Читать книгу Die Macht der ersten 1000 Tage - Dr. med. Matthias Riedl - Страница 12
WARUM WIR EWIG BABYS BLEIBEN SOLLTEN – UND HUNGER NICHT GLEICH HUNGER IST
ОглавлениеWie wir gesehen haben, kommen Babys in Sachen Geschmack und Nahrungsaufnahme als Großmeister zur Welt. Vieles müssen sie lernen – ihr Hunger-Sättigungs-Regelkreis jedoch funktioniert perfekt, und ihr Geschmacks- und Geruchssinn ist so gut entwickelt, dass sie niemals Verdorbenes oder Giftiges essen würden. Denn das schmeckt sauer oder bitter – beides Geschmacksqualitäten, die Babys erkennen und ablehnen.
Ernährungsmediziner sind sich deshalb sicher: Würden wir ewig in diesem Entwicklungsstadium verharren – niemand hätte Probleme mit Übergewicht. Denn kein Baby wird sich je überfuttern! Stattdessen leben – und essen – Menschen in der Frühphase konsequent nach den zwei Primärbedürfnissen, mit denen sie auf die Welt kommen: satt sein – und zufrieden! Die Signale, wann dieser Zustand erreicht ist, nehmen Babys und Kleinkinder sehr genau wahr. Ein Kind etwa, das gestillt wird, hört auf zu saugen, wenn es satt ist – und schläft dann meist ein, als Beleg für die Zufriedenheit.
Diese Fähigkeit, nur dann zu essen, wenn wir hungrig sind, kann uns bis ins Erwachsenenalter erhalten bleiben. Jedoch nur dann, wenn Eltern die entsprechenden Hunger- und Sattsignale ebenfalls wahrnehmen – und sie vor allem akzeptieren. Den fein austarierten Regelkreis also nicht stören. Genau das jedoch passiert schnell, etwa wenn Mütter ihr Baby wecken und es an die Brust legen, weil sie denken, das Kleine hätte zu lange nichts gegessen. Oder aber Väter dem Kleinkind später einen Cracker hinhalten, um es damit dazu zu bringen, sich jetzt ohne Geschrei anziehen zu lassen (warum dies ungesunden Ernährungsmustern den Weg bahnt, erklärt das Kapitel zur idealen Prägung ab >).
Doch selbst wenn Eltern sich so angemessen wie möglich verhalten und den Hungerkreislauf nicht stören: Die Gehirnentwicklung der Kinder schreitet mit jedem Monat voran – und damit tritt zwangsläufig eine zweite Form von Hunger auf den Plan. Denn sobald Kleinkinder in der Lage sind, eigene Entscheidungen zu treffen, Unwillen oder Begehrlichkeiten – meist lautstark – kundzutun, beginnt das Essverhalten, sich zu verändern. Es ist dann nicht mehr allein das Primärbedürfnis, satt zu sein, das darüber entscheidet, was und wie viel wir essen. Vielmehr kommen Sekundärbedürfnisse dazu, wie etwa Appetit und Lust am Essen. Ein Kind isst dann nicht mehr allein deshalb, um seinen Körper mit Energie zu versorgen. Sondern auch, weil ein Eis beispielsweise extrem gut schmeckt. Weil es Genuss bedeutet, ein spezifisches Wohlgefühl auslöst, das wir immer wieder fühlen wollen. Auf dem Rücken des Genusses kommen also Verlangen und Appetit in unser Leben geritten – der sogenannte hedonistische Hunger.
Passenderweise spielen sich die dazugehörigen Prozesse nicht mehr im Hunger- und Sättigungszentrum ab – sondern im Belohnungszentrum sowie in Hirnarealen, die für Entscheidungen und Motivation zuständig sind. Diese Bereiche unseres Nervensystems gehören zu den ältesten überhaupt: Wir teilen sie mit sämtlichen Wirbeltieren, mit Fischen, Vögeln und natürlich auch den Säugetieren, denen wir selbst angehören. Wenn ein Kind losläuft, um sich ein Stück Kuchen vom Tisch zu stibitzen, sind in seinem Kopf die gleichen Areale aktiv, die etwa einen Fisch in die Lage versetzen, sich zu entscheiden, ob er lieber vor dem Hai flüchten oder sich dem Fressen widmen soll. Sobald wir uns also entscheiden, ob und was wir essen, nutzen wir eine Hardware, die sich evolutionär vor Hunderten Millionen Jahren entwickelt hat.
