Читать книгу Herz-Sammelband: Elisabeth Bürstenbinder Liebesromane - Elisabeth Bürstenbinder - Страница 27

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Inhaltsverzeichnis

Mehr als vier Wochen waren seit der Festlichkeit vergangen, aber Herr Berkow schien bei der „Ueberraschung seiner Kinder“, wie er seinen allerdings etwas frühen Besuch bei den Neuvermählten nannte, keineswegs die gehoffte Freude gefunden zu haben; er war bereits nach einigen Tagen wieder nach der Residenz zurückgekehrt, wo allerdings eine ganze Last von Geschäften auf ihn harrte. Erst jetzt wurde er zu einem zweiten, diesmal längeren Aufenthalte hier erwartet. In dem Leben des jungen Paares hatte sich inzwischen nichts verändert, nur daß es womöglich noch getrennter, noch kälter und aristokratischer war, als im Anfange. Man schien auf beiden Seiten gleich sehr das Ende dieser „Flitterwochen“ herbeizusehnen, die man sich nun einmal vorgenommen hatte, hier in der Landeinsamkeit zuzubringen, bis der Sommer eine größere Reise möglich machte, von der man dann im Herbste in die Residenz zurückkehren wollte, um dort den ständigen Aufenthalt zu nehmen. Der künftige Haushalt wurde bereits von Seiten Berkow’s mit verschwenderischem Aufwande eingerichtet.

Es war nach eben vollendeter Frühschicht, als Ulrich Hartmann nach dem Hause seines Vaters zurückkehrte, aber er war diesmal genöthigt, seinen sonst raschen Schritt bedeutend zu mäßigen, denn an seiner Seite ging Herr Wilberg, der, gleichfalls vom Bureau kommend, ihn glücklich abgefangen und sich ihm angeschlossen hatte. Es war immerhin auffallend, einen der Beamten in solcher Vertraulichkeit mit dem Steiger Hartmann zu sehen, der sich sonst in jenen Kreisen nicht der geringsten Sympathie erfreute, und noch auffallender, daß diese Vertraulichkeit gerade von Herrn Wilberg ausging, wenn man nicht die alte Lehre von den Extremen, die stets einander suchen, als Erklärung gelten lassen wollte – aber hier lag doch noch etwas Anderes vor. Der Ober-Ingenieur wußte freilich nicht, was er wieder mit seinen Spöttereien angerichtet hatte, aber seine lediglich als Spott hingeworfene Aeußerung von dem interessanten Balladenstoff war leider nur auf einen allzu empfänglichen Boden gefallen. Wilberg war im vollen Ernste daran, den Stoff poetisch zu verarbeiten, nur daß er sich selbst noch im Zweifel befand, ob das zu schaffende Meisterwerk Ballade, Epos oder Drama werden würde; vorläufig stand nur eins fest, daß es die sämmtlichen Vortrefflichkeiten dieser drei Dichtungsarten in sich vereinen werde. Zum Unglück für Ulrich aber hatte dessen energische und muthvolle That den angehenden Dichter auf die Idee gebracht, daß der junge Retter sich außerordentlich zu einem tragischen Helden eigne, und er lief ihm deshalb auf Schritt und Tritt nach, um diesen höchst interessanten Charakter zu studiren. Als dieser sich nun gar noch beikommen ließ, die ihm angebotene bedeutende Belohnung mit einem Stolze auszuschlagen, der selbst den Director kleinlaut machte, da wuchs der romantische Nimbus in den Augen Wilberg’s zu einer Höhe, die nichts zu erschüttern vermochte, selbst nicht die rücksichtsloseste Grobheit von Seiten des Bewunderten und die scharfen Bemerkungen der Vorgesetzten, die diese Intimität nicht gerade gern sahen. In der That zeigte sich Ulrich sehr wenig entgegenkommend bei den „Studien“, die man an ihm machte; er versuchte oft genug ungeduldig, die ihm aufgedrungene Gesellschaft abzuschütteln, wie man etwa eine lästige Fliege abschüttelt, aber das half ihm wenig. Herr Wilberg hatte sich nun einmal in den Kopf gesetzt, einen Helden in ihm zu sehen, allerdings einen rauhen, wilden, unbändigen Helden, und je ärger er sich in dieser Hinsicht benahm, desto entzückter war jener, sein Charakterbild sich so klar entwickeln zu sehen, desto eifriger studirte er an ihm herum. Der junge Bergmann zuckte schließlich die Achseln und ließ das Unvermeidliche über sich ergehen; endlich that die Gewohnheit das Ihrige, so daß die Beiden doch immerhin zu einer Art von Vertraulichkeit gelangten, bei der allerdings das Respectverhältniß übel fortkam.

Der Wind blies noch ziemlich kalt von Norden her. Herr Wilberg knöpfte vorsichtig seinen Paletot zu und schlang die Enden seines dicken wollenen Shawls sorgfältig ineinander, während er seufzend sagte:

„Sie sind doch ein glücklicher Mensch, Hartmann, mit Ihrer Riesennatur und Ihrer Riesengesundheit. Das fährt die Schachte herauf und herunter, von der Hitze in die Kälte, und steht dann wieder in dem scharfen Winde hier oben, während ich mich ängstlich vor jedem Temperaturwechsel hüten muß. Und dabei bin ich so nervös, so angegriffen, so reizbar – das kommt davon, wenn der Geist den Körper allzu sehr beherrscht! Ja, Hartmann, es kommt von dem Uebermaße der Gefühle und Gedanken!“

„Ich glaube, Herr Wilberg, es kommt von Ihrem ewigen Theewassertrinken,“ meinte Ulrich mit einem halb mitleidigen Blicke auf den kleinen schwächlichen Beamten. „Wenn Sie Morgens und Abends immer nur das dünne heiße Zeug schlucken, kommen Sie nie zu Kräften.“

Wilberg sah mit unendlicher Ueberlegenheit an seinem Rathgeber in die Höhe. „Das verstehen Sie nicht, Hartmann! Ich könnte unmöglich eine so derbe Kost wie Sie ertragen; meine Constitution ist nicht danach, und überdies ist der Thee ein höchst ästhetisches Getränk. Er belebt mich; er regt mich an, wenn ich das gemeine Tagewerk hinter mir habe und Abends in stillen Stunden die Muse sich mir naht –“

„Sie meinen, wenn Sie Verse machen?“ unterbrach ihn Ulrich trocken. „Also dazu brauchen Sie den Thee? Nun, es wird auch danach!“

Es war ein Glück, daß dem schwer beleidigten Dichter in diesem Moment gerade ein Reim durch den Kopf ging, den er festzuhalten strebte; er überhörte auf diese Weise die Ungezogenheit seines Begleiters gänzlich und wandte sich in der nächsten Minute wieder ganz freundlich zu ihm.

„Ich habe eine Bitte an Sie, Hartmann, ein Verlangen, eine Forderung!“ sagte er, sich im regelrechten Klimax steigernd, „die Sie mir gewähren müssen um jeden Preis. Sie sind im Besitze eines Gegenstandes, der für Sie völlig werthlos ist und der mich zum Glücklichsten der Sterblichen machen würde; Sie müssen ihn mir abtreten.“

„Was muß ich Ihnen abtreten?“ fragte Ulrich, der wie gewöhnlich, wenn Wilberg sprach, nur halb hingehört hatte, mit gleichgültiger Miene.

Herr Wilberg erröthete, seufzte, blickte zu Boden, seufzte zum zweiten Male und hielt es nach diesen Vorbereitungen für passend, mit der Sprache vorzugehen.

„Sie werden sich des Tages erinnern, an dem Sie die gnädige Frau retteten. Ach, Hartmann, es ist ewig schade, daß Sie so gar kein Verständniß für die Poesie dieser Situation haben; wenn ich an Ihrer Stelle gewesen wäre! Doch lassen wir das! Die gnädige Frau bot Ihnen ihr eigenes Taschentuch an, als sie Sie bluten sah. Sie behielten es in der Hand, weil sofort Hülfe von anderer Seite herbeikam. Mein Gott, Sie können solch ein Ereigniß doch unmöglich vergessen haben!“

„Nun, was ist’s mit dem Tuche?“ fragte Ulrich, der plötzlich aufmerksam geworden war.

„Ich wünsche es zu besitzen,“ murmelte Wilberg, melancholisch die Augen niederschlagend. „Fordern Sie von mir, was Sie wollen! aber überlassen Sie mir dieses theure Andenken von einer Frau, die ich anbete!“

„Sie?“ rief Ulrich mit einem Tone, daß sein Begleiter zurückprallte und sich ängstlich umsah, ob Niemand in der Nähe sei.

„Schreien Sie doch nicht so, Hartmann! Sie brauchen sich durchaus nicht zu entsetzen, daß ich die Gemahlin unseres künftigen Chefs anbete. Das ist etwas ganz Anderes, als was Sie gewohnt sind, sich unter Liebe vorzustellen; das ist – ja, Sie wissen freilich nicht, was platonische Liebe heißt.“

„Nein!“ entgegnete der junge Bergmann kurz, seinen Schritt beschleunigend und augenscheinlich beflissen, das Gespräch abzubrechen.

„Sie können das auch unmöglich begreifen!“ erklärte Herr Wilberg mit unendlicher Selbstzufriedenheit, „denn Sie können und werden sich nie zu der erhabenen Reinheit von Gefühlen aufschwingen, deren nur die höchste Bildung fähig ist, von Gefühlen, die ohne jede Hoffnung, ja selbst ohne Wunsch, sich nur mit stummer seliger Anbetung aus der Ferne begnügen. Oder was meinen Sie denn, daß man anders thun könnte, wenn man eine Frau liebt, die nun einmal einem Andern angehört?“

„Man überwindet’s eben!“ sagte Ulrich dumpf, „oder –“

„Oder?“

„– man schlägt den Andern nieder.“

Herr Wilberg retirirte mit außerordentlicher Schnelligkeit nach der andern Seite des Weges hinüber, wo er im vollsten Entsetzen stehen blieb.

„Welche Rohheit! Welche haarsträubenden Grundsätze! Also mit Mord und Todtschlag würden Sie Ihre Liebe documentiren? Sie sind ein entsetzlicher Mensch, Hartmann, und Sie sagen das mit einem Tone, einem Blicke – die gnädige Frau hat ganz Recht, wenn sie Sie eine unbändige Naturgewalt nennt, die –“

„Wer nennt mich so?“ unterbrach ihn Ulrich heftig und finster blickend.

