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WARUM BABYS ECHTE FEINSCHMECKER SIND

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Erblickt ein Säugling das Licht der Welt, kann er sich kaum bewegen und auch nicht viel sehen. Wenn es aber ans Riechen und Schmecken geht, sind Babys echte Meister. Diese beiden Sinne gehören evolutionsbiologisch zu den ältesten: Wer überleben will, muss seit jeher zwischen essbar und ungenießbar unterscheiden können – da hilft es enorm, zu erschmecken, wenn etwas sauer ist, also möglicherweise verdorben, oder Fäulnis am Geruch zu erkennen. Neugeborenen indes dienen Riechen und Schmecken eher dazu, ihre Eltern wahrzunehmen – und so eine enge Bindung zu ihnen aufbauen zu können.

Und so entwickelt sich unser Geschmackssinn bereits im Mutterleib bis zur Perfektion. Während des zweiten Schwangerschaftsmonats bildet sich die Zunge mit den Geschmacksknospen aus – ab dem dritten sind sie mit dem Nervensystem des Gehirns verbunden und funktionieren. Zwischen fünftem und siebtem Monat ist ein Fötus buchstäblich ein Feinschmecker: Dann ist die Zahl der Geschmacksknospen am höchsten!

Der Sinn des Ganzen: Schon jetzt kann die Mutter ihren Nachwuchs auf die Nahrung prägen, die ihr selbst guttut. Dies geschieht über das Fruchtwasser: Ab dem vierten Schwangerschaftsmonat trinkt ein Fötus davon mindestens 200 Milliliter pro Tag. Inzwischen ist wissenschaftlich belegt, dass sich der Geschmack von Fruchtwasser ändert, je nachdem, was die Schwangeren häufig essen. Auf diese Weise erfährt der Fötus sehr früh die verschiedenen grundsätzlichen Geschmacksqualitäten, die wir mit der Zunge wahrnehmen – also süß, sauer, salzig, bitter und umami. Und kann genetisch angelegte Geschmacksvorlieben schon im Mutterleib ausbilden, wie inzwischen wissenschaftlich bewiesen ist. So zeigt sich etwa die Abneigung gegenüber Bitterem sehr früh: Geben Forscher eine bittere Flüssigkeit ins Fruchtwasser, stellen Föten das Trinken nicht nur sofort ein – ab der 26. Schwangerschaftswoche verziehen sie dazu wie Erwachsene auch den Mund und kneifen die Augen zusammen. Süßen die Forscher dagegen das sowieso süßlich schmeckende Fruchtwasser zusätzlich, trinken Ungeborene mehr.

Indes: Ohne unseren Riechsinn würde ein Geschmack auf lange Sicht fad bleiben. Um zu erfahren, wie entscheidend unsere Nase für die Frage ist, wie etwas schmeckt, genügt es, sich bei der nächsten Mahlzeit einmal die Nase zuzuhalten. Milchreis mit Zimt und Zucker wird schlicht süß schmecken – aber nicht nach dem Gewürz. Und Pizza irgendwie salzig – aber sicher nicht nach Tomaten, Kräutern oder dem spezifischen Aroma des darübergestreuten Käses. Das erlaubt erst der Riechsinn: Sobald wir etwas schlucken, steigen die Aromastoffe des Lebensmittels in die Nasenhöhle mit der Riechschleimhaut. Diese weist zehn bis 30 Millionen Zellen auf – mit Sinneshaaren, die wiederum eine spezifische Version von Duftrezeptoren tragen. Dadurch sind wir in der Lage, Millionen unterschiedlicher Gerüchte wahrzunehmen.

Essen wir also ein Vanilleeis, wird die Geschmacksqualität »süß« zusammen mit Informationen zur Textur sowie dem spezifischen Duftprofil über elektrische Reize ins Hirn gefunkt. Und erreicht dabei sehr schnell die Amygdala – ein Areal im sogenannten limbischen System des Gehirns. Dieses System verarbeitet Gefühle, lenkt Triebe, bewertet Situationen emotional – und sorgt dafür, dass wir diese wiedererkennen können. Außerdem ist das limbische System verantwortlich für die Ausschüttung von Endorphinen: Hormonen, die wie eine Art körpereigene Droge wirken – und beispielsweise Empfindungen wie Schmerz und auch Hunger mitregulieren.

Das limbische System funktioniert dabei wie eine Art riesiger Speicher: In ihm legen wir nicht nur den Geschmackseindruck an sich ab – sondern zugleich auch das Gefühl, das der Geschmack in uns ausgelöst hat, sowie die Umstände, unter denen wir diesen erfahren haben. Das Spannende: Begegnet uns ein Duft oder ein Geschmack wieder, wird er im Bündel abgerufen. Das erklärt beispielsweise, warum uns der weihnachtliche Duft frisch gebackener Plätzchen umstandslos in Omas Küche zurückversetzt und sich ein wohliges Gefühl der Geborgenheit in uns breitmacht. Und warum Menschen, die einmal eine verdorbene Bratwurst gegessen haben und sich danach übergeben mussten, vom Grillgeruch schlecht werden kann …

Außerdem wichtig: Während unser Gehirn optische, akustische und haptische Signale zunächst in einem evolutionsgeschichtlich weitaus jüngeren Areal des Gehirns, der Großhirnrinde, verarbeiten muss, ehe sie an das limbische System weitergeleitet werden, haben Sinneseindrücke von Nase und Zunge einen direkten Draht zu diesem Bereich. Wir nehmen Düfte und Geschmäcker also sehr schnell wahr. Das hat enorme Vorteile: Es erlaubt uns beispielsweise, den Geruch von Rauch in der Wohnung auf der Stelle mit »Gefahr« zu verbinden und rasch zu fliehen – und ermöglicht einem Baby, sich zu beruhigen, wenn es der Mutter nahekommt, deren individuellen Duft einatmet und ihren Herzschlag spürt.

