Читать книгу Europäische Urbanisierung (1000-2000) - Dieter Schott - Страница 12
2.2 Wirtschaftliche und politische Rahmenbedingungen
ОглавлениеWie sah der Kontext dieser ländlichen Gesellschaft aus, in dem diese Städte-Inseln existierten und in dem dann nach 1100 eine neue „Stadtblüte“ entstehen sollte? Als Folge des Zusammenbruchs des Römischen Reiches und die Wirren der Völkerwanderung richtete sich das Wirtschaften weitgehend auf das Primat der kleinräumigen Selbstversorgung aus. Bis zum Karolingerreich war die Bevölkerung in den zuvor [<<27] römisch geprägten Gebieten nördlich der Alpen deutlich zurückgegangen. Um 800 lebten auf dem Gebiet der alten BRD 4–5 Menschen je km²; heute sind es 229.5 Die allermeisten Menschen, rund 95 %, waren im primären Sektor, der Erzeugung von Lebensmitteln, beschäftigt. Dies verweist zugleich auf ein Grundproblem der frühmittelalterlichen Gesellschaft: Wegen der sehr niedrigen Produktivität der Landwirtschaft konnte nur ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung, maximal 5 %, aus den agrarischen Überschüssen ernährt werden, die die restlichen 95 % erzielten. Weil Städte und städtische Bevölkerung in der Regel ihre Nahrungsmittel nur eingeschränkt selbst erzeugten, bildete die niedrige Produktivität der Landwirtschaft eine entscheidende Schranke für die Entwicklung des Städtewesens. Für eine proportionale Steigerung des Anteils der Stadtbewohner an der Gesamtbevölkerung bedurfte es daher zwingend einer Zunahme der agrarischen Produktivität, einer Vermehrung der Überschüsse. Nur wenn entweder das nähere Umland ausreichend Überschüsse erwirtschaften konnte oder die Lage einer Stadt so transportgünstig war, dass entsprechender Bedarf über Fluss- oder Seeschifffahrt aus weiter entfernten Regionen befriedigt werden konnte, waren die ressourcenmäßigen Voraussetzungen für städtisches Wachstum gegeben.
Wie war nun die wirtschaftliche und politische Verfassung des Früh- und Hochmittelalters beschaffen? Die mittelalterliche Gesellschaft wird als Feudalgesellschaft bezeichnet; strukturierendes Prinzip war das Lehenssystem, wonach vom König, dem im Prinzip aus dem Recht der Eroberung alles Land und alle Rechte gehören, seinen Gefolgsleuten, ursprünglich meist Kriegern, Grundstücke und die auf diesem Land lebenden Menschen zu Lehen gegeben wird. Dieses Land soll dazu dienen, den Unterhalt dieses Gefolgsmannes und seiner Familie zu sichern und seine Ausrüstung mit Waffen, Rüstung, Pferd usw. zu bezahlen. Im Rahmen der Lehenspyramide ergab sich dann im Laufe der Zeit ein mehrfach gestuftes System, weil die ursprünglichen Lehensnehmer Teile ihres Lehens weiter als Lehen vergaben.
Es gab nun verschiedene Formen der Herrschaft, die jeweils eigene Grundlagen hatten: Die Grundherrschaft beruhte auf der Überlassung von Bodennutzung als Lehen und äußerte sich in der Ableistung von Diensten und in Natural- oder Geldabgaben seitens der Bauern an den Grundherrn. Die Leibherrschaft bestand darin, dass die Hörigen in persönlicher Abhängigkeit von ihrem Leibherrn standen; im Unterschied zu [<<28] Sklaven konnten sie aber nicht frei verkauft werden, sondern nur im Zusammenhang mit dem Boden, den sie bewirtschafteten. Leibeigene waren also rechtlich gewissermaßen Teil des Landes, sie konnten nur mit Genehmigung ihres Leibherrn ihr Dorf verlassen, mussten Abgaben bezahlen. Gerichtsherrschaft bedeutete, dass ein weltlicher oder geistlicher Herr die Gerichtsrechte über einen Ort oder eine Region hatte. Recht zu sprechen war nicht nur eine Machtposition, sondern brachte angesichts der Gerichtsgebühren auch erhebliche Einnahmen. Landesherrschaft bezeichnete die vor allem politische und militärische Kontrolle über ein größeres Gebiet, die der Fiktion nach als Stellvertreter des Königs ausgeübt wurde, sich häufig aber, insbesondere wenn der König schwach oder weit entfernt war, mehr oder weniger verselbstständigte. Der Landesherr konnte bei Bedarf die ihm untergebenen Adligen zum Kriegsdienst aufrufen, er konnte von den Ortschaften seines Landes Beiträge zur Finanzierung von Heerzügen fordern. Hervorzuheben ist, dass die mittelalterliche Gesellschaft im Prinzip keine klare Trennung von Staat und Gesellschaft kannte. Die öffentlich-rechtlichen Funktionen der Feudalherren wie etwa Gerichtsherrschaft vermischen sich mit privatrechtlichen Komponenten, etwa die als Grundbesitzer. In bereits älter besiedelten Teilen Europas lagen die Funktionen von Grundherr, Leibherr und Gerichtsherr vor Ort oft nicht in einer Hand: Gerichtsherr war etwa ein anderer Adliger als der Grundherr. Diese Pluralität sorgte für eine gewisse Herrschaftskonkurrenz, die größere Spielräume für die Bauern und Leibeigenen schuf. Dagegen fielen in erst später im Zuge des Landesausbaus besiedelten Gebieten, etwa östlich der Elbe, die unterschiedlichen Herrschaftsfunktionen meist in einer Person zusammen, was eine stärker monolithische Herrschaftsstruktur zur Folge hatte.
