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DER START INS LEBEN – WARUM ER SO BEDEUTSAM IST

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Die ersten 1000 Tage unserer Menschwerdung, also die Zeit zwischen der Zeugung und dem zweiten Geburtstag, ähneln einem Spurt, den wir über viele Monate hinweg durchhalten: Aus einer einzelnen Eizelle entwickeln wir uns zum Kind, das herumlaufen und hüpfen kann, seine Eltern imitiert und mehrere Dutzend Wörter kennt. Nie wieder, da sind sich alle Wissenschaftler einig, geschieht so viel so schnell in unserem Leben.

Das macht die ersten 1000 Tage zu einem einzigartigen Zeitfenster. Einem, das voller Chancen steckt – aber auch Risiken. Denn die Bedingungen, unter denen ein Kind heranwächst, bestimmen kurzfristig und langfristig seine Entwicklung und Gesundheit. Die Stimme der Eltern. Die Nährstoffe, die es zunächst über die Nabelschnur und später am Esstisch erhält. Die Art, wie Mutter und Vater mit ihm kommunizieren, es knuddeln, es trösten. Die Frage, ob Eltern rauchen oder nicht – und inwieweit sie als Vorbild taugen. Jedes, wirklich jedes Detail aus der Umwelt eines Kindes beeinflusst, wie gut sich körperliche Prozesse ausbilden können – von der Entwicklung des Gehirns über die Verdauung und den Stoffwechsel bis hin zum Immunsystem.

Der richtigen Ernährung kommt dabei die Schlüsselrolle zu: Schließlich bilden Essen und Schlafen jene Fixpunkte, um die sich in den ersten 1000 Tagen eines Menschenlebens das meiste dreht. Neugeborene schlafen bis zu 18 Stunden täglich, nach einem halben Jahr auf der Welt immer noch elf – die beiden typischen, mitunter eineinhalb Stunden langen Nickerchen nicht mitgerechnet. Und in der Wachzeit dazwischen? Da geht es zunächst vor allem darum, den Energiebedarf zu decken. Selbst dann, wenn das Kind zu laufen beginnt und langsam, aber sicher mehr Spaß am Spielen als am Essen hat. Auch dann bleibt die Rolle der Nahrung doch noch immer zentral.

Deshalb soll es auf den folgenden Seiten auch nicht in erster Linie darum gehen darzustellen, wie sich der Körper in den ersten 1000 Tagen entwickelt, wie sich etwa das Herz-Kreislauf-System ausbildet oder die Verdauung. Wichtiger scheint mir zu erklären, wie sich grundsätzliche Prozesse entwickeln, die für unsere Ernährung und damit für den bestimmenden Faktor unserer Prägung zentral sind – wie sich also Geschmackssinn und der Hunger-Sättigungs-Regelkreis entfalten und welche Rolle das Gehirn dabei spielt. Denn all das zusammen bildet die Grundlage, um zu begreifen, wie genau Prägung funktionieren kann. Wie es sein kann, dass die Evolution uns bestimmte Geschmacksvorlieben aufdrückt – und die Eltern darüber mitbestimmen, was Kinder sich später als Erwachsene auf den Teller packen und welche Funktion Essen für sie hat.

Ein Grund, warum Eltern eine solche Macht haben: In den ersten 1000 Tagen auf der Welt sind Menschen so formbar wie nie wieder in ihrem Leben. Sicher, die Gene geben so einiges vor – etwa, welche Augenfarbe wir haben. Aber schon über unsere Körpergröße entscheiden nicht sie allein. Wie bei einem Stück Knete, das sich kraftvoll oder eher schwach in die Länge ziehen lässt, bestimmen Umweltfaktoren mit, inwieweit wir unsere theoretisch mögliche Größe auch ausbilden. Und wieder ist die entscheidende Variable dafür die Ernährung in den ersten Monaten.

Im Hinblick auf unser Gehirn haben Neurowissenschaftler für diese Formbarkeit einen eigenen Begriff geprägt: den der sogenannten Plastizität. Damit bezeichnen sie etwa die Eigenschaft von Nervenzellen, ihren Aufbau und ihre spezielle Vernetzung untereinander flexibel an das anpassen zu können, was ein Mensch braucht – um etwa Sprachen zu lernen sowie Bewegungsabläufe und Verhalten abzuspeichern. Diese grandiosen Vernetzungen und die Regenerationskraft von Nervenzellen sind bei Heranwachsenden besonders ausgeprägt. Das zeigt sich etwa bei jungen Schlaganfallpatienten, bei denen beispielsweise Lähmungen häufig fast völlig verschwinden. Auch im späteren Leben, bis zu unserem Tod, sind diese Prozesse noch aktiv – anders als Forscher lange vermutet hatten. Damit versetzen uns neurologische Netzwerke in die Lage, so gut wie möglich mit speziellen Gegebenheiten zurechtzukommen. Doch so stark wie in den ersten 1000 Tagen ist die Plastizität unseres Gehirns nie wieder.

Die folgenden Seiten werden zeigen, wie sich all das entwickelt und miteinander zusammenhängt: Hunger und Sättigung, Appetit und Geschmacksvorlieben. Jene Mechanismen also, die stets im Mittelpunkt stehen, wenn es um die frühkindliche Prägung geht und die Frage, ob ein Kind auf »gesund« programmiert wird – oder ungesunde Ernährungsmuster vermittelt bekommt.

Die Macht der ersten 1000 Tage

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