Читать книгу Die Spiele - David Goldblatt - Страница 15

Оглавление

EINS

Von den Trümmern der Zwischenkriegsjahre blickten die Franzosen auf die drei oder vier Jahrzehnte vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zurück und erklärten sie zur »Belle Époque«. Die Amerikaner erinnerten sich dieser Zeit als »Gilded Age«, die Briten als Blüte viktorianischer und imperialer Macht. Europa und Amerika hatten fast vier Jahrzehnte enormen industriellen Wachstums und tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen erlebt. Dazu kam eine ganze Reihe epochaler technologischer Innovationen, von der Elektrizität über die motorisierte Luftfahrt bis zum Automobil. In einer Welt, die vernetzter war als je zuvor, dehnten die Großmächte ihre Herrschaftsgebiete in Übersee aus, untereinander aber herrschte Frieden.

Diese enormen Veränderungen wurden gefeiert in den Weltausstellungen. Der deutsche Soziologe Georg Simmel nannte sie ein »momentanes Zentrum der Weltkultur«, denn hier verdichteten sich der kulturelle Austausch und die Interaktionen jener Zeit.1 Sechs Millionen Menschen, fast ein Viertel der englischen Bevölkerung, besuchten 1851 den Crystal Palace; der gleiche Anteil der amerikanischen Bevölkerung, insgesamt 28 Millionen, war 1893 bei der World’s Columbian Exposition in Chicago zu Gast. 15 Millionen kamen 1867 nach Paris, 1889 waren es 23 Millionen und 1900 gar 50 Millionen, und damit mehr als die französische Gesamtbevölkerung.2

Freilich waren es mehrheitlich einheimische Besucher, aber die Ausstellungen lockten auch zahlreiche Touristen an. Dutzende ausländische Regierungen und Unternehmen sponserten Pavillons, und ein immer größeres Pressekorps aus aller Welt berichtete über sie. Doch der Versuch der Ausstellungen, die Menschheit in einem Thema oder mit einer Reihe von Pavillons zusammenzufassen, wurde stets durch den gebrochenen Charakter der Globalisierung am Ende des 19. Jahrhunderts untergraben. Falls es so etwas wie eine Weltkultur gab, so war sie keinesfalls homogen, sondern gespalten durch globale imperiale Rivalitäten und zutiefst gestört durch militärisches Schattenboxen und aufkommenden Nationalismus.

Coubertin war nie ein Mann für komplexe Wahrheiten und beschrieb das Verhältnis zwischen den frühen Olympischen Spielen und den Weltausstellungen als ein »demütigendes Vasallentum«. Gewiss war es eine Beziehung, die ihm viel von der Kontrolle darüber entzog, wo die Spiele ausgetragen wurden, und sie stimmten auch nicht immer überein mit dem neohellenischen Athletenkult des Barons und dessen synkretischer Mixtur aus Kraftmeierei und Internationalismus. Coubertins persönlichen Groll beiseite, hatte er recht, wenn er beklagte, dass die Olympischen Spiele der Belle Époque im öffentlichen Bewusstsein und in der Berichterstattung von den größeren Festivitäten überschattet wurden, in die sie eingebettet waren. Andererseits war Sport für einen Großteil der Oberschicht nur von geringem Interesse verglichen mit technischen Wunderwerken, Konsumentenfantasien im Überfluss und morgenländischer Freizeitpark-Exotik. In Ermangelung sonstiger Geldgeber boten die Ausstellungen außerdem das erforderliche Umfeld und den finanziellen Rahmen, in dem solcherlei Spiele stattfinden und das globale Ansehen des Sports im Allgemeinen und der Olympischen Spiele im Besonderen etabliert werden konnte. Den großspurigen Universalismus der Weltausstellungen, ebenso wie deren komplexes Verhältnis zu Wirtschaft und Kommerz, haben sich die Spiele bis heute bewahrt. Dazu kommt, dass die Spiele immer größere Bedeutung für die sozialen und ökonomischen Strukturen der Gastgeberstädte haben und auch enger gefasste und auf die Gemeinde beschränkte Agenden vorantreiben können.

