Читать книгу Die Spiele - David Goldblatt - Страница 7

Оглавление

EINS

Baron de Coubertins Rede aus dem Jahr 1892 mag der wichtigste öffentliche Aufruf zur Einführung moderner Olympischer Spiele gewesen sein, aber sie war keineswegs der erste. Mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor beschwor der griechische Verleger und Ideologe Panagiotis Soutsos in seinem Gedicht »Dialoge der Toten« den Geist von Platon herauf und ließ ihn zur neuerdings unabhängigen, aber verheerten griechischen Nation sprechen. Was war das moderne Griechenland, das nun endlich von osmanischer Herrschaft befreit war? Wo waren seine großen Spektakel, Künste und sein Sport?1 Diese Fragen trieben ihn so sehr um, dass er in einem Schreiben an den griechischen Innenminister vorschlug, der griechische Staat solle die antiken Olympischen Spiele wiederbeleben, im jährlichen Wechsel an vier verschiedenen Orten von besonderer Bedeutung für die junge Nation: Athen, die neue Hauptstadt; Tripoli, im Herzen der Peloponnes; Mesolongi, eine Bastion des griechischen Widerstands im Unabhängigkeitskrieg; und die Insel Hydra, von wo ein Großteil der griechischen Seestreitkräfte stammte.2 Olympia selbst lag damals noch bis auf wenige Mauern und Säulen unter Schlamm und Schlick begraben.

In diesem Fall war die Berufung auf die antiken Spiele eng an ein griechischnationales Projekt gebunden. Doch schon seit mehr als 300 Jahren hatten die Europäer, gespeist von der Wiederentdeckung und Neubelebung der verlorenen Literatur des Altertums, die antiken Olympischen Spiele neu interpretiert, sich ihrer Metaphorik und Sprache bedient und sogar eigene olympische Feste ausgerichtet. Diese verknüpften die griechischen Spiele, wenn auch in anachronistischer Weise, mit so unterschiedlichen Motiven wie der Politik der Freuden der Gegenreformation in England und der volkstümlichen Feier der Französischen Revolution.

In den 60 Jahren zwischen Soutsos’ Gedicht und Coubertins Rede gab es Dutzende weiterer Sportfeste und Spektakel, die sich auf die Olympischen Spiele beriefen. Sie waren inzwischen geprägt vom Aufkommen und der Verbreitung moderner Sportarten sowie der Ausgrabung von Olympia selbst. Soutsos war der Erste, der zur Wiederbelebung der Spiele aufrief. Coubertin war der Erste, der den Gedanken an eine Form von Internationalismus band und in die Tat umsetzte. Beider Ideen aber entsprangen einem langwierigen und bizarren Aufeinandertreffen von europäischer Moderne und einem antiken sakralen Fest, das bereits, als Kolumbus Amerika entdeckte, seit tausend Jahren verschwunden war und über das bis heute nur Bruchstücke bekannt sind.

Die herkömmliche Geschichtsschreibung lehrt uns, dass der römische Kaiser Theodosius I. die Spiele im Jahr 392 n. Chr. per Edikt verbieten ließ und dass die Kultstätte in Olympia im Lauf der folgenden 200 Jahre durch Feuer und Vernachlässigung allmählich zerstört wurde. Erdbeben und Überflutungen im 5. und 6. Jahrhundert taten ihr Übriges, und die Stätte versank tief in abgelagertem Schlick. Was an Gebäuden noch übrig war, wurde wegen der Steine und der metallenen Halterungen und Dübel, welche die großen Säulen zusammenhielten, geplündert. Das eigentliche Ziel des theodosianischen Edikts waren aber heidnische Bräuche, insbesondere diejenigen der polytheistischen Staatsreligion des altrömischen Reiches, sowie deren Tempel, Orakel und Kultstätten. Die Umsetzung der theodosianischen Verfügung geschah indes relativ halbherzig, denn die Streitkräfte des Kaisers waren vollauf mit einem Bürgerkrieg innerhalb des Reichs und einem Grenzkrieg mit den Goten beschäftigt. Statt einen raschen Tod zu sterben, lebten die Spiele wohl noch eine Weile in verringertem Umfang fort, in einem zunehmend feindlichen Klima gegenüber ihren zentralen religiösen Praktiken und Bezügen. Der byzantinische Historiker Lukian berichtete, dass »die Olympischen Spiele lange Zeit existierten, bis zu Theodosius dem Jüngeren, dem Sohn des Arcadius«. Demnach verschwanden die Spiele endgültig erst unter Theodosius II., um 436 n. Chr.3

