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EINLEITUNG

O Sport, du Göttergabe, du Lebenselixier!

Der fröhlichen Lichtstrahl wirft in die arbeitsschwere Zeit,

Der du ein Bote bist der längst vergangenen Tage.

Wo die Menschheit lächelte in Jugendlust,

Wo der aufsteigende Sonnengott die Gipfel der Berge rötete

Und scheidend den Hochwald in leuchtende Farben tauchte.

Georges Hohrod und M. Eschbach Gewinner der Goldmedaille, Olympische Kunstwettbewerbe 1912

Baron de Coubertin war schon lange der Auffassung gewesen, dass Sport keineswegs im Gegensatz zu den Künsten stünde, sondern einen eigenständigen und wichtigen Bestandteil des kulturellen Lebens innerhalb der Gesellschaft bildete. Deswegen erschien es ihm, im Unterschied zu vielen seiner sportlich und künstlerisch veranlagten Zeitgenossen, nur folgerichtig, dass im Rahmen der Olympischen Spiele auch künstlerische, literarische und musikalische Wettbewerbe zum Thema Sport ausgerichtet werden sollten. Im Vorfeld der Spiele von 1912 in Stockholm hatte er mehrfach versucht, die schwedischen Gastgeber davon zu überzeugen, eine entsprechende Konkurrenz auf die Beine zu stellen, aber nachdem man sich mit der künstlerischen Gemeinde des Landes beraten und nichts als Unverständnis und Ablehnung geerntet hatte, wurde dem Ersuchen eine höfliche Absage erteilt. Der Baron ließ sich nicht beirren und kündigte ungeachtet dessen an, dass es im Rahmen der Spiele von 1912 künstlerische Wettbewerbe geben werde, und rief dazu auf, Beiträge an seine Adresse zu schicken, wo er, soweit dies zu beurteilen ist, als alleiniger Preisrichter fungierte.

Im Bereich Literatur ging der Preis an Hohrod und Eschbachs »Ode an den Sport«. Sie war so ganz nach dem Geschmack des Barons, der einer recht eigentümlichen Religiosität und überspannten Auffassung der antiken und modernen Sportgeschichte anhing. Und doch traf die Ode in mancherlei Hinsicht den Nagel auf den Kopf. Die antike Welt hatte ihre Spiele, in der modernen Welt hingegen wurde Sport getrieben. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein entwickelte sich in Nordeuropa und den Vereinigten Staaten ein Großteil der Sportarten in der Form, wie wir sie heute kennen. Sie griffen zurück auf ältere Spiele und neuere Experimente, oder sie wurden, wie z. B. Handball und Basketball, ganz neu erfunden. Anders als die meisten der vormodernen Disziplinen waren sie losgelöst von religiösen oder lokalen Kalendern, Ritualen und Zwecken und erlangten stattdessen ihre eigene innere Bedeutung und Freude. Entgegen dem engstirnigen Provinzialismus der vormodernen Welt erhielten diese Sportarten festgeschriebene Regeln, die es ihnen ermöglichten, unter der Obhut moderner Verwaltungsapparate, nationale und globale Verbreitung zu finden. Dies alles bedeutete, dass zu eben dem Zeitpunkt, da das Aufkommen des Industriekapitalismus und des Militarismus die Welt zu einem raueren und unwirtlicheren Ort machte, es gleichzeitig eine Alternative beförderte: das organisierte Spiel des modernen Sports.