„Die gnädige Frau! ‚Eine wilde ungebändigte Naturgewalt‘ hat sie gesagt. Ein höchst geistreicher Ausspruch und unendlich zutreffend in diesem Falle. Hartmann“ – der junge Beamte wagte es allmählich, wenn auch noch ziemlich schüchtern, sich seinem Begleiter wieder zu nähern – „Hartmann, ich wollte Ihnen Alles verzeihen, Alles, sogar das, was Sie eben gesagt haben; aber was ich Ihnen nicht verzeihe, das ist Ihr abscheuliches Benehmen der gnädigen Frau gegenüber. Haben Sie denn allein keine Augen für diese Schönheit und Anmuth, die selbst die rohesten Ihrer Cameraden entwaffnet, daß Sie ihren Anblick scheuen, als brächte er Ihnen irgend ein Unglück? Wenn ihr Wagen nur in der Ferne sichtbar wird, kehren Sie um und weichen ihm aus; wenn sie vorüberreitet, treten Sie in’s erste beste Haus, und ich wette, Sie machen nur deshalb den täglichen Umgang bei der Wohnung des Directors vorüber, weil Sie ihr drüben am Parkgitter einmal begegnen könnten und dann in die Nothwendigkeit kämen, sie grüßen zu müssen. O, über diesen starren Classenhaß, der selbst die Frauen nicht verschont. Ich wiederhole es Ihnen, Sie sind ein entsetzlicher Mensch!“

Ulrich schwieg; er ließ wider seine Gewohnheit die Vorwürfe über sich ergehen, ohne auch nur eine Silbe zu erwidern, und bestärke Herrn Wilberg dadurch in dem glücklichen Wahne, daß seine Vorstellungen doch endlich einmal etwas genützt hätten. Ermuthigt dadurch, begann er von Neuem:

„Um nun aber auf den Hauptgegenstand zurückzukommen – das Taschentuch –“

„Was weiß ich, wo das Ding geblieben ist“ unterbrach ihn Ulrich rauh. „Es wird verloren gegangen sein, oder die Martha wird es zurückgegeben haben. Ich weiß nichts davon!“

Wilberg war im Begriff, außer sich zu gerathen über die Gleichgültigkeit, mit der man einen in seinen Augen so unendlich kostbaren Gegenstand behandelte, als er auf einmal Martha erblickte, die vor dem Hause des Schichtmeisters stand, dem man sich inzwischen genähert hatte. Wie ein Stoßvogel schoß der junge Beamte auf sie zu und begann sie zu examiniren, wo das fragliche Tuch geblieben sei, ob sie es wirklich zurückgegeben habe, ob es nicht möglicher Weise noch irgendwo existire. Das Mädchen schien ihn anfangs nicht zu verstehen; als sie aber begriff, um was es sich handelte, verfinsterte sich ihr Gesicht auffallend.

„Das Tuch ist noch da!“ sagte sie bestimmt. „Ich dachte es gut zu machen, als ich es eines Tages vornahm und von dem Blute reinigte; aber Ulrich geberdete sich ja wie ein Wüthrich, daß ich es ihm auch nur angerührt hatte. Er hat es in seiner Lade.“

„Ah, es war also nur ein Vorwand, um mir das Gewünschte zu verweigern!“ rief Wilberg gekränkt und mit einem Blicke des Vorwurfs auf Ulrich, der mit verbissenem Aerger zugehört hatte und jetzt beinahe höhnisch sagte:

„Geben Sie sich nur zufrieden, Herr Wilberg! das Tuch bekommen Sie doch nicht!“

„Und weshalb nicht, wenn ich fragen darf?“

„Weil ich es behalte!“ erklärte Ulrich lakonisch.

„Aber, Hartmann –“

„Wenn ich einmal Nein gesagt habe, dann bleibt es dabei; das wissen Sie doch, Herr Wilberg!“

Wilberg hob Augen und Hände zum Himmel empor, als wolle er diesen zum Zeugen der ihm widerfahrenen Beleidigung anrufen, aber plötzlich sanken seine Arme schlaff hernieder und er selber schnellte ebenso plötzlich in die Höhe, als eine Stimme hinter Martha sagte:

„Können Sie mir nicht Auskunft geben, liebes Kind – Ah, Herr Wilberg! Ich störe wohl eine lebhafte Unterhaltung?“

Der Angeredete stand sprachlos, aber mindestens ebenso sehr vor Verzweiflung als vor Entzücken über diese unerwartete Begegnung, denn ihn überkam das vernichtende Bewußtsein, daß er vor der gnädigen Frau, die ihn bisher immer nur im feinsten Gesellschaftsanzuge gesehen hatte, sich jetzt in blauem Paletot, grünem Shawl und einer von dem scharfen Winde arg gerötheten Nasenspitze präsentiren müsse. Er wußte, wie unvortheilhaft ihm diese Farbenzusammenstellung zu Gesicht ließ, und hatte sich erst vor einer Stunde feierlichst gelobt, wenigstens den grünen Shawl durch einen kleidsameren zu ersetzen, und nun führte ihn der tückische Zufall so vor die Augen seines Ideals! Herr Wilberg wünschte sich in die tiefsten Tiefen der Schachte und behielt nichtsdestoweniger noch Besinnung genug, sich über Hartmann zu ärgern, der noch mit dem ganzen Staube der Arbeit auf den Kleidern dicht vor der gnädigen Frau stand, und noch dazu wie eine Bildsäule dastand, ohne sich auch nur zu regen.

Eugenie war den Weg entlang gekommen, der an dem Hause vorüberführte, und unbemerkt in das Gärtchen getreten, wo sie zunächst nur das junge Mädchen bemerkt hatte. Sie erhielt vorläufig keine Antwort auf ihre letzte Frage; die beiden Männer schwiegen, bis Martha das Wort nahm; sie hatte nur einen einzigen Blick auf ihren Vetter geworfen bei dem plötzlichen Erscheinen der Dame, und wandte sich jetzt rasch zu ihr.

„Wir redeten gerade von dem Spitzentuche, das die gnädige Frau damals zum Verbinden hergab, und das noch immer nicht zurückgegeben ist.“

„Ah so, mein Tuch!“ sagte Eugenie gleichgültig. „Das hatte ich in der That ganz vergessen, aber da Sie es so sorgfältig aufbewahrt haben, mein Kind, so geben Sie es mir zurück.“

„Ich nicht, Ulrich hat es!“ Martha’s Blick flog wieder zu ihm hinüber, so finster forschend, wie das erste Mal, und auch Eugenie schaute etwas befremdet auf den jungen Mann hin, der noch nicht einmal gegrüßt hatte.

„Nun denn Sie, Hartmann! Oder wollen Sie es mir nicht zurückgeben?“

Herr Wilberg hatte von Neuem Gelegenheit, sich über Ulrich’s „abscheuliches Betragen“ zu ärgern, denn dieser stand noch immer unbeweglich da, die Stirn finster zusammengezogen, die Lippen fest aufeinandergepreßt, kurz mit dem Ausdrucke jenes starren Widerstandes, mit dem er sich einst beim Eintritt in den Salon gewaffnet. Man sah es ja, daß er den Haß gegen die junge Gemahlin seines Chefs erst förmlich niederkämpfen mußte, aber diesmal siegte doch seine bessere Natur. Herr Wilberg beobachtete es ganz deutlich, wie bei dem ersten Tone jener Stimme ihn die Scham über sein Benehmen durchzuckte, wie sie ihm glühend roth bis an die Stirn emporstieg und sogar seiner Haltung das Feindselige, Trotzige nahm. Jedenfalls war auch die vorhergegangene Strafpredigt nicht ohne Wirkung geblieben, wie hätte sonst dieser eisenköpfige Hartmann, dem nichts mit Güte oder Gewalt abzuzwingen war, sich auf eine bloße Frage hin in stummem Gehorsam gefügt, wie jetzt, wo er in’s Haus ging und bereits nach Verlauf von einigen Minuten mit dem Tuche in der Hand wieder zurückkam.

„Hier, gnädige Frau.“

Eugenie steckte das Tuch zu sich, auf das sie nicht den geringsten Werth zu legen schien.

„Und nun, Herr Wilberg, da ich Sie hier finde, können Sie mir wohl die beste Auskunft geben. Ich habe zum ersten Male den Weg hier entlang genommen und finde die Brücke, die zum Parke führt, durch ein Gitter geschlossen. Ist es nicht zu öffnen, und muß ich den Umweg zurück durch die ganzen Werke nehmen?“

Sie wies auf die nur wenige Schritte entfernte Brücke, die über einen kleinen Graben führte, der den Park nach dieser Seite hin abschloß, und die in der That durch ein Eisengitter gesperrt war. Herr Wilberg befand sich in Verzweiflung. Das Gitter war wirklich verschlossen; man wollte den Park damit für die Arbeiter, deren Wohnungen zum Theil auf dieser Seite lagen, unzugänglich machen, aber der Gärtner hatte den Schlüssel, Willberg wollte eilen, fliegen, um ihn herbeizuschaffen, wenn die gnädige Frau sich entschließen könnte, so lange zu warten, bis –

„O nicht doch!“ unterbrach ihn Eugenie, ein wenig ungeduldig. „Dann hätten Sie ja zwei Mal den Umweg zu machen, den ich vermeiden will, und das Warten möchte doch etwas zu lange dauern. Ich ziehe es vor, umzukehren.“

Wilberg wollte das nicht zugeben, er bat und beschwor die gnädige Frau, ihm doch das Glück dieses Ritterdienstes zu gönnen, als er mitten in seiner wohlgesetzten Rede durch ein lautes Krachen unterbrochen wurde.

Ulrich hatte sich inzwischen dem Gitter genähert und es mit beiden Händen erfaßt. Er schüttelte die Eisenstangen jetzt mit solcher Gewalt, daß Schloß und Riegel ächzten. Als sie dennoch nicht sofort nachgaben, flog ein zorniges Aufleuchten über die Züge des jungen Arbeiters; ein energischer Fußtritt brach den letzten Widerstand des allerdings nicht mehr ganz neuen Verschlusses – die Thür sprang auf.

„Um Gotteswillen, Hartmann, was machen Sie denn!“ rief Wilberg erschrocken. „Sie verderben ja das ganze Schloß! Was wird Herr Berkow sagen!“

Ulrich gab ihm keine Antwort. Er stieß die Thür vollends auf und wandte sich dann ruhig zurück.

„Der Weg ist offen, gnädige Frau.“

Eugenie sah nicht halb so bestürzt aus wie der junge Beamte, als sie den so ungestüm geöffneten Weg betrat; sie lächelte sogar.

„Ich danke Ihnen, Hartmann, und was das verdorbene Schloß betrifft, Herr Wilberg, so machen Sie sich keine Sorge deswegen, ich übernehme die Verantwortung. Aber da die Thür einmal offen ist – wollen Sie nicht auch den kürzeren Weg durch den Park nehmen?“

Welch ein Anerbieten! Herr Wilberg eilte nicht, er stürzte, er flog an die Seite der gnädigen Frau und zermarterte in der Eile sein Gehirn, um nun auch sogleich auf ein möglichst interessantes und geistreiches Gesprächsthema zu stürzen, aber er war gezwungen, zunächst ein sehr prosaisches zu beginnen, da Eugenie den Kopf zurückwandte, wieder mit jenem ernsten, nachsinnenden Blick, der schon einmal vergebens versucht hatte, das widerspruchsvolle und ihr völlig räthselhafte Wesen jenes Mannes zu durchdringen.

„Eine wahre Berserkerkraft hat dieser Hartmann und eine Berserkerwuth dazu! Zertrümmert er da ohne Weiteres Schloß und Riegel, nur –“

„Nur um mir einen bequemeren Weg zu bahnen,“ ergänzte Eugenie mit leiser Ironie auf ihren Begleiter blickend. „Nicht wahr, Herr Wilberg, einer so gewaltsamen Höflichkeit hätten Sie sich nicht schuldig gemacht?“

Herr Wilberg protestirte eifrig gegen eine solche Zumuthung. Wie die gnädige Frau denn glauben könne, er werde sich so ungestüm an fremdem Eigenthum vergreifen, noch dazu in ihrer Gegenwart, nimmermehr! Aber die gnädige Frau hörte dieser Versicherung mit auffallender Zerstreutheit zu, und es gelang ihm während des ganzen Weges nicht, ihre Aufmerksamkeit zu fesseln, so viele Mühe er sich auch damit gab.