Das komplexe Schmeck- und Riechsystem funktioniert bei Föten nachgewiesenermaßen bereits ab der 28. Schwangerschaftswoche. Dann reagieren die Ungeborenen erstmals auf Gerüche.1 Ab diesem Zeitpunkt sind sie damit in der Lage, Geschmack in dem Sinn zu erfahren, wie wir ihn als Erwachsene wahrnehmen: als eine Kombination von Aromen und grundsätzlichen Geschmacksqualitäten, die wir über Zunge und Nase erkennen und die den spezifischen Charakter unterschiedlicher Lebensmittel und Gerichte ausmachen – von Paprika bis Pesto.

Weil Schmeck- und Riechsinn so früh ausgebildet sind, bleiben einem Fötus beinahe drei Monate Zeit, um bereits im Mutterleib spezifische Geschmacksprägungen zu erfahren – und abzuspeichern. Wie gut das funktioniert, konnten Forscher sehr konkret nachweisen. So gaben sie für eine Studie Müttern im letzten Schwangerschaftsdrittel regelmäßig Anis zu essen.2 Deren Neugeborene reagierten – kaum auf der Welt – positiv darauf, wenn sie einen mit Anisöl getränkten Wattebausch unter die Nase gehalten bekamen. Kinder von Müttern, die keinen Anis gegessen hatten, reagierten dagegen negativ. Das Gleiche gilt auch für andere Lebensmittel: Isst die Mutter während der Schwangerschaft beispielsweise viel Knoblauch, mag das Kind diese Nahrungsmittel später sehr wahrscheinlich auch.3 Das erklärt, warum Kleinkinder hierzulande kaum ein Curry zum Frühstück essen würden – Kleinkinder in Indien dies dagegen oft mögen und stattdessen wohl bei einem Salamibrot schmal gucken würden.

Über den Sinn dieser frühen Geruchs- und Geschmacksprägung sind sich Wissenschaftler weitgehend einig. Die abgespeicherten Wahrnehmungen dienen Neugeborenen und Babys dazu, sich in der neuen Umgebung geborgen zu fühlen, die für sie nicht nur fremd, sondern zudem sinnlich nur beschränkt erfahrbar ist. Während wir als Erwachsene beispielsweise 80 Prozent aller Informationen über die Augen aufnehmen, können Neugeborene nur extrem unscharf sehen: Es sind vor allem Hell-Dunkel-Kontraste, die sie wahrnehmen. Dazu reicht ihre Sehkraft gerade einmal so weit, um beim Stillen das Gesicht der Mutter zu erkennen. In dieser Welt voller Unsicherheiten versprechen bekannte Gerüche und Geschmäcker Sicherheit und Orientierung: So riecht beispielsweise Muttermilch ähnlich wie Fruchtwasser – das macht es dem Baby leicht, die Brust zu finden und Muttermilch als Nahrung zu akzeptieren.

Kein Wunder, dass die Geschmacksprägung nach der Geburt in rasantem Tempo weitergeht: Nun ist es die Muttermilch, die dem Säugling eine Vielzahl an Aromen vermittelt – je nachdem, was die Mutter isst. Diese Geruchs- und Geschmackseindrücke bereichern das Gehirn und gewöhnen das Kind damit an das Spektrum von Nahrungsmitteln, das in der Familie häufig auf den Tisch kommt. Sobald die Beikost die Milch ergänzt und später ersetzt, verfestigen und erweitern sich diese Prägungen zusätzlich – stets nach dem Motto: Was für die Erwachsenen gut ist, kann für mich nicht schlecht sein.

All diese Ausführungen machen klar: Geschmäcker und Düfte weisen Babys und Kleinkindern ihren Platz in der Umgebung zu, bieten Sicherheit und das Gefühl von Geborgenheit. Aus diesem Grund ist unsere Fähigkeit, Gerüche und Geschmäcker zusammen mit Gefühlen und den Umständen der Situation als Erinnerungsbündel abzuspeichern, in den ersten 1000 Tagen am stärksten ausgeprägt. Was wiederum verdeutlicht, wie wichtig die Ernährung für die Frage ist, wie gut ein Kind auf »gesund« oder »ungesund« geprägt wird. Denn unser Archiv an Geschmäckern ist mitentscheidend dafür, welches Essen wir später lieben: je vielfältiger die Erinnerungen, desto vielfältiger und damit gesünder unsere Ernährung.

Die Macht der ersten 1000 Tage

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