Was wünschten die Menschen zu sehen, die zu den Ausstellungen strömten? Wie die vollständige Bezeichnung der allerersten Ausgabe, der Londoner Industrieausstellung von 1851, nahelegt – »Great Exhibition of the Works of Industry of all Nations« (Große Ausstellung der Industrieerzeugnisse aller Nationen) –, kamen sie, um die Maschinen und Produkte zu sehen, die die neue globale Industriewirtschaft ausmachten: die Güter, die Energiequellen und die neuen Stützen der elektronischen Kommunikation und des mechanisierten Transports, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs ein historisch beispielloses Maß an internationalem Handel, Investitionsaufkommen und kulturellem Austausch hervorbrachten. 1876 strömten die Massen nach Philadelphia, um das Telefon zu sehen; spätere Ausstellungen präsentierten die Schreibmaschine, elektrisches Licht, Rolltreppen, die Tonaufzeichnung, das Kino und Röntgenapparate. Viele heute global allgegenwärtige Produkte – wie Zuckerwatte, der Hot Dog und der Reißverschluss – und Marken – wie Heinz-Ketchup und Dr. Pepper – nahmen in dieser Ära des aufkommenden Massenkonsums ihren Anfang.

Aber trotz des ungezügelten Kommerzes strebten die Weltausstellungen stets danach, mehr zu sein als eine bloße Übung in Produktentwicklung und Marketing. Außer industriellen Errungenschaften zeigten sie die neuesten Ideen und Innovationen in Bereichen wie Agrarkultur, Stadtentwicklung, Militärtechnik, Medizin und Hygiene, Kunst und Musik. Ihre Gestaltung und Kataloge zeigten alle Arten von Methoden auf, die zunehmend komplexe Welt zu klassifizieren und zu analysieren, indem sie die Systematiken der Museen und der Altertumsforscher, der Enzyklopädien und der Bibliothekskataloge miteinander verknüpften. Da sie die Aufmerksamkeit von Besuchern aus aller Welt auf sich zogen, bildeten sie das perfekte Umfeld, um internationale Kulturkonferenzen jeglicher Art auszurichten. So war die Chicagoer Weltausstellung 1893 Tagungsort des Weltparlaments der Religionen, des Weltkongresses der Frauen und des Internationalen Kongresses der Mathematiker. 1904 versammelten sich in St. Louis beim Internationalen Kongress für Kunst und Wissenschaft Tausende Gelehrte aus der ganzen westlichen Welt und stellten sich selbst die zum Scheitern verurteilte enzyklopädische Aufgabe, Wissensstand und Fortschritt Hunderter akademischer und intellektueller Teilgebiete zu sichten. Sie wollten wissen, ob es möglich wäre, dies alles als großes, zu vereinheitlichendes System universeller Vernunft zu verstehen.

Das Konzept der Weltausstellungen war dehnbar genug, um an eine beliebige Zahl imperialer oder nationaler Kulturprojekte angepasst zu werden. Die Londoner Industrieausstellung war natürlich ein Ausdruck britischer ökonomischer Modernität und Dominanz in einer Zeit, als die »Werkstatt der Welt« 50 Prozent aller industriegefertigten Güter produzierte, betonte aber auch die wachsende globale Tragweite und Bedeutung des Empire. Andere europäische Mächte, von Spanien bis Deutschland, reagierten mit eigenen Leistungsschauen. Das österreichisch-ungarische Kaiserreich, das auf industrieller Ebene nicht mithalten konnte, machte die Weltausstellung 1873 in Wien zu einer Feier von Bildung und Kultur. Die Belgier erkoren das Automobil und ihren neuen Freistaat Kongo zu den Hauptattraktionen der Schau. Die imposantesten Statements lieferten aber die Amerikaner und Franzosen. Die Centennial Exhibition 1876 in Philadelphia betrachtete die moderne Welt durch die Linse eines Jahrhunderts amerikanischer Unabhängigkeit. Chicago 1893 datierte die Moderne, mit einem Jahr Verspätung, ab der »Entdeckung« durch Kolumbus 400 Jahre zuvor. Die Dritte Französische Republik knüpfte ihre Exposition Universelle im Jahr 1900 an das beginnende neue Jahrhundert.