Vom früheren Glanz der Olympischen Spiele war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr viel übrig. Dem byzantinischen Geschichtsschreiber aus dem 11. Jahrhundert Georgios Kedrenos zufolge, war die gigantische Zeusstatue aus Gold und Elfenbein, die im Tempel des Gottes in Olympia gestanden hatte, in das Lauseion gebracht worden, wo sie in einem der gewaltigen Brände, von denen Konstantinopel regelmäßig heimgesucht wurde, um 475 n. Chr. schließlich zerstört wurde. Lukian schrieb: »Nachdem der Zeustempel in Olympia niedergebrannt worden war, wurden die Feste der Eleer und die Olympischen Spiele aufgegeben.«4 Erdbeben und Überschwemmungen machten der Kultstätte Mitte des 6. Jahrhunderts endgültig den Garaus.*5 Nachdem sie im Schlick versunken war, schenkten die jeweiligen Herrscher über die Peloponnes – die Byzantiner, Franken, Osmanen und Venezianer – der Kultstätte keine Beachtung mehr.

Mehr als ein Jahrtausend lang waren Worte alles, was von den Olympischen Spielen übriggeblieben war, doch auch sie mussten erst durch die humanistischen Gelehrten der Renaissance wiederentdeckt und zusammengetragen werden. Mit der größeren Verfügbarkeit von Büchern ab dem 16. Jahrhundert wurden Schlüsselwerke mit bedeutendem Material zu den Spielen einer kleinen, aber wachsenden lesenden Öffentlichkeit zugänglich, im griechischen und lateinischen Original wie auch in volkssprachlichen Übertragungen. In England beispielsweise erschienen allein im letzten Viertel des Jahrhunderts Übersetzungen von Plutarchs Große Griechen und Römer, Herodots Historien und Homers Ilias. Dank Homers Beschreibung der Leichenspiele für Patroklos vor den Mauern Trojas wussten interessierte Leser, dass Sport ein religiöser Ritus sein konnte. Von Plutarch erfuhren sie von der olympischen Karriere Alexanders des Großen und von Herodot, dass Olympia Ruhm jedweder Form versprach, aber keine Geldpreise.** Spätere Leser profitierten insbesondere von der Beschreibung Griechenlands des Reiseschriftstellers und Geografen Pausanias und seinen brillanten, detailreichen Darstellungen von Olympia und den Spielen.6 Das moderne Europa verstand zwar noch nicht, warum die Griechen Spiele ausgetragen und sie dermaßen verehrt hatten, aber wer Pausanias gelesen hatte, wusste gewiss um ihre Bedeutung: »Viel Sehenswertes ist in Griechenland zu schauen, und viele Wunder sind zu hören; nichts aber lässt der Himmel solche Achtsamkeit zuteilwerden wie den Mysterien von Eleusis und den Olympischen Spielen.«

Auch zeitgenössische Autoren ließen sich inspirieren. Im 3. Teil seines zu Beginn der 1590er Jahre verfassten Heinrich VI. lässt Shakespeare seinen Prinz Georg die Truppen Yorks anfeuern:

Und wenn’s gelingt, verheißet solchen Lohn,

Wie der olymp’schen Spiele Sieger tragen;

Ein Jahrzehnt später, in Troilus und Cressida, beschreibt der greise griechische Prinz Nestor seinen trojanischen Widersacher Hektor in der Schlacht folgendermaßen:

Dann sah ich dich verschnaufend Atem schöpfen,

Wenn dich ein Kreis von Griechen rings umschloss,

Wie ein olympischer Ringer.

