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Inhaltsverzeichnis

Das Haus Almbach und Compagnie gehörte zu denen, deren Name an der Börse wie in der Handelswelt überhaupt einen guten Klang hat, ohne gleichwohl irgendwie von hervorragender Bedeutung zu sein. Die Beziehungen seines Chefs zu dem Consul Erlau waren nicht blos geschäftlicher Natur; sie datirten noch aus früheren Zeiten, wo Beide, gleich jung und mittellos, bei einem und demselben Handlungshause in die Lehre traten, der Eine, um sich zum reichen Kaufherrn aufzuschwingen, dessen Schiffe auf allen Meeren schwammen und dessen Verbindungen in alle Welttheile hinüberreichten, der Andere, um ein bescheidenes Geschäft zu gründen, dessen Umfang sich nie über gewisse Grenzen hinaus erstreckte. Almbach scheute jede gewagte Speculation, jede größere Unternehmung, und war auch keineswegs der Mann, dergleichen zu überblicken und zu leiten; er zog einen mäßigen, aber sicheren Gewinn vor, der ihm auch im vollsten Maße zu Theil ward. Seine gesellschaftliche Stellung war von der Erlau’s freilich so verschieden wie das alterthümliche, düstere Haus in der Canalstraße mit seinem hohen Giebel und vergitterten Comptoirfenstern von dem fürstlich eingerichteten Palais am Hafenbassin. Die Freundschaft zwischen den ehemaligen Jugendgefährten hatte sich allmählich mehr und mehr gelockert, aber es war wohl hauptsächlich Almbach, der die Schuld daran trug. Er konnte sich nicht darein finden, daß der Consul, nachdem er zum Millionär geworden, auch auf einem Fuße lebte, der dieser Stellung entsprach. Vielleicht verzieh er es ihm auch nicht, daß Jener den ersten Platz einnahm, wo er selbst erst in dritter oder vierter Reihe stand, und so sehr er in geschäftlicher Hinsicht die Vortheile zu benutzen wußte, die eine nähere Bekanntschaft mit der großen Erlau’schen Firma ihm eröffnete, so sehr hielt er seinen streng bürgerlichen und etwas altfränkischen Haushalt außer aller Berührung mit dem des Consuls. Die Einladungen desselben hatten aufgehört, als er sah, daß sie nicht gern angenommen wurden; jetzt beschränkte sich die beiderseitige Begegnung schon seit Jahren auf ein gelegentliches Zusammentreffen an der Börse oder am dritten Orte, und kürzlich hatte sich Almbach sogar, als eine Geschäftssache persönliche Rücksprache verlangte, durch seinen Schwiegersohn vertreten lassen. Es war ihm durchaus nicht lieb, daß dem jungen Manne bei dieser Gelegenheit die Einladung zur Oper und zu der darauffolgenden Soirée zu Theil wurde, und so wenig sich diese Artigkeit ablehnen ließ, so wenig verhehlte der Kaufmann seiner Familie gegenüber seinen Unmuth über die Einführung Reinhold’s in das „Nabobleben“, eine Bezeichnung, mit der er gewöhnlich den Haushalt seines alten Freundes beehrte.Trotz alledem war Almbach ein wohlhabender, ja, wie von vielen Seiten behauptet wurde, sogar ein sehr vermögender Mann geworden und in dieser Eigenschaft der Mittelpunkt und die Stütze einer zahlreichen, nicht gerade sehr mit Glücksgütern gesegneten Verwandtschaft. So fiel ihm denn auch die Sorge für die Erziehung seiner beiden verwaisten Neffen anheim, die ihr Vater, ein Schiffscapitain, gänzlich mittellos zurückgelassen hatte.

