Читать книгу Herz-Sammelband: Elisabeth Bürstenbinder Liebesromane - Elisabeth Bürstenbinder - Страница 36

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Inhaltsverzeichnis

Es war in den ersten Vormittagsstunden des nächsten Tages, als die Postchaise, die soeben den Weg von M. nach den Berkow’schen Besitzungen zurückgelegt hatte, am Eingange des Thales Halt machte, in dem die Werke lagen, deren erste Häuser man bereits in unmittelbarer Entfernung vor sich sah.

„Thun Sie das nicht, gnädige Frau!“ sagte der Kutscher, in das Innere des Wagens hineinsprechend. „Kehren Sie lieber um mit mir, wie ich Sie schon auf der letzten Station bat. Schon dort habe ich’s gehört, und der Bauer, der uns soeben begegnete, sagt es auch. Es giebt heute Mord und Todtschlag da drüben auf den Werken; von den Arbeiterdörfern sind sie heute schon in aller Frühe hinübergezogen, und nun geht es drunter und drüber. Ich kann Sie beim besten Willen nicht nach Hause fahren; ich riskire Pferde und Wagen dabei. Wenn die drüben einmal im Revoltiren sind, dann schonen sie nicht Freund, nicht Feind. Sie werden doch nicht just heute hinüber müssen; warten Sie doch bis morgen!“

Die junge Dame, welche ganz allein im Wagen saß, öffnete statt aller Antwort den Schlag und stieg aus.

„Ich kann nicht warten,“ sagte sie ernst; „aber ich will Sie und Ihr Fuhrwerk auch nicht in Gefahr bringen. Die Viertelstunde werde ich wohl zu Fuß zurücklegen können. Kehren Sie um!“

Der Kutscher erschöpfte sich noch einmal in Warnungen und Vorstellungen; er fand es gar zu seltsam, daß die fremde, vornehm aussehende Dame, die ihn mit einem überreichlichen Trinkgelde zu möglichst schneller Fahrt bewogen hatte, sich so ganz allein in den Tumult wagen wollte; aber er erreichte nichts damit, als einen etwas ungeduldigen Abschiedswink, und mußte sich endlich achselzuckend zur Umkehr entschließen.

Eugenie hatte einen Fußpfad betreten, der, ohne die Werke selbst zu berühren, über die Wiesen nach dem Ausgange des Parkes führte und der voraussichtlich noch sicher war. Im schlimmsten Falle fand sie in den nach jener Richtung hin gelegenen Beamtenwohnungen Schutz und Begleitung. Wie nothwendig hier Beides war, hatte sie freilich nicht gewußt, als sie, nur der Eingebung des Augenblickes folgend, ganz allein die Reise und die Fahrt hierher unternahm, und auch jetzt kannte sie noch nicht den ganzen Umfang der Gefahr, der sie sich mit diesem Gange aussetzte. Die Möglichkeit einer Gefahr war es nicht, die ihren Wangen diese erhöhte Farbe, ihren Augen dieses unruhige Leuchten gab und ihre Brust so heftig pochen machte, daß sie bisweilen stehen bleiben mußte, um Athem zu schöpfen; es war die Furcht vor der Entscheidung. Der schwere Traum, der sich auf sie niedergesenkt, als sie das Haus ihres Gatten verließ, er hatte nicht weichen wollen während der ganzen Zeit der Trennung. Nicht die Heimath und die Liebe der Ihrigen, nicht all’ die Stimmen eines neuen Lebens und Glückes hatten sie daraus erwecken können; der Traum war geblieben mit seinem dumpfen Schmerz und seinem dunklen Sehnen. Jetzt endlich sollte das Erwachen kommen, und alle Empfindungen, alle Gedanken der jungen Frau drängten sich zusammen in der einen Frage: „Wie wird er Dich empfangen?“

Sie hatte soeben ein kleines einzelnstehendes Haus erreicht, das gleichsam den äußersten Vorposten der Werke bildete, als ihr von dort her eilig ein Mann entgegenkam, der bei ihrem Anblick mit dem Ausdrucke sichtbaren Schreckens zurückfuhr.

„Gnädige Frau! Um Gotteswillen, wie kommen Sie hierher, und das gerade heute?“

„Ah, Schichtmeister Hartmann, Sie sind es!“ sagte Eugenie ihm entgegentretend. „Gott sei Dank, daß ich gerade Ihnen begegne! Es sind Unruhen auf den Werken ausgebrochen, wie ich höre. Ich habe meinen Wagen dort drüben gelassen; der Kutscher wagte nicht weiter zu fahren. Ich will jetzt zu Fuß hinüber nach dem Hause.“

Der Schichtmeister machte eine heftig abwehrende Bewegung.