So wie die modernen Olympischen Spiele waren die Weltausstellungen ebenso urbane wie nationale oder globale Veranstaltungen, die eher mit der Gastgeberstadt als mit ihrem jeweiligen Nationalstaat assoziiert wurden. Obwohl ein Großteil der Infrastruktur der Ausstellungen nur provisorisch errichtet wurde, hinterließen sie deutliche Spuren in Gestalt und Baustruktur der Städte wie auch der urbanen Vorstellungswelt. Der Eiffelturm, für die Exposition Universelle 1889 errichtet und ursprünglich nicht als permanentes Bauwerk vorgesehen, ist das heute wohl bekannteste Beispiel für die markante Architektur, die die Weltausstellungen der Belle Époque hervorbrachten. Damals aber begeisterte sich das weltweite Publikum an Joseph Paxtons Crystal Palace – eine Art schmiedeeiserne Industriemutation eines feudalen Treibhauses –, an der Rotunde in Wien und der White City in Chicago. Angesichts der enormen Zuschauerzahlen war unausweichlich, dass sich am Rand der Weltausstellungen auch kommerziellere und reißerische Spektakel breitmachten, wie z. B. 1889 in Paris Buffalo Bills immens populäre Wildwest-Show.

Wo also war innerhalb dieses riesigen Kuriositätenkabinetts der Sport zu finden? Anfangs nahm er nur einen kleinen Platz ein, genauer gesagt die North Transept Gallery der Great Exhibition, wo viktorianischen Sportenthusiasten im Rahmen der Ausstellung »Sonstige Erzeugnisse und kurze Waren« u. a. Tennisrackets, Golfbälle aus Schottland, Angelruten, Billardtische sowie das erste überlieferte Croquet-Set inklusive Regelwerk geboten wurden. Dazu gab es Cricket-Zubehör, Schläger-Prototypen und, »in Ermangelung eines erstklassigen Bowlers«, ein ledernes Katapult. Der Sportartikelhersteller Gilbert stellte »eigens für den Zweck gefertigte lederne Fußbälle« bereit, für Bogenschützen gab es ein Sortiment an »englischen Langbogen für Damen und Herren, gefügt aus verschiedenen raren Holzsorten«.3 1867, im Rahmen der Exposition Universelle im Zweiten Französischen Kaiserreich, war ein kleiner Teil des Areals dem Thema Sport und Ertüchtigung vorbehalten. Dort gab es u. a. das Modell einer »sächsischen« Turnhalle und neue Fahrräder zu bestaunen.

Wenn man bedenkt, dass der Sport bei diesen Veranstaltungen nur eine Randerscheinung war, ist es bemerkenswert, wie oft die Ausstellungen selbst mit den antiken Olympischen Spielen verglichen wurden – statt um panhellenische sportliche Wettkämpfe unter griechischen Stadtstaaten ging es nun um den globalen ökonomischen Wettbewerb zwischen modernen Nationen. Der Spectator beschrieb die Londoner Great Exhibition als »diese Olympischen Spiele der Industrie, dieses Turnier des Handels«. Die Amerikaner stellten 1876 in Philadelphia den gleichen Bezug her: »Was die Olympischen Spielen den Stämmen Griechenlands waren, das sind, im Geiste der modernen Zeiten, die universellen Ausstellungen den Stämmen, den Nationen der zivilisierten Welt.«

So schön diese Analogie auch war, spielte der Sport bei den Ausstellungen bis zum Ende des Jahrhunderts weiterhin nur eine Nebenrolle. Kein Wunder, war die aktive Teilnahme im organisierten Sport in den meisten entwickelten urbanen Kulturen Westeuropas und der Vereinigten Staaten doch immer noch begrenzt. So war dann auch die größere Präsenz des Sports bei der Exposition Universelle 1889 in Paris ein Zeichen seiner wachsenden Popularität und Bedeutung. Damals organisierten Coubertin und die USFSA im Rahmen der Weltausstellung einen Kongress für Leibeserziehung und präsentierten Schulspiele, Leichtathletik, Ruder- und Schwimmturniere, eine Demonstration der schwedischen Heilgymnastik und ungemein populäre schottische Highland Games.