Almbach besaß nur ein einziges Kind, dessen Existenz er freilich nie eine besondere Wichtigkeit beigelegt hatte, da es ein Mädchen war. Der Consul und dessen Gattin waren die Paten der Kleinen gewesen, und es konnte immerhin als ein Act der Selbstüberwindung gelten, daß Almbach seiner Tochter den Namen der Frau Erlau beilegte, denn er haßte das vornehm und romantisch klingende „Eleonore“ ganz außerordentlich und beeilte sich sehr bald, es in das weit einfachere „Ella“ umzugestalten. Diese Bezeichnung war wohl auch die passendere, denn Ella Almbach galt überall für ein nicht bloß einfaches, sondern sogar für ein äußerst beschränktes Wesen, dessen Horizont sich nie über die kleinen Vorkommnisse der Häuslichkeit und der Wirthschaft hinaus erstreckte. Das Kind war in früheren Zeiten sehr kränklich gewesen, und das mochte auch auf die Entwickelung seiner geistigen Fähigkeiten lähmend gewirkt haben. Sie waren in der That sehr untergeordneter Natur, und die äußerst einseitige, streng wirthschaftliche Erziehung im Elternhause, die jeden andern Ideen- und Gedankenkreis ausschloß, schien auch nicht geeignet, ihnen eine höhere Richtung zu geben. So war das Mädchen denn still und scheu herangewachsen, stets übersehen, überall bei Seite geschoben und ohne die geringste Geltung selbst bei den nächsten Familiengliedern. Man hatte sich gewöhnt, sie als ganz unselbstständig und halb unzurechnungsfähig zu betrachten, und auch ihre spätere Heirath änderte darin durchaus nichts.

Keines der jungen Leute erhob einen Einwand gegen den längst gehegten und ihnen längst bekannten Plan einer Verbindung. Ein siebenzehnjähriges Mädchen und ein zweiundzwanzigjähriger Mann haben wohl überhaupt noch nicht viel Selbstbestimmung, am wenigsten, wenn sie in so abhängigen Verhältnissen aufgewachsen sind. Hier kam noch die Gewohnheit eines steten Zusammenlebens hinzu, das doch immerhin eine Art von Neigung erzeugt hatte, obgleich diese bei Reinhold eigentlich nur mitleidige Duldung und bei Ella geheime Furcht vor dem ihr geistig so sehr überlegenen Vetter war. Sie reichten sich also gehorsam die Hand zur Verlobung, der in Jahresfrist die Trauung folgte. Ueber Beiden waltete nach wie vor das Scepter Almbach’s, der seinem nunmehrigen Schwiegersohne, der dem Namen nach jetzt sogar Compagnon war, so wenig irgend eine Selbstständigkeit im Geschäfte gestattete, wie seine Gattin der jungen Frau im Haushalte.

Es war Sonntag Morgen. Das Comptoir war geschlossen, und Reinhold hatte einmal einen freien Vormittag vor sich, was ihm allerdings nur selten zu Theil wurde. Er befand sich im Gartenhause, dessen ausschließliche Benutzung er endlich errungen hatte, allerdings erst nach manchen Kämpfen und nur durch den wiederholten Hinweis auf seine musikalischen Uebungen, die man im Hause selbst allzu störend fand. Der junge Mann war nur hier einigermaßen sicher vor der fortwährenden Controlle seiner Schwiegereltern, die sich bis in die Wohnung des jungen Paares hinein erstreckte, und er benutzte jede freie Stunde, sich in sein Asyl zu flüchten.

Der sogenannte „Garten“ war von jener Beschaffenheit, wie sie in einem enggebauten, alten und menschenvollen Stadtviertel die allein mögliche ist. Ueberall hohe Mauern und Giebel, die von allen Seiten das Stückchen Erde einengten, dem Luft und Sonnenschein nur spärlich zugemessen war, und auf dem einige Bäume und Gesträuche ein kümmerliches Dasein fristeten. Als Grenzlinie hatte das Gärtchen einen jener kleinen Canäle, welche die Stadt nach allen Richtungen hin durchzogen, und dessen stille dunkle Fluth einen recht trübseligen Hintergrund bildete; jenseit desselben aber sah man wieder Mauern und Giebel; das Gefängnißartige, das dem ganzen Almbach’schen Hause anhaftete, schien sich auch auf den einzigen freien Raum desselben zu erstrecken.

Das Gartenhaus selbst war nicht viel freundlicher, das einzige geräumige Gemach sogar mehr als einfach eingerichtet. Man sah es den wenigen alterthümlichen Möbeln an, daß sie als überflüssig irgendwo bei Seite gestellt und jetzt hervorgesucht waren, um das Zimmer nothdürftig herzustellen. Nur am Fenster, um das sich einige kümmerliche Weinranken schlangen, stand ein großer, kostbar gearbeiteter Flügel, das Vermächtniß des verstorbenen Musikdirector Wilkens an seinen Schüler, ein Prachtstück, das sich in der nüchternen Umgebung ebenso seltsam und fremdartig ausnahm, wie die Gestalt des jungen Mannes mit der idealen Stirn und den großen flammenden Augen hinter den vergitterten Comptoirfenstern des Vorderhauses.

