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Übertherapierung Die Deutschen sind Operationsweltmeister

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Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind nach Angaben des Herzberichts 2018 mit 37,2 Prozent Todesursache Nummer eins in Deutschland.11 Eine Volkskrankheit, der deutsche Ärzte mit drastischen Therapiemaßnahmen zu Leibe rücken. Die Bundesrepublik liegt weit vor Spanien, Frankreich, Italien und Großbritannien, was die Implantation von Herz-Stents angeht: Über 300.000-mal pro Jahr wird ein solcher Eingriff durchgeführt, grob verglichen zwei- bis dreimal so oft wie in anderen Ländern. Dabei haben deren Bewohner alle eine höhere Lebenserwartung, und die Kosten für die Gesundheitsversorgung liegen, wie wir im letzten Kapitel gesehen haben, pro Kopf wesentlich niedriger als bei uns.

Etwa jeder tausendste Mann bekommt in Deutschland einen Stent. Viele Herzpatienten werden fast automatisch ins Herzkatheterlabor geschickt. Dabei macht der Kardiologe mit einem Kontrastmittel per Röntgenaufnahme sichtbar, ob es an den Herzkranzgefäßen Verengungen gibt. Die Untersuchung ist heute schon fast so etwas wie eine Vorsorgemaßnahme geworden. Findet der Spezialist eine Verengung, was, wie Kardiologe Dr. Peter Neuner weiß, »bei einem 60-Jährigen durchaus der Fall sein kann«, setzt er dem Patienten unmittelbar nach der Untersuchung je nach Bedarf einen oder mehrere Stents. Das kann auch unabhängig vom Beschwerdebild geschehen.

Es ist fraglich, wie viele der verordneten Herzkatheteruntersuchungen tatsächlich erforderlich sind. Denn es braucht gar nicht unbedingt eine drastische Therapiemaßnahme, um einer Angina Pectoris beizukommen, wie eine Studie aus den USA belegt, die 2014 im Fachblatt Jama (Journal of the American Medical Association) zur Veröffentlichung kam. Koronare Herzerkrankungen lassen sich nämlich durchaus auch medikamentös behandeln. Von 5.000 betroffenen Patienten bekam die eine Hälfte Medikamente und einen Stent und die andere nur Medikamente. Nach fünf Jahren zeigten sich in beiden Gruppen keine bedeutenden Unterschiede, was die Todes-, Herzinfarkt- und Angina-Pectoris-Rate betraf.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch die ORBITA-Studie. Die Kardiologin Rasha Al-Lamee behandelte 200 Patienten mit Angina Pectoris, die unter einer fast 70-prozentigen Verengung der Herzkranzgefäße litten und vorab bereits medikamentös eingestellt worden waren. Allen wurde gesagt, dass sie sich einer Operation unterzögen, aber nur eine Hälfte der Probanden erhielt tatsächlich einen Stent, während bei der anderen der Eingriff lediglich simuliert wurde. Weder das Personal noch die Patienten wussten, wer wie behandelt worden war. In beiden Gruppen zeigte sich eine Besserung der Herzbelastbarkeit. Der Stent brachte keinen zusätzlichen Vorteil. Die Wissenschaftler thematisieren in diesem Zusammenhang den viel diskutierten Placebo-Effekt, da sich die Erwartung einer gesundheitlichen Besserung positiv auf die Befindlichkeit ausgewirkt hatte. Das Ergebnis der ORBITA-Studie legt nahe, dass der Nutzen dieses invasiven Eingriffs bei stabilen Herzproblemen überschätzt wird.

Trotz allem medizinischen Fortschritt gehen Forscher davon aus, dass die Zahl der Herzerkrankungen dramatisch zunehmen wird. Das betrifft nicht nur ältere Menschen, »auch die Zahl der Erkrankten unter 50 steigt«, so das Max-Planck-Institut.12 Hier stellt sich die Frage, ob es tatsächlich der richtige Weg ist, eine solche Volkskrankheit mit Übertherapien zu behandeln, die das Symptom zwar zunächst beseitigen, aber die Beschwerdeursachen nicht wirklich bekämpfen. Macht es nicht viel mehr Sinn, die individuellen Krankheitsrisiken wie Übergewicht, Stress, ungesunde Ernährung oder Rauchen von ärztlicher Seite her abzuklären und ihnen präventiv entgegenzuwirken? Wenn Stents keine hinreichend empirisch belegten lebensverlängernden Vorteile bei stabilen koronaren Erkrankungen bringen, ist es dann nicht effektiver, Herzprobleme zunächst mit konservativen Mitteln zu behandeln und den Patienten gleichzeitig engmaschig dabei zu betreuen, mittelfristig notwendige Veränderungen im Lebenswandel vorzunehmen, statt kurzfristig zu operieren?

Die Gesundheitslüge

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