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1 Einführung: Fragen an eine Umweltgeschichte europäischer Städte

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Seit 2007 lebt die Mehrheit der Weltbevölkerung in Städten. Am Weltsiedlungstag 2008 sprach die damalige Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Heidemarie Wieczorek-Zeul vom „urbanen Jahrtausend“, in dem die Weltgemeinschaft jetzt angekommen sei.1 Menschheitsfragen sind daher in steigendem Maß „Stadtfragen“, Fragen danach, wie unsere Städte in Zukunft umgestaltet werden müssen, um den an sie gestellten Anforderungen im Sinne „nachhaltiger Entwicklung“, zu der sich die Weltgemeinschaft mit der Rio-Konferenz 1992 in der Agenda 21 verpflichtet hat, gerecht zu werden.

Die Dramatik dieses Beschlusses ist bislang in den westlichen Industriegesellschaften, die nach wie vor einen deutlich überproportionalen Anteil der globalen Ressourcen beanspruchen, nicht hinreichend erkannt worden. Denn eine konsequente Ausrichtung von Wirtschaft und Gesellschaft an den Prinzipien der Nachhaltigkeit würde eine Revision von Verhaltensweisen und Praktiken bedingen, die sich seit der Industrialisierung herausgebildet und anscheinend bewährt haben. Seit dem Beginn des Industriezeitalters lag dem Wirtschaften die häufig unausgesprochene, aber dennoch wirkungsmächtige Annahme zugrunde, die Ressourcen der Welt seien im Prinzip unerschöpflich.2 Mittlerweile wissen wir aber sehr genau, dass zentrale strategische [<<11] Ressourcen wie etwa das Öl durchaus endlich sind3, oder dass die Kernenergie nicht die nötige gesellschaftliche Akzeptanz besitzt. Aber auch dort, wo noch theoretisch Ressourcen für Jahrhunderte vorhanden sind – wie etwa global bei der Kohle –, wäre es aus Rücksicht auf das Weltklima und die drohende globale Erwärmung nicht ratsam, die Ressourcen in bisheriger Weise weiter zu verfeuern. Auch wenn auf weltpolitischer Ebene der Prozess der verbindlichen Klimaschutzabkommen derzeit stagniert, so ist die Prognose nicht allzu riskant, dass letztlich die Fragen nach einer Bewältigung der Energiewende, nach einem tief greifend veränderten Umgang mit nicht-nachwachsenden Rohstoffen, nach der Anpassung unserer Lebenswelt an die nicht mehr abwendbaren Folgen des Klimawandels die Überlebensfragen der nächsten Jahrzehnte sein werden.

Wo kommen hier nun Städte ins Spiel? Städte sind einerseits, als Schwerpunkte wirtschaftlicher Aktivität, die Hauptkonsumenten von Ressourcen und Energie; 75 % des globalen Energieverbrauchs erfolgt in Städten.4 Städte sind Konzentrationen von Konsumenten, sie bündeln Ressourcenverbrauch, bilden also wesentliche Teile des Problems nicht-nachhaltigen Umgangs mit Ressourcen. Zugleich bieten Städte gerade durch diese Verdichtung aber auch vielfältige Chancen zur Veränderung, weil diese Dichte im Prinzip ökonomisch und auch ökologisch sinnvolle Lösungen erlaubt, etwa in der effizienten Nutzung öffentlichen Nahverkehrs anstelle von motorisiertem Individualverkehr. Zahlreiche technische Lösungen, die ein urbanes Leben ermöglichen und erträglich gestalten, etwa Raumheizung/Klimatisierung und Warmwasserbereitung, lassen sich in Gebäuden mit mehr Bewohnern wesentlich effizienter und pro Quadratmeter und Bewohner/Nutzer kostengünstiger und weniger umweltbelastend realisieren als in frei stehenden Einfamilienhäusern im Grünen. Zudem bilden Städte auch Verdichtungen innovativer Problemlösungskompetenz.

Warum stellt sich die Veränderung von Städten, die Ausrichtung auf das Prinzip „nachhaltiger Entwicklung“, trotzdem als so schwierig und konfliktträchtig dar? Eine idealistische, vom guten Willen geprägte Umweltpolitik übersieht leicht die objektiven, gewissermaßen „in Stein“ gegossenen Hindernisse, die sich einem Umsteuern in den Weg stellen. Als bedeutsam und zugleich besonders widerständig erweisen sich hier die Strukturen der Siedlungsentwicklung, des Verkehrs, der Ver- und Entsorgung insbesondere der Städte der westlichen Welt. Diese Strukturen haben sich in ihrer aktuellen [<<12] Form in langfristigen Prozessen seit Mitte des 19. Jahrhunderts formiert und verfestigt. Sie bestehen einerseits aus Netzen, Röhren und Kanälen, aus Überlandleitungen, Pipelines und Straßennetzen, der materiellen „Hardware“ also. Wir erleben heute, dass diese Hardware vielfach – etwa aufgrund demografischer Veränderungen, aber auch qualitativen Wandels der Transportnotwendigkeiten, – nicht mehr dem veränderten Bedarf entspricht. Ein Beispiel solcher Beharrungskräfte ist die Kanalisationsinfrastruktur: In vielen deutschen und europäischen Städten ist die Kanalisation mittlerweile angesichts schrumpfender und alternder Bevölkerung überdimensioniert; zudem sind große Teile des Netzes dringend instandhaltungsbedürftig, was gewaltige Investitionen erfordert, und nur durch die „Vergeudung“ hoher Wassermengen in der Funktion aufrecht zu erhalten.5

Hindernisse liegen aber nicht nur in der Hardware, im baulich-materiellen, sondern auch in der Software, im kulturell-mentalen Bereich. Ein dichtes Regelungsgeflecht durchzieht die städtische Existenz: Wie wir Häuser bauen, wo wir wohnen, wie wir in Städten verkehren, wie wir die für unser Wohnen und Arbeiten notwendige Energie und Wasser beziehen und konsumieren, alle diese Aspekte sind in gesetzlichen und verwaltungsmäßigen Normen reguliert. Aber auch jenseits formeller rechtlicher Normierung haben sich durch jahrzehntelangen Umgang mit fließend Wasser, Gas und Elektrizität, mit Müllabfuhr und Nahverkehr kulturelle Konsumgewohnheiten und Erwartungsmuster herausgebildet, die uns mittlerweile als völlig selbstverständlich erscheinen und kaum kurzfristig veränderbar sind.6 Wir erwarten sauberes und trinkbares Wasser, wenn wir den Wasserhahn aufdrehen, Licht beim Anknipsen des Schalters. Diese Erwartungsmuster werden nur reflektiert oder infrage gestellt, wenn diese Systeme wegen eines Streiks oder einer Naturkatastrophe einmal nicht funktionieren oder wenn wir uns in Ländern der Dritten Welt aufhalten, wo der gewohnte scheinbar unproblematische Umgang mit diesen Selbstverständlichkeiten nicht möglich ist. [<<13]

Europäische Urbanisierung (1000-2000)

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