Reinhold saß am Tische und schrieb, aber sein Gesicht trug heute nicht jenen müden, apathischen Ausdruck, der stets darauf ruhte, sobald er die Zahlen der Handlungsbücher vor sich hatte; seine Wangen waren tief, fast fieberhaft geröthet, und die Hand, die in raschen Zügen einen Namen auf das vor ihm liegende Briefcouvert warf, zitterte leise, wie in verhaltener Erregung. Da ließen sich Schritte draußen hören und die Glasthür wurde geöffnet; mit einer schnellen unmuthigen Bewegung schob der junge Mann das Couvert unter die auf dem Tische liegenden Notenblätter und wandte sich um.

Es war Jonas, der Diener des Capitains, der die ihm angebotene Gastfreundschaft seiner Verwandten nur auf einige Tage angenommen hatte, und dann in eine eigene Wohnung übergesiedelt war. Der Matrose brachte Gruß und Eintritt in der ihm eigenen derben und etwas ungeschickten Art zuwege und legte dann einige Bücher auf den Tisch.

„Eine Empfehlung von dem Herrn Capitain, und er schickt hier das Versprochene aus seiner Reisebibliothek.“

„Kommt mein Bruder nicht selbst?“ fragte Reinhold befremdet. „Er versprach es doch.“

„Der Herr Capitain ist schon längst da,“ rapportirte Jonas, „aber sie haben ihn richtig wieder im Hause abgefangen: der Herr Onkel wünschen eine Conferenz mit ihm in Familiensachen; die Frau Tante verlangen seine Hülfe bei einer Aenderung im Besuchszimmer, und der Buchhalter will ihn für seinen Verein kapern. Alle reißen sie sich um ihn; er kann nicht loskommen.“

„Hugo scheint im Laufe einer einzigen Woche bereits das ganze Haus erobert zu haben,“ bemerkte Reinhold ironisch.

„Das machen wir überall so,“ sagte Jonas voll Selbstgefühl, und schien sehr geneigt, noch Einiges über diese Eroberungen hinzuzufügen als er durch den Eintritt seines Herrn unterbrochen wurde, der in heiterster Laune den Bruder begrüßte.

„Gute Morgen, Reinhold! Nun, Jonas, was stehst Du denn noch hier? Man bedarf Deiner im Hause. Ich habe der Tante versprochen daß Du bei der heutigen Mittagsgesellschaft Aushülfe leisten sollst. Rasch hinauf in die Küche!“

„Unter die Frauenzimmer?“ fragte Jonas, dessen Gesicht sich bei dem Befehle natürlich verlängerte.

„Unter die Frauenzimmer! Weiß der Himmel,“ wandte sich Hugo lachend an seinen Bruder, „wo dieser Mensch den Haß gegen alles Weibliche gelernt hat. Bei mir sicher nicht; ich bewundere das schöne Geschlecht ganz außerordentlich.“

„Ja, leider Gottes, gar zu außerordentliche!“ brummte Jonas, machte aber gehorsam Kehrt und marschirte zur Thür hinaus, während der Capitain dicht an Reinhold hinantrat.

„Es ist heute große Familientafel,“ hob er an, den pedantisch feierliche Ton seines Onkels Almbach täuschend nachahmend. „Mir zu Ehren, natürlich! Ich hoffe, daß Du diesem bedeutsamen Acte die gebührende Hochachtung entgegenbringst, und Dich nicht wieder so benimmst, daß ich Dich höchstens als Folie für meine eigene zu entwickelnde Liebenswürdigkeit benutzen kann.“

Reinhold runzelte ein wenig die Stirn. „Ich bitte Dich, Hugo, werde endlich einmal vernünftig! Wie lange denkst Du denn eigentlich noch diese Komödie fortzuspielen und Dich über das ganze Haus lustig zu machen? Nimm Dich in Acht, wenn sie dahinter kommen, von welcher Beschaffenheit Deine Liebenswürdigkeit eigentlich ist, und daß Du im Grunde nur Deinen Spott mit ihnen Allen treibst.“

„Das wäre allerdings schlimm,“ sagte Hugo ruhig. „Sie kommen aber nicht dahinter; verlaß Dich darauf!“