Für die Weltausstellung in Chicago kuratierte der Anthropologe Stuart Cullin eine groß-artige Ausstellung zum Thema »Spiele der Welt«, die Karten-, Brett- und Würfelspiele aus zahlreichen Kulturen versammelte. Auch den Produkten der florierenden Sportartikelindustrie wurde einiger Platz eingeräumt. Im Stock Pavilion, einer Arena für 15.000 Zuschauer, wurden abwechselnd Viehmessen und sportliche Spektakel dargeboten, u. a. Massenvorführungen deutsch- und tschechisch-stämmiger Turnfreunde, eine Lacrosse-Partie zwischen Mannschaften amerikanischer Ureinwohner, Gaelic und Association Football sowie fünf American-Football-Spiele, eins davon ein frühes Flutlichtexperiment. Drei Monate nach der Eröffnung entschlossen sich die von finanziellen Problemen geplagten Veranstalter, grelle Belustigungen zu veranstalten wie Schwimm- und Bootswettbewerbe zwischen Mannschaften aus Zulus, Südamerikanern, Indianern, Bewohnern des Königreichs Dahomey und Türken, die von diversen Ständen und Attraktionen auf der Midway Plaisance rekrutiert wurden. Die Chicago Tribune berichtete: »Die Rennen erregten Aufsehen durch den Mangel an Kleidung, die die Teilnehmer trugen, und der Ernsthaftigkeit, mit der sie sich an die Aufgabe machten, Fünf-Dollar-Goldstücke zu gewinnen.«4

So war der Sport zur Jahrhundertwende ein fester Bestandteil im Veranstaltungskalender der Weltausstellungen geworden, in seiner erbaulich pädagogischen Form, aber auch als kommerzielles Unterfangen und als Kuriosität oder theatralisches Spektakel. Alle drei Elemente prägten die Olympischen Spiele von 1900, 1904 und 1908, die parallel zur Exposition Universelle in Paris, der Louisiana Purchase Centennial Exposition in St. Louis und der Franco-British Exhibition in London ausgerichtet wurden.

Coubertin war sich natürlich darüber im Klaren gewesen, dass sein Plan, die Spiele 1900 in Paris auszutragen, mit der Exposition Universelle zusammenfallen würde, die ihrerseits seit 1892 in Planung war. In der Annahme, dass die Organisatoren die Olympischen Spiele als Kronjuwel des Sportprogramms begrüßen würden, richtete der Baron ein Komitee ein und stellte für Alfred Picard, den gestrengen Generalkommissar, der für die ganze Sache zuständig war, einen ehrgeizigen Plan auf. Coubertins Anregungen wurden indes nicht sonderlich ernst genommen. Picard hielt das ganze Projekt für absurd, und ohnedies hatten die Organisatoren längst vorgehabt, ein sehr umfangreiches Programm sportlicher Aktivitäten unter der Leitung von Daniel Mérillon, dem Präsidenten des französischen Schützenbundes, einzubeziehen, die »Concours internationaux d’exercices physiques et de sports« (Internationale Wettbewerbe für Leibesübungen und Sport). Es wird bisweilen behauptet, das IOC habe die Kontrolle über die Spiele von 1900 abgegeben, aber in Wirklichkeit wurde ihm von Anfang an lediglich eingeräumt, einen Teil des Ausstellungsprogramms mit dem Etikett »olympisch« zu versehen. Coubertin machte viel Aufhebens um Kleinkram, hatte letztlich aber fast keinen Einfluss auf irgendeinen Aspekt der Spiele.

1904 verhielt es sich kaum anders. Coubertins Reisen durch die Vereinigten Staaten und die offenkundigen Stärken der dortigen Amateur- und Hochschul-Sportkultur machten das Land zur logischen Wahl für die dritten Spiele. Diskret ermunterte er seine Kontakte in Chicago, sich zu bewerben, und im Sommer 1900 bildeten William Harper, seines Zeichens Präsident der University of Chicago, und der renommierte Anwalt Henry J. Furber ein Komitee, das beträchtliche Unterstützung von den exklusiven Sportklubs und Investoren der Stadt erhielt. Trotz einer späten Bewerbung von St. Louis erhielt Chicago 1901 den Zuschlag; Tausende Studenten der Universität feierten mit einem riesigen Freudenfeuer auf dem Marshall Field. Anfang 1901 wurden mit einer Aktienemission Gelder aufgebracht, Pläne für ein neues Stadion am Michigansee mit einer frühen Version eines ausfahrbaren Dachs vorgestellt und, da inzwischen der Sportartikelhersteller Albert G. Spalding dem Komitee angehörte, außerdem die Idee einer großen olympischen Sportartikelausstellung ins Spiel gebracht.