Hohrod und Eschbach waren nicht nur die Schmiede weitschweifiger Zeilen, sondern auch die Namen zweier Dörfer im Elsass nahe des Geburtsorts von Coubertins Frau, womit klar sein sollte, wessen nur nachlässig verschleiertes Pseudonym sie waren. Da er einen eigenen Wettbewerb ins Leben rief, für den er einen eigenen Beitrag einreichte, den er dann kurzerhand zum Sieger erkor, dürfen wir wohl davon ausgehen, dass er von den Zeilen recht angetan war, gleichwohl man ein Jahrhundert später festhalten muss, dass sie nicht besonders gut gealtert sind. Das Gedicht, in französischer und deutscher Sprache vorgelegt, weist zwar gewisse Spuren von Rhythmus, Form und Versmaß auf, ist aber mit der schwerfälligen Schwülstigkeit einer Schulpredigt aufgeladen und angesichts des frömmelnden Tonfalls vielleicht auch genau diesem Genre zuzuordnen. Im Wesentlichen ist es nichts weiter als eine unerträglich schlechte Exegese über das Leitbild des vornehmen Amateursports, das im 19. Jahrhundert in den elitären Militär- und Bildungseinrichtungen des Westens Verbreitung fand. Dort diente der Sport der Bildung des Charakters und des moralischen Rüstzeugs, die erforderlich waren, um über Imperien und das gemeine Volk zu herrschen. Diese und nur diese Sorte Athleten und diese Art von Sport waren es, die die Gipfel der Modernität röteten.

Allzu viel lässt sich von Coubertins ideologischem Vermächtnis somit nicht mehr in die heutige Zeit hinüberretten, weder aus seinem Gedicht noch aus der Welt des vornehmen Sports, der es entsprang. Der Amateurismus und seine elitären Codes sind von Olympia längst aufgegeben worden, und Coubertins tief empfundener Glaube, dass die Spiele in erster Linie eine spirituelle Angelegenheit und eine Form moderner Religion seien, geriet still und heimlich in Vergessenheit, als sich die olympische Bewegung vom Gentleman’s Club und neo-hellenischen Athletenkult zum global agierenden Verwaltungsapparat, der eine säkulare, kommerzialisierte Feier der gesamten Menschheit ausrichtet, wandelte. Für mein Empfinden gibt es in der »Ode an den Sport« nur zwei Strophen, die uns auch heute noch etwas zu sagen haben. Zunächst preist der Baron in einer für die damalige Zeit ziemlich untypischen Art und Weise das Vermögen des Sports, soziale Ungleichheiten zu überwinden und individuelle Begabungen und Fähigkeiten in einer ansonsten ungerechten Welt sichtbar zu machen:

O Sport, du bist die Gerechtigkeit!

Vergeblich ringt der Mensch nach Billigkeit und Recht

In allen sozialen Einrichtungen;

Er findet beide nur bei dir.

Zum anderen, in einer Sprache, die Anklänge sexueller Erregung und drogeninduzierter Rauschzustände birgt, rühmt er die viszeralen und intellektuellen Freuden des Sports:

O Sport, du bist die Freude!

Sobald dein Ruf ertönt, erbebt der Leib in Wonne,

Das Auge glänzt und stürmisch Blut durchströmt die Adern.

Klar fliegen die Gedanken ätherwärts.

Coubertin hatte keineswegs die Absicht gehabt, eine globale Bühne zu errichten, auf der Kämpfe um Gleichheit und Inklusion in Bezug auf Klasse, Ethnizität, Geschlecht, Behinderung und Sexualität ausgefochten würden. Noch stellte er sich, nicht einmal in seinen entrücktesten Momenten, die olympische Bewegung und ihre Spiele als einen Schauplatz kollektiven Deliriums, Reflektierens oder Freudentaumels vor, aber trotz allem halten die Olympischen Spiele nach wie vor das alles bereit. Dieses Buch handelt in erster Linie davon, wie sich der Baron de Coubertin und seine eigentümliche Vision des sportlichen Spektakels zu einer globalen Norm und einer weltumspannenden Organisation entwickelten. Darüber hinaus aber ist es die Geschichte der Athleten, die nach Billigkeit und Recht rangen und die unsere Leiber in Wonne erbeben, unsere Augen glänzen und unsere Gedanken ätherwärts fliegen ließen.

Die Spiele

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