„So thue mir wenigstens den Gefallen, und laß’ Deine entsetzlichen Indianergeschichten! Du muthest ihnen wirklich zu viel damit zu. Der Onkel debattirte erst gestern mit dem Buchhalter über den Kampf mit der Riesenschlange, den Du ihnen neulich auftischtest, und der denn doch auch ihm etwas unerhört schien. Ich gerieth in die grenzenloseste Verlegenheit beim Zuhören.“

„In Verlegenheit hat Dich das gebracht?“ spottete der Capitain. „Wäre ich dabei gewesen, ich hätte ihnen sofort noch eine Elephantenjagd, eine Tigergeschichte und einige Ueberfälle der Wilden mit so haarsträubenden Effecten zum Besten gegeben, daß ihnen die Sache mit der Riesenschlange darnach höchst wahrscheinlich vorgekommen wäre. Sei unbesorgt! Ich kenne meine Zuhörer; das ganze Haus erdrückt mich ja fast mit Sympathiebeweisen.“

„Ella ausgenommen,“ warf Reinhold ein. „Es ist doch eigenthümlich, daß ihre Scheu vor Dir in keiner Art zu überwinden ist.“

„Jawohl, das ist sehr eigentümlich,“ stimmte Hugo mit beleidigter Miene bei. „Ich kann durchaus nicht zugeben, daß Jemand im Hause existirt, der von meiner Vortrefflichkeit nicht unbedingt überzeugt scheint, und habe mir bereits vorgenommen, mich heute in meiner ganzen unwiderstehlichen Liebenswürdigkeit meiner Frau Schwägerin zu präsentiren. Ich zweifle durchaus nicht, daß sie sich darauf hin gleichfalls der Majorität anschließen wird, Du bist doch hoffentlich nicht eifersüchtig?“

„Eifersüchtig? Ich? Und um Ella’s willen?“ Der junge Mann zuckte halb mitleidig, halb verächtlich die Achseln. „Was fällt Dir ein?“

„Nun, es hat auch keine Gefahr! Ich suchte schon vorhin eine Unterredung mit ihr, aber sie war ausschließlich mit dem Kleinen beschäftigt. – Sage einmal, Reinhold, woher hat das Kind die wunderschönen blauen Märchenaugen? Die Deinen sind es nicht; da ist auch nicht die leiseste Spur einer Aehnlichkeit vorhanden, und sonst wüßte ich doch Niemanden in der Familie –“

„Ich glaube, Ella’s Augen sind blau,“ unterbrach ihn der Bruder gleichgültig.

„Das glaubst Du nur? Ueberzeugt hast Du Dich davon wohl noch nie? Allerdings mag das schwierig sein; sie schlägt sie ja niemals auf, und unter dieser unendlichen Haube ist überhaupt nichts von ihrem Gesichte zu erblicken. Reinhold, um Gotteswillen, wie kannst Du Deiner Frau eine solche vorsündfluthliche Tracht erlauben! Ich versichere Dir, für mich wäre diese Haube ein unbedingter Scheidungsgrund. “

Reinhold hatte sich an den Flügel gesetzt und ließ mechanisch die Hand über die Tasten gleiten, während er mit vollkommener Theilnahmlosigkeit erwiderte: „Ich kümmere mich nie um Ella’s Toilette, und ich glaube, es wäre auch nutzlos, da Aenderungen durchsetzen zu wollen. Was geht es mich auch an?“

„Was es Dich angeht, wie Deine Frau aussieht?“ wiederholte der Capitain, indem er einige der auf dem Tische liegenden Notenblätter ergriff und flüchtig durchsah; „eine allerliebste Frage für einen jungen Ehemann! Du hattest doch sonst einen nur allzu reizbaren Sinn für das Schöne, und ich möchte beinahe fürchten – was ist denn das? ‚Signora Beatrice Biancona in H.‘ Hast Du italienische Correspondenzen hier in der Stadt?“

Reinhold sprang auf. Verlegenheit und Unmuth stritten in seinem Gesichte, als er den Brief, den er vorhin unter die Noten geschoben, in der Hand des Bruders sah, der unbefangen die Adresse wiederholte:

„Beatrice Biancona? Das ist ja die Primadonna der italienischen Oper, die hier ein so unglaubliches Furore machen soll. Kennst Du die Dame?“

„Oberflächlich,“ sagte Reinhold, ihm den Brief rasch aus der Hand nehmend. „Ich wurde ihr kürzlich beim Consul Erlau vorgestellt.“