Im Mai 1902 aber wurde die Louisiana Purchase Centennial Exhibition, eine Weltausstellung, die ursprünglich 1903 in St. Louis stattfinden sollte, um ein Jahr auf 1904 verschoben. Ein Konflikt mit den Olympischen Spielen in Chicago war unausweichlich, und die Organisatoren der Ausstellung, die bereits Millionen von Dollar in das noch immer unvollendete Messegelände versenkt hatten, kündigten umgehend an, alternative sportliche Veranstaltungen abzuhalten. Die Macher in St. Louis arbeiteten jetzt auf Hochtouren, buhlten um die Unterstützung der American Athletic Union und statteten Chicago zwei ominöse Besuche ab. Alfred Burnham, einer der Anteilseigner der Spiele in Chicago, schrieb, dass »die Leute aus St. Louis ‷Liebe machen‹ mit der AAU« und »sämtliche Register ziehen«, um die Stadt zum Verzicht auf die Spiele zu bewegen.5 Die Gefahr einer sportlichen Alternative in St. Louis zu Olympischen Spielen in Chicago und das Scheitern der Stadionpläne aufgrund von Planungsvorgaben veranlassten Henry J. Furber, gegenüber der Chicago Tribune zu erklären: »Wir haben aufgegeben.« Per Telegramm teilte er Coubertin mit, dass es Änderungen geben müsse. Coubertin nahm es hin, blieb den Spielen aber demonstrativ fern.

Coubertin wäre es wohl lieber gewesen, die Olympischen Spiele 1906 in Athen hätten gar nicht stattgefunden. In seinen Memoiren schreibt er über die Spiele unverblümt: »Jeglicher Reiz ging ihnen ab.« Erneut war dies eher eine Beurteilung der politischen Begleitumstände als der Veranstaltung selbst. Seitdem König Georg während der Spiele von 1896 vorgeschlagen hatte, Griechenland zur ständigen Heimat der Olympischen Spiele zu machen, waren das Königshaus und seine Unterstützer sehr umtriebig gewesen. Ein Gesetzentwurf, der das griechische Gastgeberrecht verankerte und ab 1898 Olympien im vierjährlichen Rhythmus vorsah, wurde ausgearbeitet und vom Parlament verabschiedet. Dann aber kam ein griechischer Aufstand auf dem damals osmanischen Kreta dazwischen, der in den kurzen Türkisch-Griechischen Krieg von 1897 mündete, so dass man einstweilen anderweitig beschäftigt war. Gleichzeitig waren die Befürworter der Griechen beim IOC am Werk.

Coubertin lehnte die griechischen Anträge weiterhin ab und wollte ihnen bestenfalls die Austragung panhellenischer Wettkämpfe zugestehen, ganz gewiss aber keine offiziellen Olympischen Spiele; 1901 jedoch ließen die deutschen Mitglieder des IOC über den Vorschlag der Griechen abstimmen, eigene, den Olympiaden des IOC zwischengeschaltete Spiele ausrichten zu dürfen, und setzten sich durch. Ungeachtet des vernichtenden Desinteresses seitens Coubertins, waren viele Mitglieder des IOC von den Plänen begeistert und wohnten den Spielen 1906 in großer Zahl bei. Der Baron schmollte derweil in Paris auf einem selbst auf die Beine gestellten Kongress für Kunst und Sport. Die politische Instabilität im Osmanischen Reich bewahrte ihn vor weiteren ärgerlichen Eingriffen in seine Pläne. Die griechische Regierung setzte Komitees ein, um weitere Olympiaden in den Jahren 1910 und 1914 zu organisieren, die aber beide vereitelt und dann auf die lange Bank geschoben wurden, zunächst aufgrund der bitteren Verstrickungen des Landes in Makedonien 1907 und 1908, später wegen der Balkankriege von 1912 und 1913.