1633 rühmte Michael Drayton den Anwalt Robert Dover als den »großen Erfinder und Helden der englischen Olympien«.7 Drayton, ein namhafter Dichter seiner Zeit, war einer von 33 Mitwirkenden der Annalia Dubrensia, einer Anthologie zur Feier von Robert Dovers Cotswold Games. Seit 1612 im natürlichen Amphitheater ausgetragen, das der Dover’s Hill bei Chipping Campden im Westen von England bildet, waren die Cotswold Games eine Mischung aus Volksfest und Historienspiel. Es wurde geschlemmt, getanzt und gespielt, außerdem gab es sportliche und andere Wettbewerbe, bei denen Geldpreise winkten. Auf dem Hügel wurde eine provisorische Burg errichtet, und eine große Menge versammelte sich, um bei Hasenjagd und Pferderennen, Ringen und Schienbeintreten, Stockkampf und Hammerwerfen zuzuschauen.

Dover wurde 1582 in Norfolk in die katholische Oberschicht des zunehmend protestantischen Englands Elisabeths I. hineingeboren. Nach seinem Studium in Cambridge praktizierte er als Anwalt am Gray’s Inn in London, bevor er sich auf sein kleines Anwesen auf dem Land zurückzog. Dem Vernehmen nach ein charismatischer, charmanter Mann, der Feste und Frohsinn liebte, begründete Dover die Cotswold Olimpick Games sowohl aus lokalpatriotischen als auch politischen Gründen. Ländliche Wettspiele und Volksfeste waren im England der Stuarts weit verbreitet, diskret von ansässigen Gönnern unterstützt, aber Dover stellte sich bei seinen Spielen selbst in den Mittelpunkt, machte sie bedeutend größer als vergleichbare Veranstaltungen und führte in abgelegten Kleidern von König Jakob I. durchs Programm. Die Spiele waren eine bewusste Feier des Regenten und seiner Haltung zu volkstümlichen Freuden und Festen, was angesichts der beständigen Zunahme eher militanter, asketischer und puritanischer Formen des Protestantismus im England des 17. Jahrhunderts eine Sache von dringender politischer Bedeutung war.

Ab etwa 1630 begannen puritanische Grundherren und Adlige, derlei Aktivitäten auf ihrem Grund zu untersagen, und schoben den Volksfesten einen Riegel vor. Der Ausbruch des Bürgerkriegs 1642 und die Niederlage der Royalisten 1645 machten den Lustbarkeiten endgültig den Garaus. Dover verstarb 1652 unter Cromwells streng asketischem Protektorat, und mit ihm verschwanden auch die Spiele. Nach der Wiederherstellung der Monarchie 1660 gab es eine Reihe von Neubelebungen, aber die Bezeichnung »Olimpick« kam abhanden, und Dovers Spiele, wenngleich stets populär und ausgelassen, waren bald nur mehr »ein versoffenes Volksfest wie jedes andere«.8

Die Cotswold Games mochten ihren Bezug zu Olympia verloren haben, aber in der Vorstellungswelt der europäischen Literatur und Volkskultur behielten die antiken Spiele ihren Platz. Im 17. Jahrhundert beschrieb John Milton in Paradise Lost die Flucht der satanischen Horden folgendermaßen:

Wetteifernd auf der Ebne miteinander,

Versuchten sie im schnellen Laufe sich,

Und schwangen in der Luft sich mit den Flügeln,

Wie im Olympischen Spiel auf Pythons Feld.

Etwas gefälliger schilderte Voltaire, wie er während seines kurzen Aufenthalts in England im frühen 18. Jahrhundert bei einem Sportfest am Ufer der Themse eintraf: »Ich glaubte, zu den Olympischen Spielen versetzt worden zu sein.«9 Friedrich Schiller, einer der deutschen Universalgelehrten der Aufklärung, führte in seinen Schriften zur Ästhetik die antiken Spiele als Beispiel für das »Spiel als ein Element des Schönen« an. Eher grotesk als grandios: 1786 berichtete die Londoner Presse von einer »burlesken Nachahmung« der Olympischen Spiele, bei der weibliche Kandidaten »auf ein Podium gestellt wurden, mit Pferdegeschirr, durch das sie sich präsentierten«. Über ihren Köpfen stand: »Der hässlichste Grinser wird der Sieger sein.« Als Preis winkte ein »goldverzierter Hut«. 1794 beschrieb die Times ein Wagenrennen, bei dem es in Newmarket zwischen Nanny Hodges und Lady Lads um die damals exorbitante Summe von 500 Guineas ging, als »so etwas wie eine Wiederbelebung der Olympischen Spiele, um den Rennbahn-Adel und den rapiden Verfall des Pferdesports anzusprechen«.*10