„Und Du correspondirst bereits mit ihr?“

„Nicht doch! Der Brief enthält nicht eine einzige Zeile.“

Hugo lachte laut auf. „Ein Couvert mit einer vollständigen Adresse darauf und einem sehr umfangreichen Papier darin und keine einzige Zeile? Lieber Reinhold, das ist noch wunderbarer, als meine Geschichte mit der Riesenschlange. Verlangst Du im Ernst Glauben dafür? Nun sieh nur nicht so finster aus! Ich beabsichtige durchaus nicht, mich in Deine Geheimnisse zu drängen.“

Statt aller Antwort zog der junge Mann das Papier aus dem noch nicht geschlossenen Couverte hervor und hielt es dem Bruder hin, der verwundert darauf niederblickte.

„Was soll das heißen? Nur ein Lied – Noten und Text – kein Wort der Erklärung dabei – einzig Dein Name darunter. Hast Du das etwa componirt?“

Reinhold nahm das Papier wieder zurück, schloß den Brief und steckte ihn zu sich.

„Es ist ein Versuch, weiter nichts. Sie ist Künstlerin genug, um darüber zu urtheilen. Mag sie es annehmen oder verwerfen!“

„Du componirst also auch?“ fragte der Capitain, dessen Gesicht auf einmal ernst geworden war. „Ich glaubte nicht, daß Deine leidenschaftliche Neigung für die Musik bis zum eigenen Schaffen ginge. Armer Reinhold, wie hältst Du es nur aus in diesem Leben, unter all dieser Engherzigkeit und Beschränktheit, die jeden Funken von Poesie als überflüssig oder gefährlich ersticken möchte? Ich habe es nicht gekonnt.“

Reinhold hatte sich wieder auf den Sessel vor seinem Flügel geworfen. „Frage mich nicht, wie ich es aushalte!“ entgegnete er gepreßt. „Genug, daß ich es thue!“

„Ich ahnte es längst, daß Deine Briefe nicht aufrichtig waren,“ fuhr Hugo fort, „daß hinter all der Zufriedenheit, mit der Du mich täuschen wolltest, sich etwas ganz Anderes barg. In dieser einen Woche hier im Hause ist mir die Wahrheit klar geworden, trotzdem Du Dir alle nur erdenkliche Mühe gabst, sie mir zu verbergen.“

Der junge Mann blickte düster vor sich hin. „Wozu sollte ich Dich in der Ferne auch noch mit der Sorge um mich quälen? Du hattest genug zu thun, Dich selber durchzubringen, und es gab ja auch eine Zeit, wo ich zufrieden war, oder es wenigstens zu sein glaubte, weil mein ganzes geistiges Leben wie in einem Banne lag, wo ich in dumpfer Gleichgültigkeit Alles über mich ergehen ließ und willig der Kette die Hand bot. Ich habe es gethan, nun ja! Ich habe aber auch mein ganzes Leben lang daran zu tragen.“

Hugo war zu ihm getreten und legte die Hand auf seine Schulter. „Du meinst Deine Heirath mit Ella? Bei der ersten Nachricht davon wußte ich, daß es einzig das Werk des Onkels war.“

Ein bitteres Lächeln spielte um die Lippen des jungen Mannes, als er fast schneidend erwiderte: „Er war von jeher ein ausgezeichneter Rechenmeister, und das hat er auch hier wieder gezeigt. Der arme, aus Gnade und Barmherzigkeit aufgenommene Verwandte mußte es ja als ein Glück betrachten, daß man ihn zum Sohn und Erben des Hauses erhob, und die Tochter mußte doch einmal verheirathet werden; da galt es, mit ihrer Hand der Firma einen Nachfolger zu sichern, der den gleichen Namen trug. Es war nicht Ella’s Schuld und nicht die meine, daß man uns so zusammenband. Wir waren Beide jung, willenlos, ohne Verständniß des Lebens und unser selbst. Sie wird es ewig bleiben – wohl ihr! Mir ist es nicht so gut geworden.“