Coubertin hatte sich seit Langem für Rom als Austragungsort der Spiele 1908 stark gemacht und begründete seine Wahl recht blumig damit, dass »nur dort allein, nach seinen Exkursionen ins utilitaristische Amerika, Olympos die kostbare, mit Geschick und Umsicht gewebte Toga anlegen könnte, in die ich ihn von Beginn zu kleiden gedachte«.6 Ein Organisationskomitee wurde gebildet, das es aber nicht schaffte, ein Budget zu erstellen, Mittel aufzubringen oder sich mit sportlichen und finanziellen Interessen im Norden des Landes zu arrangieren. Als sie kurz davor waren, die Spiele an das IOC zurückzugeben, bot sich den Italienern mit dem Ausbruch des Vesuvs die Chance, auf ehrenvolle Weise auszusteigen. Darauf verweisend, dass die knappen Gelder für den Wiederaufbau gebraucht würden, zogen sie sich zurück und machten damit den Weg frei für London und das britische aristokratische Sport-establishment. Die Olympischen Spiele 1908 in London wurden von der Sorte Gentlemen-Athleten organisiert, wie sie Coubertin am liebsten war, darunter der Vorsitzende der British Olympic Association, Lord Desborough, ein Politiker und Multisportler, Großwildjäger und Bergsteiger, begabt im Fechten, Cricket und Rudern. Und dennoch hing die ganze Veranstaltung von der Unterstützung Imre Kiralfys ab, eines ungarischen Juden und Theaterdirektors, dessen Franco-British Imperial Exhibition das Stadion und die Kulisse für die Spiele bereitstellen würde.

1912 bekam Coubertin endlich, was er sich erhofft hatte. Inzwischen hatte er die Kontrolle über das IOC zurückgewonnen, eine Reihe von Gegenspielern neutralisiert oder beseitigt und frische Kräfte angeworben, die sein Vermächtnis sichern würden, wie den japanischen Erziehungsreformer Kanō Jigorō, das erste asiatische Mitglied des Komitees, und den belgischen Grafen Henri de Baillet-Latour, der schließlich Coubertins Nachfolger werden sollte. Nachdem sie die Bewerbung Berlins zurückgewiesen und den Deutschen dafür die Spiele 1916 in Aussicht gestellt hatten, übergaben Coubertin und das IOC die Spiele 1912 an Stockholm und in die sicheren Hände des schwedischen Königshauses, der Armee und des ausgesprochen distinguierten Sportestablishments des Landes. Die Vergabe der Spiele war gebunden an die Forderung, die Spiele müssten »mehr rein athletischer Natur gehalten werden; sie müssen würdevoller sein, dezenter; mehr in Übereinstimmung mit den klassischen und künstlerischen Erfordernissen; intimer«.7 Vor allem würden dies die ersten Spiele seit 1896 unter der Leitung des IOC sein: losgelöst von Weltausstellungen und Messen, stattdessen jetzt mit der Feierlichkeit und dem Auftritt gesegnet, die Coubertin der Bedeutung des Projekts für angemessen erachtete.

Trotz gelegentlicher Fehltritte und einem gewagten Flirt mit der kommerziellen Volksnähe der Weltausstellungen waren die Spiele des IOC am Ende der Belle Époque noch immer eine glanzvolle Welt des vornehmen europäischen Amateursports. Einige wenige Profis aus der Arbeiterklasse schlüpften durch die Hintertür herein, doch sie wurden brüsk wieder abgewiesen. Weibliche Schwimmer, Bogenschützen, Tennisspieler und Golfer sprengten zumindest teilweise den rein männlichen Rahmen, der noch 1896 in Athen vorherrschte, doch im Großen und Ganzen blieben die Spiele und die meisten Disziplinen eine Domäne der Männer. Auf seine Art und Weise war Stockholm 1912 ein großer Erfolg, national wie international, und verankerte die olympische Bewegung sowohl in der globalen Kultur als auch im globalen Sport. Diese Verankerung war stark genug, dass die Institution und ihr Hang zum Pazifismus das Trauma des Ersten Weltkriegs überleben würde, der keine zwei Jahre später ausbrechen sollte. Das Gleiche galt leider nicht für die Dutzende Olympioniken, die in den Krieg ziehen und abgeschlachtet würden.

Die Spiele

Подняться наверх