Читать книгу Die Macht der ersten 1000 Tage - Dr. med. Matthias Riedl - Страница 16
WIE WIR WURDEN, WAS WIR SIND
ОглавлениеDie erste bedeutsame Veränderung, die uns die Evolution mitgab, war der aufrechte Gang. Unsere frühesten Vorfahren waren Waldbewohner, die ähnlich lebten wie heute Gorillas und unsere nächsten Verwandten, die Schimpansen. Sie bewegten sich auf allen vieren fort und konnten prima klettern. Als Klimaveränderungen die Wälder Ostafrikas langsam in steppenartiges Grasland verwandelten, begannen die frühen Menschen schließlich, immer aufrechter zu gehen. Das bot nicht nur den Vorteil, im dichten Gras Feinde früh genug ausmachen zu können, um noch zu flüchten. Zudem erlaubten es die frei gewordenen Hände, Werkzeuge zu verbessern und diese immer geschickter zu nutzen.
Mit dem aufrechten Gang veränderte sich zugleich die Ernährung unserer Vorfahren – und das wiederum beeinflusste weitere körperliche Merkmale. So nahmen unsere Ahnen vor etwa 1,8 Millionen Jahren erstmals Fleisch auf den Speiseplan: Zunächst aßen sie nur – frische – Kadaver oder Kleintiere roh. Damit ergänzten sie ihr Nahrungsangebot um ein Lebensmittel, das wesentlich mehr Energie liefert als jede pflanzliche Kost. Außerdem bildete das Fleisch eine bislang unerschlossene Quelle langkettiger Fettsäuren wie etwa Arachidonsäure, die leicht verdaulich sind.
Fleisch als Nahrungsmittel erlaubte es den Frühmenschen nicht nur, Trockenzeiten besser zu überstehen. Es gab auch den Startschuss zu einer neuerlichen körperlichen Weiterentwicklung im Vergleich zu ihren gorillaähnlichen Vorfahren. Die heutigen Gorillas gewinnen vier Fünftel der Energie, die sie pro Tag benötigen, aus faserigen Pflanzen – und haben, um diese verwerten zu können, einen enorm langen Dickdarm. Beim Menschen verkürzte sich dieser im Laufe der Evolution – weil Fleisch und die später gekochte pflanzliche Nahrung leichter zu verdauen sind als Rohkost. Auch Kiefer und die Zähne verkleinerten sich, musste das Gebiss doch weniger der zum Teil sehr harten pflanzlichen Nahrung zermalmen.
Eine weitere und ebenfalls bedeutsame Folge des Fleischkonsums für die körperliche Entwicklung: Das Hirnvolumen der Individuen wuchs. Die neu und in höherem Maße verfügbaren Fettsäuren bildeten die Bausteine, aus denen sich diese Menge an Hirngewebe überhaupt erst entwickeln konnte. Darüber hinaus stellte Fleisch – vor allem die Eingeweide von Tieren – eine reiche Quelle dar für Mineralien und Spurenelemente wie etwa Eisen, Jod, Zink, Vitamin B12. Auch diese Stoffe sind entscheidend dafür, dass sich das Nervensystem überhaupt derart vergrößern konnte.
Diese Entwicklung hat sich bis heute fortgesetzt: Aktuell verfügen wir Menschen über ein Gehirn, das etwa dreimal so groß ist wie das der Primaten im Durchschnitt. Auch dafür, dass das gewachsene Gehirn überhaupt arbeiten konnte, war der Fleischkonsum entscheidend: Gehirnzellen benötigen im Vergleich zu Skelettmuskeln beispielsweise etwa 16 Mal mehr Energie, um zu funktionieren – dies ging nur dank dem Mehr an Kalorien, das Fleisch im Vergleich zu pflanzlicher Kost lieferte.
Und noch etwas kam hinzu: Die hohe Energiedichte von Fleisch sorgte dafür, dass unsere Vorfahren immer weniger Zeit für Essen aufwenden mussten. Als sie einige Jahrtausende später außerdem noch lernten, Fleisch mit Werkzeugen mechanisch zu bearbeiten und zu zerkleinern, sparte das laut einer Studie von Wissenschaftlern der Universität Harvard zusätzlich etwa zwei Millionen Kaubewegungen pro Jahr.4 Anders als die Gorillas mussten unsere Ahnen also nicht mehr einen Großteil des Tages mit Essen zubringen.
Dieser Freiraum zusammen mit dem immer größer werdenden Gehirn erlaubte den Frühmenschen eine technische und soziokulturelle Weiterentwicklung. Sie fanden sich zu immer größeren Verbänden zusammen, begannen, Aufgaben gezielt untereinander aufzuteilen, entwickelten Strategien, um effizienter Knollen, Wurzeln und Früchte zu sammeln – und natürlich Beutetiere zu jagen.