Landwirtschaft wurde im Frühmittelalter und bis ins 12. Jahrhundert vorrangig in der Organisationsform der Villikation betrieben. Dies bedeutet, dass die Villa des Grundherrn, sein Wohnsitz, das Zentrum für die Verwaltung und Überwachung des ganzen Grundherrschaftsbereichs bildete. Das primäre Ziel des Wirtschaftens war, die Versorgung des Haushalts des herrschaftlichen Hofes sicherzustellen. Der Hof und die Villikation zielten daher auf Autarkie; es gab einen gewissen Grad von Arbeitsteilung innerhalb der Villikation, um neben den Grundnahrungsmitteln auch unverzichtbare gewerbliche Produkte zu erzeugen (z. B. Schmied, Küfer). Die Produktion für den Markt stand nicht im Vordergrund, wenngleich Überschüsse durchaus über den Markt vertrieben wurden. Zu einer Villikation konnten noch Hunderte von Familien in näherer oder weiterer Entfernung vom Salhof oder Herrenhof, dem Zentrum der Villikation gehören. Diese Familien trugen teilweise durch Arbeit auf dem Salhof, durch sogenannte Frondienste (z. B. während der Saat, der Ernte), teilweise durch Naturallieferungen in höherwertigen Gütern zur Wirtschaft der Villikation bei. Bei [<<29] großen Ausdehnungen der Villikation dienten Nebenhöfe mit einem Maior (Meier) als Unterzentren zum Sammeln der Naturalleistungen. Der häufige deutsche Name „Meier“ geht auf diese Funktion – Vorsteher eines Meierhofes – zurück. Insbesondere die großen Klöster hatten dieses Villikationssystem in extensiver Weise entwickelt; sie verwalteten teilweise weit verstreuten Grundbesitz, der über die ins Kloster eingetretenen Mönche und Nonnen in den Besitz des Klosters gelangt war. Die Villikation war allerdings nie die einzige Organisationsform des ländlichen Wirtschaftens. Gerade im Ostteil des Karolingerreiches überwogen nicht die großen, sondern eher kleinere und mittlere Grundherrschaften, was einerseits eine Dominanz von primär für den eigenen Bedarf produzierenden Bauernhöfen, andererseits ein freies, nicht in die Villikation eingebundenes Dorfhandwerk zur Folge hatte.