Hartmann hatte das Gitter wieder angelehnt und war langsam nach dem Hause zurückgekehrt. Vor der Thür desselben aber blieb er stehen und blickte unverwandt nach dem Parke hinüber, in dessen Alleen die beiden Gestalten soeben verschwanden. –

„Ich dächte, Ulrich, wenn Du einmal Nein gesagt hättest, so bliebe es dabei!“

Der junge Mann wandte sich hastig um und ein finstrer Blick glitt über Martha hin, die an seiner Seite stand.

„Was geht das Dich an?“ fragte er unfreundlich.

„Mich? Nichts! Schau nicht so finster d’rein, Ulrich; Du bist mir böse, weil ich die gnädige Frau an das Tuch erinnert habe, aber es gehört ihr doch nun einmal, und was willst Du denn auch mit dem zarten weißen Dinge anfangen? Du kannst es ja nicht einmal anrühren, wenn Du von der Arbeit kommst, – angesehen hast Du es freilich genug.“

Es lag ein leiser, aber doch unverkennbarer Hohn in der Stimme des Mädchens, und auch Ulrich mußte ihn herausfühlen, denn er fuhr heftig auf.

Laß’ mich in Ruhe mit Deinem Spotten und Deinem Spioniren! Ich sage Dir, Martha –“

„Nun, nun, was giebt es denn da draußen? Zankt Ihr Euch etwa?“ tönte die Stimme des Schichtmeisters dazwischen, der jetzt gleichfalls in die Thür trat.

Ulrich kehrte sich grollend ab, aber er schien keine Lust zu haben, den Streit fortzusetzen, während Martha, ohne dem Oheim eine Antwort zu geben, an ihm vorüber in’s Haus eilte.

„Was hat denn das Mädchen?“ fragte der Schichtmeister, verwundert ihr nachsehend, „und was war denn das zwischen Euch beiden? Hast Du sie wieder einmal rauh angelassen?“

Ulrich warf sich mit einer trotzigen Bewegung auf die Bank nieder.

„Ich lasse mir nicht vorhalten, was ich thun und lassen soll, am wenigsten von der Martha!“

„Nun, die thut Dir doch gewiß nichts zu wehe!“ meinte der Vater ruhig.

Mir nicht? Warum gerade mir?“

Der Schichtmeister sah seinen Sohn an und zuckte die Achseln. „Höre Junge, hast Du keine Augen im Kopfe, oder willst Du es nicht wissen? Freilich, Du hast Dich ja niemals um die Frauenzimmer gekümmert, und da ist’s am Ende kein Wunder, wenn Du sie ganz und gar nicht begreifst.“

„Was soll ich denn begreifen?“ fragte der junge Mann aufmerksam werdend.

Der Vater nahm die Pfeife aus dem Munde und blies eine Rauchwolke vor sich hin. „Daß Dich die Martha gern hat!“ erwiderte er lakonisch.

„Die Martha? Mich?“

„Ich glaube wahrhaftig, er hat es noch nicht gewußt!“ sagte der Schichtmeister mit aufrichtiger Verwunderung. „So etwas muß ihm erst sein alter Vater sagen! Aber das kommt davon, wenn man die Nase immer in Dinge steckt, die einem nur den Kopf wirr machen! Weiß Gott, Ulrich, es wäre Zeit, daß Du endlich einmal all den anderen Geschichten den Abschied gäbest und eine ordentliche Frau nähmest, die Dich auf bessere Gedanken bringt.“

Ulrich blickte nach dem Parke hinüber und seine Augen nahmen wieder den starren, düsteren Ausdruck an, wie vorhin.

„Du hast Recht, Vater,“ sagte er langsam, „es wäre Zeit!“

Der Alte ließ vor Ueberraschung beinahe die Pfeife fallen. „Junge, das ist das erste gescheite Wort, was ich von Dir höre! Bist Du endlich zu Verstande gekommen? Ja, freilich ist es Zeit! Du kannst längst eine Frau ernähren und Du findest weit und breit keine hübschere, bravere, gescheitere, als die Martha. Wie froh ich wäre, wenn aus Euch beiden ein Paar würde, das brauche ich Dir doch nicht erst zu sagen. Ueberlege Dir die Sache einmal!“

Der junge Mann war aufgesprungen und ging heftig auf und nieder. „Vielleicht wär’s das Beste! Ein Ende muß doch einmal gemacht werden, es muß! das habe ich heut erst wieder gesehen, also – je eher, je lieber!“

„Was hast Du denn? Womit soll ein Ende gemacht werden?“

„Nichts, Vater, nichts. Aber Du hast ganz Recht, wenn ich erst eine Frau habe, dann weiß ich auch, wo ich mit meinen Gedanken hingehöre – Du glaubst also, daß die Martha mich gern hat?“

„Geh hin und frage sie selbst!“ rief der Schichtmeister lachend. „Meinst Du denn, daß ich das Mädchen noch im Hause hätte, wenn sie einen Anderen wollte? Der fehlt es wahrhaftig nicht an Freiern! Ich weiß genug, die sie möchten, und der Lorenz giebt sich nun schon seit Jahr und Tag vergebene Mühe. Er hat noch immer kein Ja bekommen; Du bekommst es noch heute, wenn Du willst, verlaß Dich darauf!“

Ulrich hörte gespannt zu, aber trotz dieser für ihn doch so schmeichelhaften Erklärung war nicht viel von Glück oder Befriedigung auf seinem Gesichte zu lesen. Er sah aus, als zwinge er mit Gewalt irgend ein rebellisches Etwas nieder, das ihn nicht zum Entschluß kommen lassen wollte, und es war auch etwas Wildes, Krampfhaftes in dem jäh aufflammenden Entschluß, mit dem er sich jetzt zum Vater wandte.

„Nun gut, wenn Du meinst, daß ich keinen Abschlag bekomme, so – so will ich mit der Martha sprechen.“

„Jetzt gleich?“ fragte der Schichtmeister betroffen. „Aber, Ulrich, man freit doch nicht so über Hals und Kopf, wenn man eine Viertelstunde vorher noch keine Idee davon gehabt hat! Ueberlege Dir die Sache doch erst.“

Ulrich machte eine ungeduldige Bewegung. „Wozu das lange Abwarten! Ich muß wissen, woran ich bin. Laß mich hinein, Vater!“

Der Vater schüttelte den Kopf, aber er hatte viel zu große Furcht, der so plötzlich gefaßte Entschluß könne seinem Sohne wieder leid werden, um ihn ernstlich zurückzuhalten. In seiner Herzensfreude kümmerte es ihn wenig, wenn die so sehnlichst gewünschte Verbindung in etwas ungewöhnlicher Art zu Stande kam; er beschloß im Gegentheil, ganz ruhig hier draußen zu bleiben, damit die jungen Leute drinnen ungestört mit einander fertig werden könnten, denn er kannte Ulrich genug, um zu wissen, daß eine unzeitige Einmischung seinerseits jetzt alles verderben würde.

Der junge Mann war inzwischen rasch, als wolle und dürfe er sich auch nicht eine Minute Zeit zum Besinnen gönnen, durch den Hausflur geschritten und hatte die Thüre der Wohnstube geöffnet. Martha saß am Tisch, die sonst so fleißigen Hände müßig im Schooße; sie schaute nicht auf, als er eintrat, und schien sich auch nicht darum zu kümmern, daß er dicht neben ihrem Stuhle stehen blieb; desto besser sah er, daß sie geweint hatte.

„Trägst Du es mir nach, Martha, daß ich vorhin wieder einmal aufgefahren bin? Es thut mir leid – was siehst Du mich so an?“

„Weil es das erste Mal ist, daß Dir das leid thut! Du hast sonst wenig darnach gefragt, wie ich’s nehme – so laß es auch heut.“

Der Ton klang kalt und abweisend genug, aber Ulrich ließ sich dadurch nicht zurückscheuchen. Die Enthüllungen des Vaters mußten trotz alledem doch mächtig auf seine störrische Natur gewirkt haben, denn seine Stimme klang ungewöhnlich milde, als er entgegnete:

„Ich weiß, daß ich ein ganzes Theil schlimmer bin, als die Anderen, aber ich kann’s nun einmal nicht ändern. Du mußt mich schon nehmen, wie ich gerade bin, und vielleicht machst Du auch noch etwas Besseres aus mir.“

Das Mädchen hatte schon beim ersten Ton befremdet aufgeblickt, und in seinem Gesicht mußte wohl etwas Ungewöhnliches liegen, denn sie machte eine heftige Bewegung, um aufzustehen. Ulrich hielt sie fest.

„Bleib’ hier, Martha! Ich habe mit Dir zu reden; ich wollte Dich fragen – nun, viel Worte kann ich nicht machen, und das braucht’s ja auch nicht zwischen uns. Wir sind Geschwisterkinder, sind seit Jahren zusammen in einem Hause; Du wirst am besten wissen, was Du von mir zu halten hast, und Du weißt auch, daß ich Dich immer gern gehabt habe, trotz alles Streitens. – willst Du meine Frau werden, Martha?“

Die Werbung kam so gewaltsam, so stürmisch und heftig heraus, wie es in dem Wesen des Freiers lag. Er athmete tief auf, als sei mit dem entscheidenden Worte auch eine Last von seiner Brust herunter. Martha saß noch immer unbeweglich vor ihm; ihre sonst so blühende Gesichtsfarbe war einer tiefen Blässe gewichen, aber sie schwankte und zögerte auch nicht einen Moment lang, als sie ein leises, freilich halb ersticktes Nein hervorstieß.

Ulrich glaubte nicht recht gehört zu haben. „Nicht?“

„Nein, Ulrich, ich will nicht!“ wiederholte das Mädchen tonlos, aber fest.

Der junge Mann richtete sich beleidigt auf. „Nun, dann freilich hätte ich die ganze Rede sparen können! Der Vater hat sich also geirrt und ich dazu. Nichts für ungut, Martha!“

Durch die kurze Abweisung in seinem Mannesstolze arg verletzt, war er im Begriff, die Stube zu verlassen, als ein Blick auf Martha ihn zwang zu bleiben. Sie hatte sich erhoben und mit beiden Händen die Lehne des Stuhles gefaßt, als müsse sie sich daran halten. Kein Wort der Erwiderung oder der Erklärung kam über ihre Lippen, aber diese Lippen bebten so heftig und in dem bleichen Gesichte zuckte ein so unnennbares Weh, daß Ulrich eine Ahnung überkam, sein Vater könne trotz alledem Recht haben.

„Ich glaubte, Du hättest mich gern, Martha!“ sagte er mit leisem Vorwurf.

Sie wandte sich mit einer heftigen Bewegung weg von ihm und verbarg das Gesicht in den Händen, aber er hörte einen Laut, der wie mühsam unterdrücktes Schluchzen klang.

„Ich hätte es mir denken können, daß ich Dir zu rauh, zu wild bin. Du fürchtest Dich davor und meinst, es könnte nach der Heirath nach schlimmer damit werden – an dem Lorenz wirst Du freilich einen besseren Mann haben, der Dir in allen Stücken den Willen thut.“

Das Mädchen schüttelte den Kopf und sie kehrte ihm jetzt auch langsam das Gesicht wieder zu. „Ich fürchte mich nicht vor Dir, wenn Du auch oft rauh und wild bist. Ich weiß, Du kannst nicht anders, und ich hätte Dich genommen, wie Du warst, und vielleicht gern genommen. Aber so will ich Dich nicht, Ulrich, wie Du jetzt bist, wie Du bist seit dem Tage, wo – die gnädige Frau herkam.“

Ulrich zuckte zusammen; eine flammende Röthe schlug auf einmal in seinem Gesichte auf. Er wollte auffahren, wollte ihr heftig Schweigen gebieten und brachte doch keine Sylbe über die Lippen.