Man hätte es den kecken braunen Augen des jungen Capitains kaum zugetraut, daß sie so ernst blicken konnten, wie in diesem Momente, wo er sich zu dem Bruder herabbeugte. „Reinhold!“ sagte er halblaut. „In der Nacht, als ich entfloh, um mich einer Willkür zu entreißen, die mir Freiheit und Zukunft verschütten wollte, da hatte ich Alles geplant und vorhergesehen, nur das Eine, Schwerste nicht, die Minute, wo ich an Deinem Bette stand, um Dir Lebewohl zu sagen. Du schliefst ruhig und ahntest nichts von der Trennung, aber ich – als ich Dein kleines blasses Gesicht auf dem Kissen sah und mir sagte, daß ich es nun lange Jahre nicht, daß ich es vielleicht nie wieder sehen würde, da wollten all die Freiheitsgelüste nicht Stand halten, und ich rang schwer mit der Versuchung, Dich zu wecken und mit mir zu nehmen. Später, als ich die dornenvolle Laufbahn des abenteuernden, heimathlosen Knaben mit all ihren Gefahren und Entbehrungen kosten mußte, da habe ich oft Gott gedankt, daß ich der Versuchung widerstand, wußte ich Dich doch sicher und geborgen im Hause der Verwandten, und jetzt“ – die kräftige Stimme Hugo’s bebte wie im unterdrückten Grolle oder Schmerz – „jetzt wollte ich, ich hätte Dich damals mit hinausgerissen in Mangel und Entbehrung, in Sturm und Gefahr, aber auch in die Freiheit hinaus; es wäre besser gewesen.“

„Es wäre besser gewesen,“ wiederholte Reinhold tonlos; dann auf einmal erhob er sich ungestüm. „Laß uns abbrechen! Wozu die Klagen, die das einmal Geschehene doch nicht ändern? Komm’! Man erwartet uns oben im Hause.“

„Ich wollte, ich hätte Dich auf meiner ‚Ellida‘ und wir könnten der ganzen Sippschaft den Rücken kehren auf Nimmerwiedersehen!“ sagte der junge Seemann mit einem Seufzer, während er sich anschickte, der Aufforderung nachzukommen. „So schlimm habe ich mir die Sache doch nicht gedacht.“

Die Brüder hatten kaum das Haus betreten, als die Unentbehrlichkeit Hugo’s sich auch schon wieder zu zeigen begann. Von nicht weniger als drei Seiten ward er zugleich in Anspruch genommen. Jeder verlangte seinen Rath, seine Hülfe. Der junge Capitain schien die beneidenswerthe Fähigkeit zu besitzen, sich sofort von einer Stimmung in die andere werfen zu können, denn unmittelbar nach dem tiefernsten Gespräch mit dem Bruder sprühte er schon wieder von Heiterkeit und Uebermuth, half Jedem, sagte Jedem Artigkeiten und verspottete dabei Alle in der schonungslosesten Weise. Diesmal war es der Buchhalter, der ihn schließlich „abfing“, wie Jonas sich ausdrückte, um seine Vereinsangelegenheit vorzutragen, und während die beiden Herren darüber debattirten, trat Reinhold in das Eßzimmer, wo er seine Frau bereits mit den Vorbereitungen für die erwähnte Gesellschaft beschäftigt fand.

Ella war heute in Sonntagstracht, aber das änderte wenig in ihrer Erscheinung. Der Anzug von feinerem Stoffe war deshalb nicht kleidsamer; die Haube, die ihrem Schwager ein solches Entsetzen einflößte, umgab und entstellte auch heute das Gesicht. Die junge Frau widmete sich ihren Hausfrauenpflichten so emsig und ausschließlich, daß sie kaum den Eintritt ihres Gatten zu bemerken schien, der sich mit ziemlich finsterer Miene ihr näherte.

„Ich möchte Dich doch bitten, Ella,“ begann er, „in Zukunft etwas mehr Rücksicht auf meine Wünsche zu nehmen und meinem Bruder in der Weise zu begegnen, die er von seiner Schwägerin erwarten kann und darf. Ich sollte meinen, das Benehmen Deiner Eltern und des ganzen Hauses könnte Dir als ein Beispiel dienen; aber Du scheinst ein eigenes Vergnügen darin zu finden, ihm jedes Verwandtenrecht zu versagen und ihm eine förmliche Antipathie zu zeigen.“

Die junge Frau sah bei dieser in nichts weniger als liebevollem Tone gegebenen Zurechtweisung genau so furchtsam und hülflos aus, wie damals, als die Mutter von ihr verlangte, sie solle gegen die musikalische „Manie“ ihres Mannes einschreiten. „Sei nicht böse, lieber Reinhold!“ entgegnete sie zaghaft, „aber ich – ich kann wirklich nicht anders.“