Außerdem wichtig: Den hedonistischen Hunger müssen wir lernen – mit dem anderen kommen wir auf die Welt. Der Lehrmeister dabei ist ein körpereigener Stoff, der beispielsweise auftritt, wenn wir das erste Mal ein Eis essen. Um zu verstehen, wie wir uns das Verlangen nach der kalten Süßigkeit aneignen, lassen Sie mich vorab ein anderes Beispiel anbringen. Stellen wir uns ein Baby vor, das zum ersten Mal erfolgreich nach seinem Fuß gegriffen hat. Der Körper wird diesen Erfolg belohnen, indem er Dopamin ausschüttet – eines der vier Glückshormone, die uns Wohlgefühl vermitteln. Das Baby fühlt sich also gut, wird dieses Wohlgefühl mit dieser spezifischen Bewegung verknüpfen und gemeinsam abspeichern. Und weil es sich natürlich immer wieder gut fühlen will, wird es wie von selbst die Bewegung wiederholen: Damit hat das Dopamin seine Funktion als positiver Verstärker erfüllt. Denn dieses Glückshormon ist vor allem dazu da, um uns dabei zu helfen zu lernen, Ziele zu erreichen, uns weiterzuentwickeln.
Dieses Beispiel lässt sich beinahe eins zu eins aufs Essen übertragen – denn auch hier, bei der Ausprägung von Essgewohnheiten, spielt Dopamin die entscheidende Rolle. Sobald der erste Löffel Vanilleeis auf der Zunge eines Kindes schmilzt oder ein Stück Schokolade, schüttet das Belohnungszentrum im Gehirn extrem viel Dopamin aus – und verschafft uns damit ein herrliches Wohlgefühl. Weil sich das Kind also prima fühlt, wenn es das Eis isst, wird sein Gehirn diesen Geschmackseindruck mit dem Prädikat »wertvoll« und damit »erstrebenswert« versehen und abspeichern. Kaut ein Kind dagegen auf einem Stück Gurke herum, fließt wenig bis gar kein Dopamin.
Warum das so ist? Mithilfe des hedonistischen Hungers will uns das Gehirn dazu bringen, möglichst oft und möglichst viel hochkalorische Nahrung zu uns zu nehmen. Evolutionär betrachtet ein äußerst sinnvolles Prinzip! Denn über Jahrhunderttausende hinweg waren Fett und Zucker absolute Mangelware, und der Hungertod bildete eine der größten Bedrohungen: Wer also ordentlich zulangte, wenn denn einmal viele Früchte am Baum hingen oder ein großes Tier in die Falle gegangen war, erhöhte seine Chancen, zu überleben, und damit zugleich die Wahrscheinlichkeit, sich fortzupflanzen und seine Gene weiterzugeben. Gurke dagegen versprach weniger Energie und bot damit nur einen geringen Überlebensvorteil.
Dopamin ist also der Schlüsselbotenstoff, wenn es darum geht, uns Geschmacksvorlieben einzuprägen. Und er spielt auch eine Schlüsselrolle bei der Frage, warum wir oft essen, obwohl wir gar keinen Hunger haben: schlicht, weil das gute Gefühl, das hochkalorisches Essen auslöst, negative Emotionen wie Stress oder Traurigkeit niederringen kann – wenn auch nur kurzfristig. Das erklärt im Ansatz, warum der evolutionäre Vorteil, den Dopamin als Lehrmeister lange versprach, zur Falle wird in einer Zeit wie der heutigen, in der statt Mangel Überfluss herrscht.
Nun, da klar ist, was in den ersten 1000 Tagen unseres Lebens passiert, wie Hunger, Sättigung und Geschmack funktionieren, ist es an der Zeit, einen genaueren Blick auf die Frage zu werfen, warum wir essen, wie wir essen. Was also genau über unsere Prägung entscheidet. Welche Rolle die Evolution auf der einen und unsere Eltern auf der anderen Seite dabei spielen, werden die nächsten Kapitel zeigen.