„Der Oheim meint, Du kümmertest Dich um Niemanden, weil Du ganz andere Gedanken im Kopfe hättest,“ fuhr Martha immer erregter fort, „ja wohl, ganz andere Gedanken! Um mich hast Du Dich auch nie gekümmert, und jetzt kommst Du auf einmal und willst mich zur Frau haben! Du brauchst wohl Jemand, der Dir die ‚Gedanken‘ forttreibt, nicht wahr, Ulrich? Und dazu ist Dir die nächste Beste recht, dazu bin ich Dir gut genug? Aber so weit ist’s denn doch noch nicht, daß ich dazu tauge. Und wenn ich Dich lieb gehabt hätte mehr als Alles in der Welt, und wenn es mir an’s Leben ginge, daß ich von Dir lassen muß – lieber den Lorenz, lieber jeden Anderen jetzt, nur Dich nicht!“

Es war ein Ausbruch furchtbarer Leidenschaftlichkeit bei dem sonst so ruhigen Mädchen. An dem Sturme, den er in ihr entfesselt, hätte Ulrich empfinden können, wie tief er ihr im Herzen saß, vielleicht empfand er es auch wirklich, aber das nahm die Wolke nicht von seiner Stirn und nicht den flammenden Schein, der dunkler wurde bei jedem ihrer Worte. Er hatte keine Erwiderung darauf, und als sie jetzt in ein lautes Weinen ausbrach, da stand er stumm neben ihr, ohne ein Wort des Trostes oder der Beruhigung. So vergingen einige Minuten in qualvollem Schweigen. Martha lag mit Kopf und Armen über den Tisch hingeworfen. Man hörte nur ihr krampfhaftes Schluchzen und dazwischen das einförmige Ticken der alten Wanduhr. Endlich beugte sich Ulrich zu ihr hinab; seine Stimme war nicht mehr rauh und heftig, aber auch nicht milde; es lag in ihr nur ein dumpfes Schmerzgefühl.

„Laß gut sein, Martha! Ich dachte, es sollte besser werden, wenn Du mir hülfest; vielleicht wäre es auch nur schlimmer geworden, und Du hast ganz Recht, wenn Du es darauf hin nicht mit mir wagen willst. So bleibt es denn beim Alten mit uns Beiden.“

Er ging ohne weiteren Abschied; nur an der Schwelle blieb er noch einmal stehen und sah nach dem Mädchen zurück. Sie hob den Kopf nicht, und er ging rasch vollends hinaus.

„Nun?“ fragte eifrig der Schichtmeister, der ihm draußen entgegen kam. „Nun?“ wiederholte er langsamer, denn das Gesicht seines Sohnes sah nicht aus wie das eines glücklichen Bräutigams.

„Es war umsonst, Vater!“ sagte Ulrich tonlos. „Die Martha will mich nicht.“

„Will Dich nicht? Dich nicht?“ rief der Alte in einem Tone, als ob ihm das Unglaublichste von der Welt gemeldet werde.

„Nein! Und nun quäle sie nicht erst noch mit vielen Fragen und Redereien darüber; sie wird wohl wissen, weshalb sie mir einen Abschlag gegeben hat, und ich weiß es auch, also nützt der Dritte nichts dazwischen. Und nun laß mich gehen, Vater; ich muß fort.“

Heftig, als wolle er jeder ferneren Erörterung ausweichen, eilte der junge Mann davon; der Schichtmeister faßte mit beiden Händen seine Pfeife und kam fast in Versuchung, sie auf den Boden zu schmettern, um seinem Aerger Luft zu machen.“

„Versteh’ sich einer auf die Frauenzimmer! Ich hätte meinen Kopf gelassen, daß das Mädel ihn lieb hat, und jetzt schickt sie ihn mit einem Nein fort und er – ich dachte doch nicht, daß es dem Jungen so nahe gehen würde. Er sah ja ganz verstört aus, und wie toll läuft er davon; aber der steht mir im Leben nicht Rede, soviel kenne ich ihn, und die Martha eben so wenig.

Der Schichtmeister begann heftig in dem Gärtchen auf und ab zu laufen, bis seine Wuth einer mehr resignirten Stimmung Platz machte. Was war denn auch am Ende dagegen zu machen? Mit Gewalt zusammen thun konnte man doch die Beiden nicht, wenn sie nun einmal nicht wollten, und es nützte nichts, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, warum sie nicht wollten. Mit einem schweren Seufzer nahm der Alte Abschied von seinem gescheiterten Lieblingsplane; erzwingen ließ sich so etwas ja nicht.

Er stand noch in trüben Gedanken an der Gartenthür, als er den jungen Herrn Berkow den Weg entlang kommen sah, der an seinem Häuschen vorüber nach der hinteren Seite des Parkes führte. Arthur schien besser mit den Zugängen desselben vertraut zu sein, als seine Gemahlin. Er zog bereits einen Schlüssel aus der Tasche, der jedenfalls zu dem vorhin so gewaltsam geöffneten Schloß paßte. Der Schichtmeister grüßte tief und ehrerbietig, als der junge Erbe vorüberkam, der in gewohnter Theilnahmlosigkeit kaum einen Blick seitwärts warf, und mit einer vornehm nachlässigen Bewegung des Kopfes, die wahrscheinlich einen Dank ausdrücken sollte, im Begriff stand, weiter zu gehen. Es zuckte schmerzlich in den Zügen des alten Mannes; er stand noch immer mit seinem abgezogenen Käppchen in der Hand und sah ihm mit einem stillen traurigen Blicke nach, der zu sagen schien: „So also bist Du geworden!“

Ob Arthur diesen Blick bemerkte oder ob es ihm jetzt erst einfiel, daß er ja den alten Freund und Gefährten seiner Kinderjahre vor sich habe, er blieb plötzlich stehen.

„Sieh da, Hartmann! Wie geht es Ihnen?“

In seiner matten, gleichgültigen Weise streckte er ihm die Hand hin und schien etwas befremdet, als sie nicht sofort ergriffen wurde, aber dem Schichtmeister war eine solche Vertraulichkeit seit Jahren nicht zu Theil geworden; er zögerte sie anzunehmen, und als er es endlich dennoch that, geschah es so scheu und vorsichtig, als fürchte er, die feine weiße Hand könne in seiner harten Faust Schaden leiden.

„Ich danke! Mir geht es ja soweit gut, Herr Arthur – um Vergebung: Herr Berkow wollte ich sagen.“

„Bleiben Sie nur bei dem Arthur,“ sagte der junge Mann ruhig. „Sie sind mehr daran gewöhnt, und ich höre es auch lieber von Ihnen als den anderen Namen. Sie sind also zufrieden, Hartmann?“

„Gott sei Dank, ja, Herr Arthur. Ich habe, was ich brauche. Ein bischen Kummer und Sorge giebt es ja in jedem Hause; ich habe sie nun grade wegen meiner Kinder – aber das ist einmal nicht anders.“

Der Schichtmeister sah mit Verwunderung, daß der junge Herr näher trat und beide Arme auf das Holzgitter legte, als beabsichtige er ein längeres Gespräch.

„Mit Ihren Kindern? Ich dachte, Sie hätten nur einen einzigen Sohn?“

„Ganz recht, meinen Ulrich! Ich habe aber noch ein Schwesterkind im Hause, die Martha Ewers.“

„Und die macht Ihnen Sorge?“

„Bewahre!“ rief der Schichtmeister eifrig. „Das Mädchen ist so brav und gut wie nur irgend eine, aber ich hatte mir so gedacht, es könnte aus ihr und dem Ulrich ein Paar werden, und –“

„Und der Ulrich will wohl nicht?“ unterbrach ihn Arthur mit einem eigenthümlich raschen Aufblick der sonst so müden Augen.

Der Alte zuckte die Achseln. „Ich weiß nicht! Hat er wirklich nicht gewollt oder hat er es mir verkehrt angefangen, genug, es ist aus zwischen ihnen. Und das war noch meine letzte Hoffnung, daß er eine ordentliche Frau bekäme, die ihm den Kopf zurecht setzt.“

Es war seltsam, daß die doch gewiß sehr einfachen und uninteressanten Familiengeschichten des alten Bergmannes den jungen Herrn nicht zu langweilen schienen; er gähnte nicht einmal, was ihm sonst gewöhnlich passirte, wo er sich keinen Zwang aufzuerlegen brauchte, und sein Gesicht verrieth sogar ein gewisses Interesse, als er fragte:

„Ist Ihnen denn der Kopf nicht recht, so wie er ihn jetzt trägt?“

Der Schichtmeister sah den Fragenden scheu von der Seite an und dann zu Boden.

„Nun, Herr Arthur, Ihnen brauche ich doch das nicht erst zu sagen. Sie werden wohl schon genug über den Ulrich gehört haben.“

„Ja, ich erinnere mich; mein Vater sprach mir davon. Ihr Sohn ist nicht gut angeschrieben bei den Herren drüben, Hartmann, ganz und gar nicht!“

Der Alte stieß einen Seufzer aus. „Ja, ich kann’s nicht ändern! Er folgt mir nicht mehr, hat mir eigentlich nie gefolgt. Er mußte immer seinen Kopf für sich haben und ihn überall durchsetzen. Ich habe den Jungen ein ganz Theil mehr lernen lassen als die Anderen, vielleicht mehr als ihm gut war; ich dachte, er sollte schneller vorwärts kommen, und er ist ja auch schon Steiger und bringt’s wohl auch noch bis zum Obersteiger, aber von dem Lernen ist doch das ganze Unglück hergekommen! Da kümmert er sich um alle möglichen Geschichten, will alles besser wissen, sitzt die ganze Nacht über den Büchern und ist bei seinen Cameraden alles in allem. Wie er es anfängt, überall der Erste zu sein, das weiß ich nicht, aber er war noch ein kleiner Bube, da hatte er sie schon sämmtlich unter der Fuchtel, und jetzt ist das ärger als je. Was er sagt, das glauben sie blindlings; wo er steht, da stehen sie allesammt, und wenn er sie in die leibhaftige Hölle hineinführte, sie gingen mit, wenn er nur voran wäre. Das ist aber ganz und gar nicht gut, zumal hier auf unseren Werken nicht.“

„Warum grade bei uns nicht?“ fragte Arthur, während er wie in tiefen Gedanken mit dem Schlüssel Figuren auf das Holz des Gitters zeichnete.