„Du kannst nicht?“ fragte Reinhold scharf. „Freilich, das ist ja Deine stete Antwort, wenn ich etwas von Dir verlange, und ich dächte, es käme doch selten genug vor, daß ich einmal eine Bitte an Dich richte. Diesmal aber bestehe ich ganz entschieden darauf, daß Du Dein Benehmen gegen Hugo änderst. Dieses scheue Ausweichen und consequente Schweigen auf jede seiner Anreden ist ja geradezu lächerlich. Ich bitte Dich jetzt ernstlich, etwas mehr dafür zu sorgen, daß ich meinem Bruder nicht gar zu bemitleidenswerth erscheine.“

Ella schien im Begriff zu sein, zu antworten; aber die letzte schonungslose Bemerkung schloß ihr die Lippen. Sie senkte den Kopf und machte auch nicht den leisesten Versuch mehr, sich zu vertheidigen. Es war eine Bewegung so sanfter, geduldiger Fügsamkeit, daß sie wohl Jeden entwaffnet hätte; Reinhold aber achtete gar nicht darauf, denn in diesem Augenblicke hörte man drinnen im Nebenzimmer den alten Buchhalter sich verabschieden.

„Wir dürfen also auf die Ehre Ihrer Mitgliedschaft rechnen, Herr Capitain? Und hinsichtlich unserer Präsidentenwahl habe ich Ihr Wort, daß Sie zu der Opposition stehen?“

„Ganz der Ihrige, verehrter Herr!“ tönte Hugo’s Stimme. „Und selbstverständlich nur bei der Opposition. Ich schlage mich grundsätzlich immer zur Opposition, wo eine existirt; es ist gewöhnlich die einzige Partei, bei der es amüsant zuzugehen pflegt. Bitte, die Ehre ist ganz auf meiner Seite.“

Der Buchhalter ging, und der Herr Capitain erschien jetzt im Zimmer. Er schien Lust bekommen zu haben, das vorhin gegebene Versprechen einzulösen und die junge Frau seines Bruders gleichfalls von seiner Vortrefflichkeit zu überzeugen, denn er näherte sich ihr mit der ganzen Keckheit und dem ganzen Uebermuthe seines Wesens, dem eine gewisse ritterliche Galanterie beigemischt war.

„Also dem Zufalle muß ich es danken, daß ich endlich einmal meine liebenswürdige Schwägerin zu Gesicht bekomme und sie mir nothgedrungen auf einige Minuten Stand halten muß? Sie selbst freilich hätte mir dieses Glück nie zu Theil werden lassen. Ich habe mich bereits heute Morgen bitter bei Reinhold über diese Zurücksetzung beklagt, die verdient zu haben ich mir in keiner Weise bewußt bin.“

Er wollte ihre Hand ergreifen, jedenfalls um sie zu küssen; aber Ella zog mit einer bei ihr ganz ungewöhnlichen Entschiedenheit die Hand zurück.

„Herr Capitain!“

„Herr Capitain!“ wiederholte Hugo entrüstet. „Nein, Ella, das geht zu weit. Ich hätte als Schwager wohl mehr als je ein Recht, das vertrauliche ,Du‘ zu beanspruchen, das Sie dem Vetter und Jugendgespielen nie verweigert haben; aber da Sie vom ersten Tage meines Hierseins an die fremde Anrede so entschieden betonten, so folgte ich dem mir gegebenen Winke. Dieses ,Herr Capitain‘ aber dulde ich nicht; das ist eine Beleidigung, gegen die ich Reinhold zu Hülfe rufe. Er soll mir sagen, ob ich es wirklich ertragen muß, mich von diesen Lippen ,Herr Capitain‘ genannt zu hören.“

„Nicht doch!“ sagte Reinhold, indem er sich zum Gehen wandte. „Ella wird diese Anrede wie überhaupt den fremden Ton gegen Dich fallen lassen. Ich habe sie soeben ausdrücklich darum gebeten.“

Er ging wirklich, und sein Blick befahl der jungen Frau ebenso bestimmt, zu bleiben, als sein Ton Gehorsam forderte. Dem Capitain entging Beides nicht.