Jede Entwicklung an der einen Stelle bedingte also weitere an einer anderen. Auf diese Weise nur war es möglich, dass die Frühmenschen nach ihrem Weggang aus den Wäldern zunächst die Steppe eroberten, um später in die feuchteren und damit fruchtbareren Küstengebiete im Norden Afrikas weiterzuziehen.
Ein weiterer Entwicklungsschub setzte ein, als die Menschen erstmals Feuer entfachten. Wann genau das geschah, ist unter Wissenschaftlern bis heute umstritten – aber der zündende Funke dürfte mehr als eine Million Jahre zurückliegen. Einige Jahrhunderttausende, nachdem sie das erste Mal um ein Feuer zusammensaßen, begannen die Menschen, Fleisch darin und darüber zu garen. Das machte die Nahrung nicht nur haltbarer, sondern auch noch leichter verdaulich. Auf diese Weise lieferte jedes Stück des eiweißreichen Lebensmittels noch mehr Kalorien – sowie zusätzliche Nährstoffe. Und verschaffte den Menschen noch mehr Freiraum, weitere Werkzeuge zu entwickeln und das soziale Netz untereinander immer komplexer zu spinnen.
Dazu bot es einen weiteren überraschenden, häufig übersehenen evolutionären Vorteil, dass unsere Vorfahren nun regelmäßig ums Feuer saßen und ausgerechnet Fleisch aßen: Dieses Lebensmittel macht uns sozial verträglicher. So zeigt eine Studie beispielsweise, dass wir Menschen nach dem Genuss von Eiweiß nicht nur gelassener sind, sondern auch bereitwilliger teilen.5 Das bildete ein echtes Überlebensplus, wenn man wie die Frühmenschen in Gruppen zusammenlebte – und so zumindest teilweise vom guten Willen der anderen abhing und deren Fähigkeit, nicht nur an sich selbst zu denken, sondern sozial zu handeln.
Vor etwa 300 000 Jahren schließlich entwickelte sich der frühe Vertreter des Homo sapiens, jener Spezies also, der wir heute angehören – und begann, Lebensräume außerhalb Afrikas zu besiedeln. Zum einen vermutlich deshalb, weil Klimaveränderungen die Küstengebiete auf der Arabischen Halbinsel fruchtbarer machten. Zum anderen, weil die Menschen immer geschickter mit Umwelt und Werkzeugen umzugehen wussten, was ein Bevölkerungswachstum auslöste – und damit den Zwang, sich neue Lebensräume zu erschließen.
2018 entdeckten Wissenschaftler menschliche Überreste in einer Höhle nahe der israelischen Hafenstadt Haifa. Den Fund datierten sie auf etwa 180 000 Jahre vor Christus: Er gilt als weiterer Beleg dafür, dass der Homo sapiens nach dem Auszug aus Afrika zunächst den Nahen Osten besiedelte. Anschließend wanderte er wohl weiter nach Südasien, Australien, später Zentral- und Ostasien und schließlich nach Europa und Amerika. In Europa stieß der moderne Mensch dabei auf den Neandertaler – und verdrängte diesen.
Doch die Evolution sorgte nicht nur dafür, dass sich unser Körper extrem wandelte und wir unser Nahrungsspektrum dadurch enorm erweitern konnten. Im Laufe der Jahrhunderttausende hat sie uns zudem auf ein spezielles Nahrungsangebot in dem jeweiligen Lebensumfeld geprägt. Und zwar ebenfalls mithilfe von Mutationen.
Das prominenteste Beispiel hierfür ist die Verträglichkeit von Milch. Über Millionen von Jahren hinweg produzierte lediglich der Dünndarm von Säuglingen und Kleinkindern das Enzym Laktase, mit dessen Hilfe der Körper Milchzucker aufspalten und damit Milch verarbeiten kann. Eine Genmutation, die erstmals vermutlich vor etwa 7500 Jahren auftrat, sorgte dann jedoch dafür, dass auch Erwachsene weiterhin Laktase produzierten. Und so auch in fortgeschrittenem Alter in der Lage waren, Milchzucker aufzuspalten und in Energie umzuwandeln.