„Weil’s die Leute doch hier gar zu schlimm haben!“ platzte der Schichtmeister heraus. „Seien Sie nicht böse, Herr Arthur, daß ich Ihnen das so in’s Gesicht sage, aber es ist einmal so. Ich kann ja nicht klagen; mir ist es von jeher über die Gebühr gut gegangen, weil Ihre verstorbene Mutter meine Frau gern hatte – aber die Anderen! Das arbeitet und plagt sich Tag für Tag und schafft doch kaum das Nothwendigste für Frau und Kind. Es ist, weiß Gott, ein schweres Brod und ein saures Brod, aber arbeiten müssen wir ja Alle, und die Meisten thäten es ja auch herzlich gern, wenn ihnen nur ihr Recht würde, wie aus den anderen Werken. Aber hier drückt und preßt man sie noch um jeden Groschen von ihrem kargen Lohn, und in den Schachten unten sieht es so schlimm aus, daß Jeder beim Einfahren erst sein Vaterunser betet, weil er immer denken muß, die Geschichte stürzt ihm einmal über dem Kopfe zusammen. Aber es ist ja nie Geld zum Ausbessern da, und wenn Einer einmal in Noth und Elend ist, dann ist auch kein Geld da, und dabei müssen sie sehen, wie die Hunderttausende nur immer so nach der Residenz geschickt werden, damit –“

Der Alte hielt plötzlich inne und schlug sich im wahren Todesschrecken auf den vorwitzigen Mund. Er hatte sich so in den Eifer hineingesprochen, daß er ganz und gar vergessen hatte, wer vor ihm stand; erst die tiefe Röthe, die bei den letzten Worten in dem Gesichte des jungen Mannes aufstieg, brachte ihn zur Besinnung.

„Nun?“ fragte Arthur, als er schwieg. „Sprechen Sie doch weiter, Hartmann! Sie sehen ja, daß ich zuhöre.“

„Um Gotteswillen!“ stotterte der alte Mann in tödtlicher Verlegenheit, „ich meinte das nicht so, ich hatte ganz vergessen –“

„Wer die Hunderttausende gebraucht hat! Sie sollen sich jetzt nicht entschuldigen, Hartmann, sondern ungescheut aussprechen, was Sie mir sagen wollten. Oder glauben Sie, daß ich bei meinem Vater den Angeber machen werde?“

„Nein!“ sagte der Schichtmeister ehrlich. „Das thun Sie ganz gewiß nicht. Sie sind nicht wie Ihr Herr Vater, bei dem hätte mich das vorwitzige Wort den Dienst gekostet. Nun, ich meinte nur, das Alles setzt böses Blut bei den Leuten. Herr Arthur“ – er trat ihm mit halb schüchterner, halb zutraulicher Bitte einen Schritt näher –, „wenn Sie sich doch einmal um die Sachen kümmern wollten! Sie sind ja der Sohn des Herrn Berkow und werden später das Alles hier erben; es geht doch Keinen näher an als Sie!“

„Ich?“ sagte Arthur mit einer Bitterkeit, die zum Glück seinem ungeübten Zuhörer völlig entging; „ich verstehe nichts von dem, was hier auf den Werken Brauch und Nothwendigkeit ist; das ist mir von jeher völlig fremd geblieben.“

Der alte Mann schüttelte traurig den Kopf. „Du lieber Gott, was ist da viel zu verstehen! Dazu brauchen Sie nicht erst die Maschinen und die Schachte studirt zu haben. Sie brauchen die Leute nur anzusehen und anzuhören, wie Sie mich jetzt anhören, aber freilich, das thut ja Keiner. Wer klagt, wird fortgeschickt, und dann heißt es gleich ‚wegen Widersetzlichkeit‘, und ein armer Bergmann, der deswegen entlassen ist, findet schwer ein anderes Unterkommen. Herr Arthur, ich sage Ihnen, es ist ein Elend; und das ist’s, was der Ulrich nicht mit ansehen kann, was ihm das Herz abfrißt, und wenn ich zehn Mal gegen seine Ideen rede und predige, im Grunde hat er ja doch Recht; so kann es nicht bleiben. Nur wie er das durchsetzen will, das ist gottlos und sündlich; das wird ihn noch in’s Unglück bringen und die Anderen dazu. Herr Arthur“ – dem Schichtmeister standen die bitteren Thränen in den Augen, als er diesmal ohne alles Zögern die Hand des jungen Mannes ergriff, die noch auf dem Gitter lag –, „ich bitte Sie um Gotteswillen, lassen Sie das nicht so fortgehen! es ist nicht gut, auch für Herrn Berkow nicht. Auf den anderen Werken giebt es ja jetzt auch überall Streit, aber wenn es bei uns einmal losbricht, dann gnade uns Gott, dann wird’s fürchterlich!“

Arthur hatte während der ganzen Rede stumm vor sich hingesehen; jetzt hob er das Auge und richtete einen langen finsteren Blick auf den Sprechenden.

„Ich werde mit meinem Vater sprechen,“ sagte er langsam. „Verlassen Sie sich darauf, Hartmann!“

Der Schichtmeister ließ die ergriffene Hand wieder fallen und trat zurück. Er hatte hier, wo er sein ganzes Herz ausgeschüttet, doch wohl eine andere Wirkung erwartet, als diese karge Verheißung. Arthur richtete sich empor und wandte sich zum Gehen.

„Noch Eines, Hartmann! Ihr Sohn hat mir neulich das Leben gerettet, und es hat ihn wohl gekränkt, daß er kein Wort des Dankes darüber hörte. Ich lege wenig Werth auf das Leben überhaupt, möglich, daß ich deshalb den geleisteten Dienst zu gering anschlug, aber ich hätte das Versäumte nachgeholt, wenn“ – der junge Erbe zog die Augenbrauen zusammen, und seine Stimme gewann einen scharfen Klang – „wenn Ihr Ulrich nicht eben Der wäre, der er ist. Ich habe keine Lust, meine Anerkennung vielleicht in derselben Weise zurückgewiesen zu sehen, wie dies neulich meinem Beauftragten gegenüber geschah. Für undankbar möchte ich trotzdem nicht gehalten werden; sagen Sie ihm, ich lasse ihm danken, und wegen des Uebrigen werde ich mit meinem Vater Rücksprache nehmen. Leben Sie wohl!“

Er schlug den Weg nach dem Parke ein. Der Schichtmeister sah ihm trübe nach, und ein schwerer Seufzer kam über seine Lippen, als er leise vor sich hin sagte: „Gebe Gott, daß es etwas hilft – ich glaube es nicht!“

Drüben am Landhause wurde die herrschaftliche Equipage aus der Remise hervorgezogen und der Kutscher machte sich daran, die Pferde anzuschirren.

„Das ist ja etwas ganz Neues!“ sagte er zu dem neben ihm stehenden Bedienten, der soeben den Befehl zum Anspannen überbracht hatte. „Der Herr und die gnädige Frau fahren zusammen aus? Den Tag müßte man roth im Kalender anstreichen!“

Der Diener lachte. „Ja, viel Vergnügen werden sie wohl nicht dabei haben, aber es geht nicht anders. Es sollen Gegenbesuche in der Stadt gemacht werden, bei den vornehmen Herrschaften, die neulich zum Diner hier waren, und da schickt es sich ja wohl nicht, daß Jedes allein vorfährt, sonst hätten sie es sicher gethan.“

„Eine curiose Wirthschaft!“ meinte der Kutscher kopfschüttelnd. „Und das nennen sie nun verheirathet sein! Gott bewahre Jeden vor solch einer Ehe!“

Eine Viertelstunde später rollte der Wagen, in dem sich Arthur Berkow mit seiner Gemahlin befand, auf dem Wege hin, der nach der Stadt führte. Das Wetter, das heut Vormittag noch erträglich gewesen war, hatte sich bedeutend verschlechtert. Der ganze Himmel war dicht umzogen; der Wind, fast zum Sturme geworden, jagte die grauen Wolken vor sich her, die von Zeit zu Zeit einen Regenschauer auf die mit Nässe schon überreichlich getränkte Erde herabsandten. Es war überhaupt ein rauhes, stürmisches Frühjahr, so recht geeignet, Städtern den Aufenthalt auf dem Lande gründlich zu verleiden. Obgleich man bereits im Mai stand, zeigten die kahlen, blätterlosen Bäume des Parkes doch kaum die ersten Knospen; der scharfe Wind und die kalten Regengüsse zerstörten zur Verzweiflung des Berkow’schen Gärtners den ganzen Blumenflor, den er so mühsam auf Terrassen und Gartenbeeten schuf, und zerrissen und ertödteten erbarmungslos jede Blüthe, die sich etwa noch im Freien öffnete; die grundlosen Wege, die nassen, verregneten Wälder machten jeden Ausflug, der überhaupt nur im geschlossenen Wagen möglich war, zu einem ebenso unangenehmen als zwecklosen Unternehmen.

Tag für Tag fast Sturm und Regen, grau umzogener Himmel, nebelumflorte Berge, kaum hin und wieder ein matter Sonnenblick, und dazu eine öde, trostlose Häuslichkeit, wo kein Sonnenstrahl je die Nebel durchdrang, die sich dichter und dichter herabsenkten, wo jede Blüthe, die sich vielleicht aufthun wollte, erstarrte in der eisigen Atmosphäre des Hasses und der Bitterkeit, wo zwei Gatten das, was sonst Neuvermählte als das höchste Glück ersehnen, das ungestörte Zusammenleben, als eine Art von Folter empfanden, der ein Jedes so viel als möglich zu entfliehen strebte – es war wahrlich genug, um die tiefe Blässe auf dem Antlitz der jungen Frau zu erklären, den Schmerzenszug um den Mund, den keine Selbstbeherrschung mehr verwischen konnte, den düsteren schwermüthigen Blick, mit dem sie in die Regenlandschaft hinausschaute. Sie hatte ihrer Kraft doch wohl mehr zugetraut, als sie zu tragen im Stande war. Das Opfer war schnell gebracht im Aufflammen des Muthes und der Kindesliebe, aber die Stunden und Tage nach dem Opfer, dies thatenlose Erliegen unter dem selbsterwählten Geschick, das erst fordert den wahren Muth, die vollste Willenskraft in die Schranken, und wie viel Eugenie auch von beiden besitzen mochte, man sah es ihr doch an, wie schwer sie an diesem „Nachher“ trug.

Ihr Gatte, der in der anderen Ecke des Wagens lehnte, möglichst weit entfernt, so daß die Falten ihrer Seidenrobe kaum seinen Mantel berührten, schien nicht viel leichter an seinem Glücke zu tragen. Freilich, sein Gesicht war von jeher so bleich gewesen, das Auge immer so müde, die Haltung stets so theilnahmlos, wie eben jetzt, aber es stand doch ein Zug in seinem Antlitz, der früher nicht dagewesen war, den erst die letzten vier Wochen dort eingegraben hatten, ein bitterer, finsterer Zug, der selbst der gleichgültigsten Blasirtheit nicht mehr weichen wollte.

Er schaute gleichfalls stumm durch das Wagenfenster und machte so wenig wie Eugenie den Versuch, eine Unterhaltung zu beginnen. Sie hatten heut überhaupt erst beim Einsteigen einander zu Gesicht bekommen und dabei einige förmliche Redensarten über das Wetter, die Fahrt und den Zweck derselben ausgetauscht; dann war ein eisiges Schweigen eingetreten, das dem Anschein nach bis zur Ankunft in der Stadt fortdauern sollte. Die Fahrt war auf diese Weise nicht die angenehmste; zwar fühlte man in dem geschlossenen bequemen Wagen nichts von der Witterung draußen, aber selbst die weichsten Polster vermochten nicht ganz vor der schlechten Beschaffenheit des Weges zu schützen, auf dem die schwere Kutsche, trotz der schönen und kraftvollen Pferde, die sie zogen, nur langsam vorwärts rollte. Man hatte ungefähr die Hälfte der Fahrt zurückgelegt und befand sich mitten im Walde, als ein besonders heftiger Stoß den Wagen fast auf die Seite warf. Der Kutscher stieß einen halblauten Fluch aus und hielt die Pferde an; er und der Diener stiegen eiligst vom Bock herunter und es wurde draußen ein lautes Hin- und Herreden laut.