„Um Gotteswillen, komm’ mir nicht mit Deiner Ehemannsautorität dazwischen! Willst Du die Freundlichkeit gegen mich etwa anbefehlen?“ rief er dem Bruder nach und wandte sich dann rasch wieder zu Ella, während er galant fortfuhr: „Das wäre der sicherste Weg, mich nun und nimmermehr Gnade finden zu lassen vor den Augen meiner schönen Schwägerin. Aber nicht wahr, dessen bedarf es auch nicht zwischen uns? Sie erlauben mir endlich, Ihnen den schuldigen Tribut der Ehrfurcht zu Füßen zu legen, Ihnen die freudige Ueberraschung zu schildern, mit der ich die Nachricht empfing –“

Hier hielt Hugo plötzlich inne und schien aus dem Concepte zu kommen. Ella hatte das Auge emporgeschlagen und ihn angesehen. Es war ein Blick stillen schmerzlichen Vorwurfes, und derselbe Vorwurf lag auch in ihrer Stimme, als sie erwiderte:

„Lassen Sie doch wenigstens mich in Frieden, Herr Capitain! Ich dächte, Sie hätten heute bereits hinreichenden Zeitvertreib gehabt.“

„Ich?“ fragte Hugo betroffen. „Wie meinen Sie das, Ella? Sie glauben doch nicht etwa –“

Die junge Frau ließ ihn nicht ausreden. „Was haben wir Ihnen denn gethan?“ fuhr sie fort, und so furchtsam die Stimme auch im Anfange noch bebte, sie gewann sichtbar an Festigkeit bei jedem Worte. „Was haben wir Ihnen denn gethan, daß Sie uns immer nur verspotten von dem Tage Ihrer Rückkehr an, wo Sie meinen Eltern eine Reuescene vorspielten, über die Sie wahrscheinlich nachher sehr gelacht haben, bis zur heutigen Stunde, wo Sie das ganze Haus zur Zielscheibe Ihres Uebermuthes machen? Reinhold duldet es freilich, daß wir Tag für Tag so herabgesetzt werden; er muß es wohl in der Ordnung finden. Aber ich, Herr Capitain,“ – hier hatte Ella’s Ton die vollste Sicherheit gewonnen – „ich finde es nicht in der Ordnung, daß Sie ein Haus, in welchem Sie, trotz alledem, was geschehen ist, mit der alten Liebe wieder aufgenommen worden sind, tagtäglich mit Spott und Hohn überschütten. Wenn Ihnen dies Haus und diese Familie so sehr kleinlich und lächerlich erscheinen, so hat Sie ja Niemand hergerufen. Sie hätten draußen bleiben sollen in der Welt, von der Sie soviel zu erzählen wissen. Meine Eltern verdienen mehr Schonung und Achtung, selbst für ihre Schwächen, und unser Haus mag sehr einfach sein, aber es ist doch immer noch zu gut für den Spott eines – Abenteurers.“

Sie wandte ihm den Rücken und verließ das Zimmer, ohne ein Wort der Erwiderung abzuwarten. Hugo stand da und sah ihr nach, als habe sich soeben eine der unmöglichen Scenen aus seinen „Indianergeschichten“ leibhaftig vor seinen Augen ereignet. Es geschah dem jungen Seemanne wahrscheinlich zum ersten Male in seinem Leben, daß er mit der Geistesgegenwart auch die Sprache verlor.

„Das war deutlich,“ sagte er endlich, indem er sich ganz fassungslos niedersetzte, aber schon in der nächsten Minute sprang er wie elektrisirt empor und rief:

„Sie hat sie wahrhaftig – die schönen blauen Augen des Kindes. Und das muß ich erst heute und jetzt entdecken! Freilich wer hätte auch unter diesem Ungethüm von Haube diesen Blick gesucht. ‚Wir sind zu gut für den Spott eines Abenteurers!‘ Schmeichelhaft ist das gerade nicht, aber verdient war es, wenn ich es auch freilich aus diesem Munde am allerletzten zu hören erwartete. Also böse muß man Frau Ella machen, wenn man sie so sehen will? Das werde ich doch öfters probiren.“

Hugo machte eine Wendung, in das Besuchszimmer hinüberzugehen, aber auf der Schwelle blieb er noch einmal stehen und blickte nach der Thür hinüber, durch die seine junge Schwägerin sich entfernt hatte. Der Zug von Spott und Uebermuth in seinem Gesichte war völlig verschwunden; es hatte einen nachdenklichen Ausdruck angenommen, als er leise sagte: „Und da glaubt Reinhold nur, daß sie blaue Augen hat? Unbegreiflich!“

Herz-Sammelband: Elisabeth Bürstenbinder Liebesromane

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