Ein weiteres halbes Jahrhundert lang waren populäre – wenn auch nicht elitäre – Einsichten in die Olympischen Spiele eher im Zirkus zu gewinnen als in der Bibliothek. Noch in den 1850er Jahren waren olympische Spektakel zu Pferde in New York in Franconi’s Hippodrome zu bestaunen, in ganz Großbritannien in Pablo Fanques fahrendem Circus Royal und in Edinburgh in Madame Macarte’s Magic Ring and Grand Equestrian Establishment. Pablo Fanque, Großbritanniens erster schwarzer Zirkusdirektor, und seine »unerreichte Reitertruppe« boten »neue und einfallsreiche Besonderheiten in den Olympischen Spielen«. Madame Macartes Plakate versprachen, dass die »außergewöhnlichen Umläufe der gymnastischen Lehrmeister klassischen Geistern nachdrücklich die alten Olympischen Spiele ins Gedächtnis rufen«.

Der ambitionierteste, aber glückloseste Erneuerer war Colonel Charles Random, ein Mann von unklarer sozialer Herkunft und noch unklarerer militärischer Vergangenheit, der das stattliche Anwesen Cremorne House in Chelsea im Londoner Westen erstand und dort 1831 »The Stadium« errichtete, mit vollem Namen »The British National Arena for Manly and Defensive Exercises, Equestrian, Chivalric, and Aquatic Games, and Skilful Amusing Pastimes«, also die »britische nationale Arena für mannhafte und wehrhafte Übungen, reiterliche, ritterliche und aquatische Spiele und kunstfertige unterhaltsame Kurzweil«. 1832 und noch einmal 1838 regte Random an, zur Feier der Krönung von Queen Victoria Olympische Spiele abzuhalten. Leider war seinen Bemühungen kein Erfolg beschert, und in »The Stadium« waren in den folgenden Jahrzehnten vor allem die Feste, Jahrmärkte und Spektakel zu sehen, wie sie typisch waren für einen etwas gewagten Lustgarten in viktorianischer Zeit.

Damit Europa einen umfassenderen Einblick in die Welt der antiken Spiele erhielt und sich ihr Einfluss auf die Vorstellungskraft des Kontinents herausbildete, brauchte es mehr als nur Worte. Jemand würde leibhaftig nach Olympia reisen und sich die Sache vor Ort anschauen müssen.

*Jüngere Analysen der Ablagerungen in Olympia haben ergeben, dass sie viel zu dick sind, um allein vom Fluss Kladeos zu stammen, der an der Kultstätte vorbeifließt. Tatsächlich deutet die Zusammensetzung der Sedimente, darunter Reste mariner Mikroorganismen, darauf hin, dass Olympia von katastrophalen Überschwemmungen heimgesucht wurde, verursacht durch Tsunamis – von unterseeischen Beben hervorgerufene Wellen, die gewaltige Wassermassen den Fluss hinauf und bis zur Kultstätte spülten.

**Herodot zufolge sehr zum Erstaunen der Perser: »Mardonios, was sind das für Menschen, gegen die du uns kämpfen lässt? Nicht für Geld treten sie an, sondern nur um des Ruhmes willen!«

*Man kann sich kaum etwas vorstellen, das weniger von einer Wiederbelebung der Olympischen Spiele hat als der Showdown in Newmarket. Zwar war Glücksspiel bei den antiken Spielen durchaus nicht unbekannt, Frauen und Geldpreise fehlten aber gänzlich, und die Spiele wurden eher zu Ehren Zeus’ abgehalten als zum Heil von Pferdenarren. Die besten Schilderungen der Spiele aus dem 18. Jahrhundert – wie die Dissertation on the Olympick Games des englischen Dichters Gilbert West aus dem Jahr 1749 und Jean-Jacques Barthélemys pittoresker Roman Reisen des jungen Anacharsis durch Griechenland von 1778 – basierten auf einer systemischeren und wissenschaftlicheren Lektüre der antiken Quellen als zuvor und hätten zumindest dies verdeutlicht. Aber warum sich von solchen Kleinigkeiten die schöne Show verderben lassen?

Die Spiele

Подняться наверх