„Was giebt es denn?“ fragte Eugenie, sich unruhig emporrichtend.

Arthur seinerseits zeigte sehr wenig Interesse zu erfahren, was es gäbe; er hätte wahrscheinlich ruhig gewartet, bis man ihm die betreffende Meldung machte, jetzt aber fühlte er sich doch bewogen, das Fenster herabzulassen und die Frage seiner Frau zu wiederholen.

„Aengstigen Sie sich nicht, Herr Berkow!“ sagte der Kutscher, der, die Zügel fest in der Hand haltend, vor den Schlag trat. „Wir sind noch glücklich genug davongekommen, aber um ein Haar hätten wir umgeworfen. An dem Hinterrade muß irgend etwas zerbrochen sein. Franz ist eben dabei, nachzusehen.“

Die Meldung, die Franz nach geschehener Untersuchung zurückbrachte, lautete nicht eben tröstlich. Das Rad war so stark beschädigt, daß es sich als eine Unmöglichkeit erwies, mit dem Wagen in diesem Zustande auch nur hundert Schritte weit zu fahren. Die beiden Diener sahen ihre Herrschaft rathlos an.

„Ich fürchte, wir müssen unter diesen Umständen auf die beabsichtigten Besuche verzichten,“ sagte Arthur gleichgültig, indem er sich zu seiner Frau wandte. „Bis Franz nach Hause zurückkehrt und mit einem neuen Wagen wiederkommt, dürfte es für die Fahrt nach der Stadt doch wohl zu spät geworden sein.“

„Das fürchte ich auch. Es bleibt uns also nichts übrig, als auszusteigen und umzukehren.“

„Auszusteigen?“ fragte Arthur mit offenbarer Verwunderung. „Beabsichtigst Du etwa den Rückweg zu Fuße anzutreten?“

„Beabsichtigst Du etwa so lange im Wagen zu bleiben, bis Franz mit einem anderen zur Stelle ist?“

Arthur schien dies in der That sich vorgenommen zu haben und er hätte es wahrscheinlich auch ausgehalten, zwei volle Stunden lang in der Ecke des Wagens zu liegen, wo er ja vor Wind und Wetter geschützt war, ehe er sich zu einer Fußtour durch den kalten nassen Wald entschloß. Eugenie mochte ihm das wohl ansehen, denn das verächtliche Lächeln trat wieder auf ihre Lippen. „Ich meinestheils ziehe den Rückweg zu Fuße diesem zwecklosen und ermüdenden Warten vor! Franz wird mich begleiten, da er ohnedies zurück muß. Du bleibst wohl jedenfalls im Wagen? Ich möchte um keinen Preis die Verantwortung auf mich nehmen, Dir eine Erkältung zuzuziehen.“

Was der ganze Unfall nicht vermocht hatte, das bewirkte die unverhüllte Ironie dieser Worte; sie scheuchten den jungen Mann aus seiner Ecke auf. Er richtete sich empor, stieß die Thür auf und stand in der nächsten Minute bereits draußen auf dem Wagentritt, ihr die Hand zum Aussteigen bietend. Eugenie zögerte.

„Ich bitte Dich, Arthur –“

„Ich bitte Dich, den Leuten wenigstens kein Schauspiel zu geben, indem Du die Begleitung des Bedienten der meinigen vorziehst. Willst Du die Güte haben?“

Die junge Frau zuckte fast unmerklich die Achseln, aber es blieb ihr nichts Anderes übrig, als die dargebotene Hand anzunehmen, denn Kutscher und Diener standen in der That in unmittelbarer Nähe; sie stieg also aus und Arthur wandte sich zu den Leuten.

„Ich werde die gnädige Frau zurückbegleiten. Seht zu, daß Ihr den leeren Wagen nach irgend einem Gehöfte bringt, wo er vorläufig bleiben kann, und Ihr folgt uns sobald als möglich mit den Pferden.“

Die Diener zogen die Hüte und machten sich daran, den erhaltenen Befehl auszuführen; es war allerdings das Einzige, was unter diesen Umständen zu thun übrig blieb. Mit einer leichten Bewegung lehnte Eugenie den dargebotenen Arm ihres Gatten ab.

„Ich fürchte, wir müssen hier auf den Promenadenschritt verzichten!“ sagte sie ausweichend. „Es muß wohl ein Jeder zusehen, wie er allein vorwärts kommt.“

Sie versuchte dies in der That, aber nur, um schon beim ersten Schritt bis an die Knöchel in dem zähen aufgeweichten Schlamm des Bodens zu versinken, und als sie erschreckt darüber nach der anderen Seite hinüberflüchtete, gerieth sie in zolltiefes Wasser, das unter ihren Füßen aufspritzte; die junge Frau stand rathlos da. So schlimm war ihr der Weg vom Wagen aus denn doch nicht erschienen.

„Hier kommen wir überhaupt nicht vorwärts!“ erklärte Arthur, der inzwischen das gleiche Experiment mit einem ähnlichen Erfolge versucht hatte. „Wir müssen durch den Wald zurück.“

„Ohne Weg und Steg zu kennen? Wir werden uns verirren.“

„Schwerlich! Ich erinnere mich noch aus meinen Knabenjahren ganz deutlich eines Fußpfades, der mitten durch den Wald über die Höhen in’s Thal führt und dabei noch den Vortheil hat, den Weg bedeutend abzukürzen. Wir müssen ihn aufsuchen.“

Eugenie zögerte noch immer, aber die thatsächliche Unmöglichkeit, den zur Hälfte überschwemmten und von den Wagengeleisen noch mehr zerwühlten Fahrweg zu passiren, ließ ihr keine Wahl. Sie folgte ihrem Gatten, der bereits nach links abbog, und wenige Minuten später umfing sie Beide das dichte, dunkle Grün der Tannen.

Auf dem Moos und den Wurzeln des Waldbodens war nun wenigstens die Möglichkeit gegeben, vorwärts zu kommen, das heißt für unverwöhnte Füße. Für einen Herrn und eine Dame, die nur das Parquet des Salons gewohnt waren, denen bei jedem Ausflug Wagen und Reitpferde zur Disposition standen, und deren ganze Fußtouren sich auf einen Spaziergang im Park bei vollendet schönem Wetter beschränkten, bot dieser Weg noch immer Schwierigkeiten genug – und dazu dieser stürmische Nebeltag! Es regnete zwar jetzt nicht mehr, aber die ganze Umgebung triefte vor Nässe, und die Wolken drohten jeden Augenblick einen neuen Schauer herabzusenden. Ueber eine Stunde vom Hause entfernt, mitten im Walde, in den sie auf’s Gerathewohl wie ein paar Abenteurer eindrangen, ohne Wagen und Diener, ohne den geringsten Schutz gegen Wind und Regen – es war in der That eine ebenso ungewohnte als verzweifelte Situation für Herrn Arthur Berkow und dessen hochgeborene Gemahlin.

Die junge Frau fand sich indessen bald mit ihrer gewöhnlichen Entschlossenheit in das Unvermeidliche. Sie hatte schon nach den ersten zehn Schritten die Unmöglichkeit eingesehen, ihr helles Seidenkleid und ihren weißen Burnus zu retten, sie gab daher beides ruhig dem nassen Moose und den tropfenden Bäumen preis und schritt muthig vorwärts. Aber so wenig ihre Toilette für eine solche Wanderung geeignet war, so wenig vermochte dieselbe sie vor der Witterung zu schützen; sie hüllte sich fröstelnd fester in den leichten Cachemir und schauerte unwillkürlich zusammen, als der kalte Wind sie berührte.

Ihr Gatte bemerkte das und blieb stehen. Er hatte, verweichlicht wie er war, trotz des geschlossenen Wagens einen Mantel umgeworfen, der ihn vollkommen schützte. Jetzt nahm er ihn schweigend ab, um ihn um die Schultern der jungen Frau zu legen, diese aber wich mit vollster Entschiedenheit zurück.

„Ich danke! Ich bedarf dessen nicht.“

„Du frierst ja.“

„Durchaus nicht! Ich bin nicht so empfindlich gegen die Witterung wie Du.“

Ohne ein Wort zu sagen, nahm Arthur den Mantel zurück, aber anstatt sich auf’s Neue darin einzuwickeln, warf er ihn nachlässig über den Arm und schritt nun in dem leichten Gesellschaftsanzuge an ihrer Seite hin. Eugenie kämpfte einen aufsteigenden Aerger nieder; sie wußte selbst nicht recht, warum dies Benehmen sie so verletzte, aber sie hätte es weit lieber gesehen, wenn er sich jetzt ängstlich in den verschmähten Mantel gehüllt hätte, um seine kostbare Gesundheit zu schonen, anstatt sich so rücksichtslos Wind und Wetter preiszugeben. Ein ruhiges, überlegtes sich Fügen in das Unvermeidliche war ihre Sache; sie konnte nicht begreifen, wie ihr Gatte dazu kam, dies Recht auch einmal für sich in Anspruch zu nehmen, konnte überhaupt nicht begreifen, wie er, der sich schon bei dem bloßen Gedanken an diese Waldpromenade entsetzt hatte, jetzt deren Unbequemlichkeiten gar nicht mehr zu empfinden schien, während sie schon halb und halb ihren Entschluß bereute. Ein Windstoß riß ihm den Hut vom Kopfe und wehte ihn einen Abhang hinunter, in dessen Tiefe er nicht mehr zu erreichen war. Gelassen sah Arthur dem Flüchtlinge nach und warf mit einer beinahe trotzigen Bewegung das lange braune Haar zurück. Sein Fuß sank bei jedem Schritt tief ein in das nasse Moos, und doch war Eugenien dieser Schritt nie so fest, so elastisch vorgekommen, wie heute. Die schlaffe Haltung ihres Gatten verlor sich mit jeder Minute mehr und mehr, je tiefer sie in die grüne Wildniß eindrangen. Seine sonst so matten Augen späheten scharf nach dem gesuchten Wege umher. Der nasse, finstere Wald schien einen förmlich belebenden Einfluß auf ihn auszuüben, in so tiefen Zügen athmete er die herbe, harzige Tannenluft ein, so schnell führte er seine junge Frau unter den sausenden Wipfeln dahin. Plötzlich blieb er stehen und rief fast triumphirend aus: „Da ist der Weg!“

Sie sahen in der That einen schmalen Fußpfad vor sich, der quer durch den Wald lief und sich in einiger Entfernung zu senken schien. Eugenie schaute etwas verwundert darauf hin; sie hatte es ihrem Manne wirklich nicht zugetraut, daß er im Stande wäre, einen sicheren Führer abzugeben, und sich bereits vollständig auf’s Verirren gefaßt gemacht.

„Du scheinst sehr vertraut mit der Gegend!“ sagte sie, während sie an seiner Seite den Weg betrat.

Arthur lächelte, aber freilich galt dies Lächeln nicht ihr, sondern der Umgebung, die er jetzt forschend musterte.

„Ich werde doch meinen Wald noch kennen! Wir sind alte Freunde, wenn wir uns auch lange, sehr lange nicht gesehen haben.“

Eugenie hob verwundert das Haupt. Den Ton hatte sie noch nie aus seinem Munde gehört; es lag darin eine tief zurückgedrängte Empfindung, die sich gleichwohl in der Stimme verrieth.

