beschert hätten. Er stellte Rekorde im Zehnkampf auf, die zum Teil noch 60 Jahre später Bestand hatten. Am zweiten Wettkampftag kamen ihm seine Schuhe abhanden, und er machte in alten Tretern weiter, die jemand für ihn aufgetrieben hatte und in denen er dicke Socken tragen musste, damit sie einigermaßen passten.
Ein Jahr später machten in der Presse Geschichten die Runde, Thorpe habe sich 1909 und 1910 dafür bezahlen lassen, in Rocky Mount, North Carolina, Baseball zu spielen. Es waren nur geringe Beträge gewesen, doch obwohl die im olympischen Regelwerk verankerte Frist von 30 Tagen längst verstrichen war, erkannte ihm das IOC rückwirkend, offenbar aus reiner Niedertracht, seine Medaillen ab und löschte ihn aus den Siegerlisten und den Rekordbüchern. Erst 1982 wurde Thorpe rehabilitiert und seinen Erben Nachbildungen der Goldmedaillen von 1912 überreicht.
Stockholm 1912 steckte wahrlich voller Kuriositäten: eine Feier der menschlichen Athletik, die den nachweislich besten Allrounder seiner Zeit ausschloss; ein Fest des Friedens und des Pazifismus, das dem Kult des Kriegers huldigte; die Speerspitze des Internationalismus in der Belle Époque, die zunehmend zur Bühne nationalistischer Empfindungen wurde. In Stockholm hatte die Sonne auf die Sportnationen geschienen, aber selbst dort, inmitten des anscheinend harmlosen Patriotismus, zeichneten sich Schatten ab. Die Schweden hatten zwischenzeitlich Sorge, dass der bevorstehende europäische Feuersturm während der Spiele entbrennen würde. Dazu kam es nicht, aber wie ein weitsichtiger deutscher Beobachter 1913 notierte, waren sie bloßes Vorspiel: »Die Olympischen Spiele sind ein Krieg, ein echter Krieg. Seien Sie versichert, dass viele der Teilnehmer bereit sind, – ohne zu zögern – mehrere Jahre ihres Lebens für einen Sieg des Vaterlands zu opfern. … Die olympische Idee der modernen Ära hat uns ein Sinnbild des Weltkriegs gegeben, das seinen militärischen Charakter nicht offen zur Schau trägt, aber es gewährt uns – denjenigen, die Sportstatistiken lesen können – einen ausreichenden Einblick in die weltweite Rangordnung.«12 Ab August 1914 würde sie auf dem Prüfstand stehen.