Bauern hatten in diesem Feudalsystem eine rechtlich untergeordnete, aber ökonomisch wesentliche Rolle: Sie waren keine Sklaven, wie eine große Zahl der Arbeitskräfte auf den Latifundien Roms, sondern Halbfreie: an die Scholle gebunden, konnten sie zusammen mit dem Land von ihrem Grundherren verkauft, verschenkt oder verpfändet werden. Sie waren dem Grundherrn gegenüber zu Arbeitsleistungen verpflichtet, insbesondere zu den Zeiten hohen Arbeitsanfalls bei Saat und Ernte. Diese Dienste waren in besonderen Pflichtenheften, sogenannten Urbaren festgehalten. Sie mussten darüber hinaus, insbesondere wenn ihr Hof weiter vom Fronhof entfernt war, Naturallieferungen leisten, etwa die bekannte Martini-Gans. Bei außergewöhnlichen Umständen, zum Beispiel dem Tod des Bauern, war durch Abgabe eines Kleidungsstückes oder eines Stücks Vieh eine Art Erbschaftssteuer („Todfall“) zu bezahlen. Häufig bewirtschafteten Bauern neben der Arbeit auf dem Fronhof auch noch ein mehr oder weniger großes Stück Land, das ihnen zwar nicht im modernen juristischen Sinn als Eigentum gehörte, für das sie aber, teilweise auch vererbliche, Nutzungsrechte hatten. Der Grundherr hatte prinzipiell die Verpflichtung, seine Bauern zu schützen und auch im Falle eines Ernteausfalls und dadurch bedingt einer Hungersnot dafür Sorge zu tragen, dass sie nicht verhungerten.6
Seit dem 9. Jahrhundert dynamisierte sich dieses auf Selbstversorgung autarker Einheiten ausgerichtete System allmählich; neben die Selbstversorgung trat allmählich auch die Produktion für Märkte. Arbeitsdienste und Naturallieferungen wurden in einem langwierigen Prozess partiell durch Geldleistungen abgelöst. Eine wesentliche Triebkraft für diese Dynamisierung war das Wachstum der Bevölkerung: Die Dichte [<<30] stieg von 4–5 Menschen pro km2 um 800 n. Chr. auf 12–15 um 1150 n. Chr. Besonders nach 1000 beschleunigte sich das Bevölkerungswachstum merklich.7 Dieses Wachstum vollzog sich, da die Produktivität der Landwirtschaft zunächst nur sehr langsam anstieg, vor allem durch die Erweiterung der landwirtschaftlich genutzten Fläche, auch Landesausbau genannt. Erste Schritte erweiterten die bereits erschlossene landwirtschaftliche Nutzfläche eines Dorfes, darauf folgte der Landesausbau durch Rodung und Urbarmachung neuen Siedlungslandes in bisher unbesiedeltem, weil bewaldetem oder zu feuchtem Gelände. Der Landesausbau führte zur Gründung zahlreicher neuer Siedlungen; im Rheinland verzehnfachte sich deren Zahl zwischen 800 und 1150.8
Neben die Extensivierung der Landwirtschaft trat allmählich auch eine Intensivierung: Vorherrschende Form der Bodennutzung war nördlich der Alpen um 800 häufig noch die sogenannte Urwechselwirtschaft, bei der Land für einige Jahre als Ackerland genutzt und dann der Verwilderung überlassen wurde. Nachdem der Boden sich durch Aufwuchs von Sträuchern und Bäumen wieder regeneriert hatte, wurde er erneut gerodet und für einige Jahre beackert. Diese semi-nomadische Art der Bodennutzung war außerordentlich flächenintensiv. Je dichter die Bevölkerung wurde, umso weniger war diese Form der Bodennutzung geeignet, genügend Nahrung zu produzieren. Vom Früh- bis zum Hochmittelalter vollzog sich daher ein Wechsel zur Dreifelderwirtschaft: Die Feldflur um ein Dorf war dabei in drei ungefähr gleich große Feldmarken aufgeteilt, die in Rotation mit unterschiedlichen Feldfrüchten bebaut wurden. Jeder Bauer eines Dorfes hatte Land in allen drei Feldmarken, die Bewirtschaftung der Feldmarken wurde, um Schäden durch das Überfahren mit Fuhrwerken zu minimieren, auf der Ebene des Dorfes genossenschaftlich vereinbart (Flurzwang). Der wesentliche Vorteil der Dreifelderwirtschaft war, dass durch den Wechsel der Anbaufrüchte eine zu einseitige Beanspruchung der Böden verhindert und durch das Brachejahr jeweils alle drei Jahre die Gelegenheit zur Regeneration des Bodens gegeben war. Während der Brache wurde das Brachfeld teilweise auch als Weide genutzt, was durch den dabei anfallenden Viehkot wiederum die Bodenfruchtbarkeit erhöhte.9 Die Produktivität der Landwirtschaft war zu diesem Zeitpunkt noch recht gering, Henning beziffert die Getreideerträge mit dem 2,5 bis 3-fachen der Saatmenge. Zur niedrigen Produktivität kamen starke Ernteschwankungen von rund 40 % des Nettoertrags. Außerdem waren die Möglichkeiten, Überschüsse aus guten Erntejahren bei gleichbleibender Qualität [<<31] langfristig zu lagern, recht begrenzt. Die früh- und hochmittelalterliche Gesellschaft war von daher eine Mangelgesellschaft, deren Existenz prekär war; Ernteerträge lagen nur wenig über dem Bedarf; das Überleben war ständig von Hunger und Unbillen des Wetters abhängig.10
Allerdings schuf allmählich die kontinuierlichere Produktion von vermarktbaren Überschüssen an Lebensmitteln auf ökonomischer Ebene größere Spielräume für die Bildung von Städten. Gleichzeitig machte der Landesausbau auch Verwaltungsmittelpunkte für die neu etablierten Märkte notwendig; Sitze von Adligen im Neusiedelland umgaben sich mit Kaufleuten und Handwerkern, die Märkte beschickten.