„Liebst Du den Wald so sehr?“ fragte sie, unwillkürlich ein Gespräch fortsetzend, das sonst wahrscheinlich wieder in dem gewöhnlichen Stillschweigen sein Ende gefunden hätte. „Weshalb hast Du ihn denn während der ganzen vier Wochen nicht ein einziges Mal betreten?“

Arthur antwortete nicht. Sein Blick verlor sich wie träumend in den grünen nebelumschleierten Tiefen. „Weshalb?“ fragte er endlich düster, „ich weiß es nicht! Vielleicht war ich zu träge. Man verlernt ja zuletzt Alles in Eurer Residenz, sogar die Sehnsucht nach der Waldeinsamkeit.“

„In Eurer Residenz? Ich dächte, Du wärest so gut wie ich dort erzogen.“

„Gewiß! Nur mit dem Unterschiede, daß mein Leben aufhörte, als meine sogenannte Erziehung anfing. Was überhaupt des Erlebens werth war, das ließ ich hinter mir, als ich in jenen Mauern einfuhr; denn lebenswerth waren nur meine frohen sonnigen Knabenjahre.“

Es war ein halb bitterer, halb grollender Ton, mit dem er die Worte hinwarf. Aber auch in Eugeniens Innerem quoll jetzt wieder die alte Bitterkeit heiß empor. Wie durfte er es wagen, von Aufgeben, von Entsagung zu sprechen? was wußte er überhaupt davon? Für sie freilich war mit der Kindheit auch das Glück zu Ende gewesen; für sie begann mit dem Eintritte in’s Leben die ganze Stufenleiter von Sorge, Demüthigung und Verzweiflung, die sie als Vertraute ihres Vaters, als Eingeweihte in die Verhältnisse ihrer Familie durchzumachen hatte, die bittere Schule, die wohl ihren Charakter gestählt, aber ihr auch alle Freuden der Jugend geraubt hatte. Wie war dagegen die Stellung ihres Gatten, wie seine Vergangenheit gewesen! Und er sprach davon wie von einem Unglück!

Arthur schien diese Gedanken auf ihrem Gesichte zu lesen, als er sich umwandte, um einen tief niederhängenden Zweig bei Seite zu schieben, der sie sonst gestreift hätte.

„Du meinst, ich hätte am wenigsten Grund, mich zu beklagen? Möglich! Wenigstens ist mir von jeher gesagt worden, daß mein Dasein ‚beneidenswerth‘ sei. Aber ich versichere Dir, es ist bisweilen verzweifelt öde und trostlos, solch ein Leben, wo das Glück Einem all’ seine Gaben vor die Füße schüttet, die man eben deshalb mit Füßen tritt, weil man nichts weiter mit ihnen anzufangen weiß, so öde und trostlos, daß man zuletzt um jeden Preis hinaus möchte aus dieser vielgepriesenen vergoldeten Glückseligkeit, hinaus – und wäre es auch in Sturm und Unwetter!“

Die dunkeln Augen Eugeniens hingen in sprachlosem Erstaunen an seinen Zügen. Urplötzlich ergoß sich eine helle Röthe über sein Gesicht. Er schien sich auf einmal zu besinnen, daß er sich des unverzeihlichen Fehlers schuldig gemacht, vor seiner Gattin irgend ein Gefühl zu verrathen. Der junge Mann runzelte die Stirn und warf einen grollenden Blick auf den Wald, der ihn zu diesem Ausbruch verleitet, aber schon in der nächsten Secunde fiel er völlig wieder in den alten blasirten Ton zurück.

„Sturm und Unwetter haben wir freilich mehr, als uns lieb ist!“ sagte er nachlässig und im Vorwärtsschreiten ihr völlig den Rücken zuwendend, „das tobt ja entsetzlich auf der freien Höhe da oben! Wir werden warten müssen, bis das ärgste Wehen vorüber ist; so können wir nicht hinunter.“

In der That überfiel sie beim Heraustreten aus dem Walde der Sturm mit einer solchen Gewalt, daß sie Mühe hatten, sich auf den Füßen zu halten. Es war augenblicklich unmöglich, aus dem Wege, der sich jetzt steil und offen in’s Thal hinabsenkte, weiter vorwärts zu kommen; man gerieth in Gefahr, von dem Winde erfaßt und in die Tiefe geschleudert zu werden. So blieb vorläufig nichts übrig, als hier im Schutze der Bäume zu warten, bis eine Pause in dem Toben der Lüfte eintrat.

Sie standen unter einer mächtigen Tanne, die am Saume des Waldes aufragte. Der Sturm wühlte in ihren grünen Armen, die sie schützend über ihre jüngeren Gefährten ausbreitete, und auch sie schwankte ächzend auf und nieder; aber der riesige weißgraue Stamm bot doch immerhin einen Halt und einen Schutz für Eugenie, die sich daran lehnte. Es wäre zur Noth dort Platz für zwei Personen gewesen, aber dann hätten sie sich eng aneinander drücken müssen, und diese Erwägung war es vermuthlich, die Arthur bestimmte, einige Schritte von ihr entfernt stehen zu bleiben, obgleich er dort nur sehr unvollkommen geschützt war, und die auf- und niederwehenden Zweige ihre beim letzten Regenschauer vollauf empfangene Nässe reichlich auf ihn niederschüttelten. Sein Haar flatterte im Wind, und die Tropfen rannen ihm von der unbedeckten Stirn nieder. Dennoch machte er nicht den geringsten Versuch, seinen Platz zu ändern.

„Willst Du – willst Du nicht lieber hierher kommen?“ fragte Eugenie zögernd, während sie sich seitwärts drückte, um ihm auf der einzigen trockenen Stelle etwas Raum zu geben.

„Ich danke! Ich möchte Dir mit meiner Nähe nicht beschwerlich fallen!“

„So nimm wenigstens den Mantel um!“ Es klang diesmal fast wie eine Bitte. „Du wirst ja völlig durchnäßt!“

„Durchaus nicht. Ich bin nicht so empfindlich gegen die Witterung, wie Du glaubst.“

Die junge Frau biß sich auf die Lippen. Es ist nicht angenehm, mit seiner eigenen Waffe geschlagen zu werden, aber noch weit mehr als dies reizte sie der Trotz, mit dem er Wind und Wetter über sich ergehen ließ, einzig um ihr eine Lehre zu geben. Sie fand freilich diesen Trotz unbeschreiblich lächerlich; sie litt doch wahrlich nicht darunter und ihr war es beinahe gleichgültig, ob er sich dadurch eine Erkältung, eine Krankheit zuzog, oder nicht, aber es reizte sie nun einmal, daß er so gelassen dastand und mitten im Sturm seinen Platz behauptete, vielleicht mit Anstrengung, aber doch behauptete, er, der eine halbe Stunde vorher noch schläfrig und fröstelnd in den Polstern des bequemen Wagens gelegen hatte und jeden Luftzug, der etwa durch die Glasfenster eindrang, peinlich zu empfinden schien. Brauchte er wirklich erst Sturm und Unwetter, um ihr zu zeigen, daß er doch nicht so ganz der Weichling war, für den sie ihn gehalten?

Arthur sah indessen nicht aus, als ob er ihr überhaupt irgend etwas zu zeigen beabsichtige; er schien im Augenblick ihre Nähe ganz vergessen zu haben. Mit verschränkten Armen stand er da und schaute auf das Waldgebirge, dessen größten Theil man von der Höhe hier übersah. Langsam schweifte sein Auge von einer Bergspitze zur anderen, und Eugenie machte dabei auf einmal die überraschende Entdeckung, daß ihr Gatte doch eigentlich sehr schöne Augen habe. Das überraschte sie in der That, sie hatte bisher nur gewußt, daß dort unter den halbverschleiernden Lidern etwas Müdes, Schläfriges ruhe, und sich nie die Mühe genommen, es weiter zu beachten. Wenn er einmal aufschaute, so geschah es ja stets so langsam, so träge, als koste ihm der Blick eine unendliche Mühe und sei doch nicht der Mühe werth; und doch war dieser Blick wohl werth, gesehen zu werden. Man hätte, nach dem Ausdrucke des Gesichtes zu urtheilen, unter den meist gesenkten Wimpern ein mattes kaltes Blau vermuthen sollen; statt dessen leuchtete dort ein klares, tiefes Braun, zwar auch noch matt, auch noch leblos, aber es schien doch, als könnten diese Augen einmal aufleuchten in Energie und Leidenschaft, als sei eine längst versunkene und vergessene Welt tief hinter diesem dunklen Blick gebannt und warte nur auf das erlösende Wort, um wieder heraufzusteigen aus der Tiefe. – In der jungen Frau zuckte wieder die Ahnung empor, die sie schon vorhin im Walde überkam, als er sich so plötzlich von ihr wandte, der Argwohn, als habe der Vater mit seiner Erziehung hier viel, unendlich viel verschuldet und zerstört, mehr als er je verantworten, mehr als er je wieder gut machen konnte.

Sie standen beide einsam da oben auf der Höhe. Im Nebelschleier lag der Wald da, dicht umflort von den grauen Schatten, die sich bald fest an die dunklen Tannen klammerten, bald in flatternden Streifen an ihren Wipfeln hingen, bald gespenstig über den Boden hinschwebten. Und die gleichen Nebelschleier schwebten und flatterten auch über dem Gebirge drüben, bald zerreißend, bald sich zusammenballend, um die dunklen Gipfel und in den dampfenden Thälern. Es war ein Wallen und Wogen ohne Ende, ein Sinken und Steigen, jetzt als wollten Berge und Wälder sich aufthun in ihren fernsten Tiefen, jetzt als wollten sie sich verschließen vor jedem Menschenauge. Ringsum brauste der Sturm und wühlte in den hundertjährigen Tannen wie in einem Kornfelde; ächzend schwankten die mächtigen Stämme auf und nieder; sausend bogen sich die Wipfel, und über ihnen dahin jagten die grauen Wolken, gährende, gestaltlose Massen, in wilder regelloser Flucht. Es war ein Unwetter, wie nur je eins im Schooße des Gebirges emporstieg, und doch waren es Frühlingsstürme, die da oben brausten! Auf diesen sausenden Schwingen kam der Frühling gezogen, nicht sonnig lächelnd wie drunten in der Ebene; hier kam er rauh, wild und gewaltsam, aber es war doch sein Athem, der in diesem Sturme wehte, sein Ruf, der aus diesem Brausen klang. Es liegt etwas in dem Wesen der Frühlingsstürme, wie eine Verheißung all’ des Sonnenglanzes und Blüthenduftes, der sich nun bald über die Erde ausgießen wird, wie eine Ahnung all’ des mächtig schaffenden Lebens, das schon seine tausend Keime empor zum Lichte ringt. Und sie hörten den Ruf und antworteten ihm, die brausenden Wälder, die stürzenden Bäche und dampfenden Thäler. In diesem Brausen und Schäumen und Toben, da klang doch nur das Aufjauchzen der Natur, die nun endlich die letzten Fesseln des Winters abwarf, klang ihr Jubelruf, mit dem sie den nahenden Retter begrüßte: Der Frühling kommt!

Es ist etwas Geheimnißvolles, solch eine Frühlingsstunde, und die Sagen des Gebirges leihen ihr einen eigenen, romantischen Zauber. Sie erzählen von dem Berggeiste, der dann durch sein Reich hinschreitet und dessen Macht in einer solchen Stunde auch segnend oder verheerend in das Leben der Menschen tritt, die in diesem Reiche weilen. Was sich da findet, das gehört zusammen für immer, und was sich da trennt, das trennt sich für alle Ewigkeit. Sie brauchten sich freilich nicht erst zu finden, die Beiden auf der Höhe da oben; sie waren verbunden durch das festeste Band, das zwei Menschen nur einigen kann, und doch standen sie sich so fern, und doch waren sie einander so fremd, als lägen Welten zwischen ihnen. Das Stillschweigen hatte bereits eine geraume Zeit gedauert. Eugenie brach es zuerst.