Die ersten Milchtrinker lebten wahrscheinlich im heutigen Ungarn und Rumänien. Im Laufe der Zeit setzte sich diese Mutation in vielen Gegenden durch. Schließlich bot sie gleich mehrere evolutionäre Vorteile. Zum einen stellte Milch eine alternative Quelle für lebenswichtiges Vitamin D dar. Davon genug zu bekommen, war für die Menschen in nördlichen Breitengraden schwierig. Denn normalerweise bildet sich Vitamin D mithilfe von Sonnenlicht über die Haut. In Afrika kein Problem – in Nordeuropa jedoch, besonders in den Wintermonaten, ist die Sonneneinstrahlung häufig nicht intensiv genug. Neben Vitamin D liefert Milch aber auch viel Energie und wertvolles Eiweiß. Und so erweiterten Milch und die später daraus hergestellten Produkte wie Käse das Nahrungsmittelspektrum der Menschen enorm: Die Kindersterblichkeit nahm – in geringem Umfang – ab, Erwachsene überstanden Hungerperioden besser.
Kein Wunder also, dass das Aufkommen dieser Mutation zeitlich mit einer ernährungstechnischen und kulturellen Revolution zusammenfällt – der Entwicklung der Viehwirtschaft und damit der bäuerlichen Lebensweise.
Das besonders Spannende an der Ausbreitung der Genmutation, die die Milchverträglichkeit Erwachsener begründete: In Asien setzte sie sich nicht durch. Bis heute leiden beispielsweise neun von zehn Chinesen an einer Laktoseintoleranz – in Nordeuropa ist es nur einer von zehn. Forscher sehen den Grund für diese Auffälligkeit darin, dass es in Asien schlicht keinen evolutionären Vorteil bedeutete, Milch zu vertragen. Schließlich gab und gibt es natürlicherweise genug alternative Quellen, um sich mit Vitamin D und anderen milchspezifischen Nährstoffen wie Kalzium und Vitamin B12 zu versorgen – wie zum Beispiel Algen und Fisch.
Warum nun aber sollten alle, die ihr Kind auf »gesund« prägen oder aber sich selbst darauf umprogrammieren wollen, dies alles im Kopf behalten? Wenn doch alles so lang her ist? Vor allem aus zwei Gründen. Erstens zeigt uns der Blick in die Geschichte, dass uns die Evolution zum Allesfresser gemacht hat. Diese Fähigkeit, überall auf der Welt Nahrung zu finden in dem, was vor Ort wächst, in neuen Pflanzen und Tieren Lebensmittel zu erkennen, die den bekannten ähneln, stellt eine enorme Anpassungsfähigkeit in Sachen Ernährung dar – die uns als Art einzigartig macht. Sie war es, die es uns erlaubte, jeden Erdteil zu besiedeln. Allerdings: Fleisch machte über Jahrtausende hinweg stets nur etwa 20 bis 30 Prozent unserer Nahrung aus. (An dieser Stelle sei einmal im Streit zwischen einigen Veganern und Paleo-anhängern vermittelt: Letztere haben recht, wenn sie sagen, dass Fleisch für die Entwicklung von uns Menschen wichtig war. Die Veganerfraktion wiederum liegt richtig, wenn sie sagt, dass pflanzliche Proteine die wertvolleren seien – für unser heutiges Umfeld stimmt das. Denn anders als in der Frühzeit herrscht heute ein Überfluss sondergleichen, der bei den meisten Menschen zu einer stillen Entzündung im Körper führt. Und diese wird von tierischen Fetten, insbesondere aus Schweinefleisch, extrem befeuert. Hier zu sparen – und nicht wie die Paleovertreter jeden Mittag Steak zu essen – hilft der Gesundheit.)
Der zweite Grund, warum wir unsere Geschichte im Kopf behalten sollten: Im Laufe der Evolution hat sich der moderne Mensch mit seiner Ernährung an spezifische Lebensumgebungen mit ihren ganz speziellen und jeweils extrem unterschiedlichen klimatischen Bedingungen angepasst. Der Frühmensch auf der Karibikinsel ebenso wie der in Norwegen oder etwa in Australien. Das spiegelt sich auch in unserem Erbgut. Denn von Erdteil zu Erdteil zu jetten, ist ein Phänomen, das sich erst in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat. Traditionell ist der Mensch sesshaft. Und deshalb eben mit seiner Ernährungshistorie auf ein bestimmtes Nahrungsspektrum hin optimiert.
Wie aber beeinflusst die Evolution unser Ernährungsverhalten im Alltag konkret? Inwieweit bestimmt sie, was wir mögen und wie wir essen? Gibt es evolutionsbiologische Mechanismen, an denen wir die Wirkmächtigkeit evolutionärer Prägung jeden Tag aufs Neue ablesen können? Antworten auf diese Fragen werden die nächsten Seiten geben. Und belegen: Unser evolutionäres Erbe ist absolut präsent.