„Arthur!“

Er schreckte wie erwachend auf und wandte sich zu ihr.

„Du wünschest?“

„Es ist so kalt hier oben – willst Du mir jetzt nicht – Deinen Mantel leihen?“

Wie vorhin stieg wieder eine helle Röthe auf in dem Antlitz des jungen Mannes, als er sie in sprachloser Verwunderung anblickte. Er wußte, daß die stolze Frau lieber erstarrt wäre in dem eisigen Winde, als daß sie sich herabgelassen hätte, um die einmal verschmähte Hülle zu bitten, und dennoch that sie es jetzt in diesem stockenden Tone, mit diesen niedergeschlagenen Augen, mit denen man ein begangenes Unrecht eingesteht. In der nächsten Minute schon stand er neben ihr und bot ihr den Mantel hin. Sie ließ es schweigend geschehen, daß er ihn um ihre Schultern legte; aber als er nun wieder an seinen Platz zurückkehren wollte, traf ihn ein Blick stummen, ernsten Vorwurfs. Arthur schien noch eine Secunde lang zu zögern; aber hatte sie nicht etwas gethan, das beinahe einer Abbitte glich? Er ließ gleichfalls seinen Trotz fahren und blieb an ihrer Seite.

Aus dem Thale war eine Nebelwand aufgestiegen und lagerte jetzt so dicht um die Beiden, als wollte sie dieselben festhalten an diesem Orte. Berge und Wälder verschwanden in dem grauen Dunst; nur die Tanne ragte mächtig daraus empor und blickte ernst nieder auf die zwei Menschen, die sich in ihren Schutz geflüchtet. Ueber ihnen rauschten und wehten die dunklen Zweige wie mit tausend seltsamen geheimnißvollen Stimmen, und dazwischen brausten die volleren Accorde des Waldes – es war so angstvoll beklemmend in diesem Nebel, unter diesem Wehen und Rauschen. Eugenie fuhr plötzlich auf, als müsse sie sich einer Gefahr entreißen, die sie umstrickt hielt.

„Der Nebel wird immer dichter,“ sagte sie gepreßt, „und das Wetter immer unheimlicher! Glaubst Du, daß irgend eine Gefahr für uns auf diesem Wege vorhanden ist?“

Arthur blickte in die wogende Dunstmasse und strich sich mit der Hand die Tropfen aus dem feuchten Haar.

„Ich kenne unsere Berge nicht genug, um zu wissen, in wieweit ihre Stürme gefährlich werden können. Und wenn es nun der Fall wäre, würdest Du Dich fürchten?“

„Ich bin nicht furchtsam, und doch zagt man immer, wo es sich um das Leben handelt.“

„Immer? Ich dächte, das Leben, das wir in diesen vier Wochen geführt haben, wäre nicht derart gewesen, daß man zittern müßte, es auf’s Spiel zu setzen, zumal für Dich nicht!“

Die junge Frau senkte das Auge. „Ich bin Dir, so viel ich weiß, noch mit keiner Klage lästig gefallen,“ erwiderte sie leise.

„O nein! Ueber Deine Lippen kommt gewiß keine Klage. Wenn Du nur so gut wie die Klagen der Lippen auch die Blässe der Wangen zurück zwingen könntest! Du thätest es sicher, aber daran scheitert selbst Deine Willenskraft. Glaubst Du, daß es mir so große Freude macht, zu sehen, wie mein Weib sich an meiner Seite schweigend verblutet, weil das Schicksal sie nun einmal an diese Seite gezwungen hat?“

Jetzt war es Eugenie, die tief und glühend erröthete; aber es war nicht der Vorwurf in seinen Worten, der diese Gluth auf ihre Wangen rief, nur der seltsame Ausdruck, den er zum ersten Male ihr gegenüber gebrauchte. „Mein Weib!“ hatte er gesagt. Ja freilich, sie war ihm angetraut, aber es war ihr noch niemals eingefallen, daß er ein Recht haben konnte, sie „sein Weib“ zu nennen.

„Weshalb berührst Du denn jetzt diesen Punkt wieder?“ fragte sie sich abwendend. „Ich hoffte, es sei mit jener ersten nothwendigen Erklärung zwischen uns für immer abgethan.“

„Weil Du Dich in dem Irrthume zu befinden scheinst, ich wolle Dich zeitlebens in den Fesseln halten, die mir wahrlich so drückend sind, wie sie Dir nur je waren.“

Der Ton klang eisig kalt, und doch blickte Eugenie rasch zu ihm auf, aber sie vermochte nicht das Geringste in seinem Gesichte zu lesen. Warum verschleierten sich denn diese Augen immer wieder, sobald sie es versuchte, darin zu forschen? Wollten sie ihr nicht Rede stehen oder fürchteten sie sich davor?

„Du sprichst von einer – Trennung?“

„Meinst Du, ich hätte eine dauernde Ehe zwischen uns für möglich gehalten nach jenen Ausdrücken von Hochachtung, die ich am ersten Abende aus Deinem Munde hören mußte?“

Eugenie schwieg. Ueber ihrem Haupte rauschten und wehten wieder die grünen Tannenarme; die Waldesstimme drang mahnend und warnend herab zu den Gatten, die eben im Begriff standen, das Trennungswort auszusprechen, denn Keiner von Beiden wollte die Warnung verstehen.

„Wir sind Beide nicht frei genug, um alle Rücksichten bei Seite zu setzen,“ fuhr Arthur in dem gleichen Tone fort, „Dein Vater wie der meinige sind zu bekannt in ihren Kreisen, unsere Verbindung machte zu großes Aufsehen, als daß wir sie sofort wieder hätten lösen können, ohne der Residenz einen unerschöpflichen Stoff zu Skandalgeschichten zu liefern, deren lächerliche Helden wir geworden wären. Man trennt sich nicht nach vierundzwanzig Stunden ohne jede äußere Veranlassung, auch nicht nach acht Tagen, man hält ‚anstandshalber‘ ein Jahr miteinander aus, um dann mit einiger Wahrscheinlichkeit erklären zu können, daß die Charaktere nicht zusammen passen. Ich hoffte, so lange würden auch wir das Nebeneinanderleben ertragen; es scheint aber doch, als ob unsere Kräfte der Aufgabe nicht gewachsen sind. Wenn das so fortgeht, erliegen wir ihr Beide.“

Der Arm, den die junge Frau um den Stamm des Baumes geschlungen hatte, zitterte leise, aber ihre Stimme klang vollkommen fest, als sie entgegnete:

„Ich erliege nicht so leicht einer einmal übernommenen Aufgabe, und was Dich betrifft, so glaubte ich in der That nicht, daß Du überhaupt eine Empfindung für das Peinliche dieses Zusammenlebens hättest.“

Sein Blick sprühte auf; es war wieder jenes schnelle, blitzähnliche Aufleuchten, das in den braunen Augen kam und ging, ohne eine Spur zu hinterlassen; sie waren matt und ausdruckslos wie gewöhnlich, als er nach einer kurzen Pause antwortete:

„Du glaubtest das in der That nicht? So? Nun, auf meine Empfindungen kommt es ja auch nicht an. Ich hätte diesen Punkt überhaupt nicht berührt, hätte ich nicht die Nothwendigkeit eingesehen, Dir die Beruhigung zu geben, daß unsere Verbindung gelöst werden soll, sobald es der Welt gegenüber nur irgend möglich ist. Vielleicht sehe ich Dich dann nicht mehr so bleich, wie in diesen letzten Tagen, und vielleicht glaubst Du mir nun auch, was Dir bisher immer noch als eine Lüge galt, daß ich keine Ahnung von jenen Machinationen hatte, die mir eine Hand erzwangen, welche ich freiwillig zu empfangen wähnte.“

„Ich glaube Dir, Arthur“ sagte sie leise, „jetzt glaube ich Dir.“

Arthur lächelte, aber es war ein Lächeln grenzenloser Bitterkeit, mit dem er diesen ersten Beweis des Vertrauens seiner Gattin empfing, in dem Momente, wo er sie aufgab.

„Der Nebel fängt an zu fallen,“ sagte er abbrechend, „und auch der Sturm scheint sich für einige Minuten zu legen. Wir müssen das benutzen, um hinabzukommen; unten im Thale sind wir geschützt und erreichen in wenigen Minuten den Pachthof, wo man uns hoffentlich einen Wagen leihen kann. Willst Du mir folgen?“

Der Weg war steil und schlüpfrig; aber Arthur schien heute nun einmal seine ganze Natur verleugnen zu wollen; er schritt fest und sicher bergabwärts, während Eugenie in ihren dünnen Schuhen und langen Kleidern, durch den Mantel noch mehr in ihren Bewegungen gehindert, kaum vorwärts schreiten konnte. Er sah, daß er ihr zu Hülfe kommen mußte, aber mit einem bloßen Arm-bieten war es auf diesem Wege nicht gethan; er mußte sie nothgedrungen umfassen, wenn die Hülfe überhaupt etwas nützen sollte, und das – ging doch nicht. Der Gatte scheute sich hier, seiner Gattin einen Dienst zu leisten, den er jeder Fremden geleistet hätte, und was jede Fremde unter diesen Umständen unbedenklich angenommen hätte, das zauderte die Frau hier von ihrem Manne anzunehmen; sie bebte leise zusammen, als er nach kurzem Zögern schließlich doch den Arm um sie legte. Keines von Beiden sprach ein Wort während des ganzen nur etwa zehn Minuten dauernden Weges, aber Eugeniens Antlitz wurde immer bleicher bei jedem Schritt, den sie niederwärts thaten. Sie schien es nun einmal nicht ertragen zu können, daß dieser Arm sie umfaßte, daß sie sich auf diese Schulter stützen mußte, so nahe, daß sein Athem sie berührte; und doch erleichterte er ihr das Peinliche der Situation so viel als möglich. Nicht ein einziger Blick fiel auf sie; seine ganze Aufmerksamkeit schien auf den Weg gerichtet, der allerdings Sorgfalt und Umsicht genug erforderte, sollten sie nicht Beide hinabgleiten. Aber die Lippen des jungen Mannes zeigten trotz aller Ruhe doch wieder das verrätherische Zucken, und als er, unten angelangt, mit einem tiefem Aufathmen seine Frau aus den Armen ließ, da sah man deutlich, daß er bei dieser seltsamen Promenade nichts weniger als ruhig gewesen war.

Zwischen den Bäumen hervor schimmerten bereits die Gebäude des Pachthofes, und hastig, als müßten sie um jeden Preis das fernere Alleinsein abkürzen, schlugen Beide den Weg dorthin ein. Ueber sie hin brausten die Frühlingsstürme, und oben auf der Höhe legte sich der Nebel wieder dicht um die Tanne am Saume des Waldes, die ihre Zweige schirmend über zwei Menschen ausgebreitet hatte in der Stunde, von der die Bergsagen erzählen: „Was sich da findet, das gehört zusammen für immer, und was sich da trennt, das trennt sich für alle Ewigkeit!“

Herz-Sammelband: Elisabeth Bürstenbinder Liebesromane

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