„Das können Sie nicht, gnädige Frau; das geht jetzt nicht. Vielleicht morgen, vielleicht gegen Abend, nur jetzt nicht.“

„Weshalb nicht?“ fuhr Eugenie erbleichend auf. „Ist unser Haus bedroht? Mein Gatte –“

„Nein, nein, Herrn Berkow gilt es heute nicht; der ist im Hause mit den Beamten. Diesmal ist’s unter uns selber losgebrochen. Ein Theil der Knappschaft hat heute Morgen die Arbeit wieder aufnehmen wollen; mein Sohn –“ hier zuckte es schmerzlich über das Gesicht des alten Mannes, „nun, Sie werden ja am Ende auch wissen, wie er zu der Geschichte steht – Ulrich wüthet darüber. Er und sein Anhang haben die Leute mit Gewalt zurückgetrieben und halten nun die Schachte besetzt. Die Anderen wollen sich das nicht gefallen lassen und rotten sich nun auch zusammen; die ganzen Werke sind in Revolte, ein Camerad ist gegen den andern! O du barmherziger Gott, was wird das noch geben!“

Der Schichtmeister rang die Hände. Die junge Frau vernahm jetzt von drüben her wüstes Lärmen und Toben, das trotz der Entfernung deutlich zu ihr herüberdrang.

„Ich beabsichtige auch die Werke zu vermeiden,“ entgegnete Eugenie. „Ich wollte über die Wiesen nach dem Parke zu gelangen suchen und von dort –“

„Um Himmelswillen, nur da nicht!“ fiel der Alte ein. „Da ist der Ulrich mit seiner ganzen Partei; sie halten Rath auf der Wiese. Ich wollte eben hinüber und ihn noch einmal bitten, doch endlich Vernunft anzunehmen und wenigstens die Schachte freizugeben; es geht ja jetzt gegen unser eigenes Fleisch und Blut; aber er hört und sieht nichts mehr in seiner Wildheit. Nur den Weg nicht, gnädige Frau! Der ist der schlimmste.“

„Nach dem Hause muß ich,“ erklärte Eugenie entschlossen, „koste es, was es wolle! Gehen Sie mit mir, Hartmann, nur bis zu den Beamtenwohnungen! Im schlimmsten Falle bleibe ich dort, bis der Weg wieder frei ist, und an Ihrer Seite werde ich doch wohl vor thätlichen Angriffen sicher sein.“

Der alte Mann schüttelte mit bekümmerter Miene den Kopf. „Ich kann Ihnen da nicht helfen, gnädige Frau. Heute, wo Einer gegen den Andern steht, bin ich kaum selbst meines Lebens sicher in all’ dem Toben, und wenn Sie nun gar erkannt werden, dann nützt es wenig, wenn ich an Ihrer Seite. bin. Jetzt giebt es nur Einen, der sich allenfalls noch Respect verschaffen kann, dem sie zur Noth noch gehorchen, meinen Ulrich, und der haßt Herrn Berkow bis auf’s Blut und haßt Sie, weil Sie seine Frau sind. – Gerechter Gott, da kommt er!“ unterbrach er sich auf einmal. „Es hat wieder etwas Arges gegeben; ich sehe es an seinem Gesichte. Gehen Sie ihm aus den Augen, nur jetzt, ich bitte Sie!“

Er drängte die junge Frau in die halb offene Flur des Häuschens, und in der That ließen sich auch schon in unmittelbarer Nähe Schritte und laute heftige Stimmen vernehmen. Von Lorenz und einigen anderen Bergleuten begleitet, kam Ulrich heran, ohne den Vater zu bemerken. Sein Gesicht war flammend geröthet; auf seiner Stirn lag wieder die Wetterwolke, die jeden Augenblick loszubrechen drohte, und seine Stimme klang in wildester Erregung.

„Und wenn es unsere Cameraden und wenn es unsere Brüder sind – nieder mit ihnen, sobald sie zu Verräthern an uns werden! Wir haben uns das Wort gegeben, zusammenzustehen Einer für den Andern, und jetzt kriechen sie feig zum Kreuze und geben uns und die ganze Sache preis! Das soll ihnen vergolten werden. Habt Ihr die Schachte besetzt?“

„Ja, aber –“

„Kein Aber!“ herrschte der junge Führer dem Bergmanne zu, der sich den Einwand erlaubt hatte. „Das fehlte noch, Verrath in unseren eigenen Reihen, jetzt, wo wir nahe dem Siege stehen! Sie werden mit Gewalt zurückgetrieben, sage ich Euch, sobald sie es noch einmal versuchen, anzufahren. Sie sollen begreifen, wo jetzt ihr Platz und ihre Pflicht ist, und müßten sie es auch mit blutigen Köpfen lernen!“

„Es sind aber ihrer Zweihundert,“ sagte Lorenz ernst. „Morgen werden es Vierhundert sein, und wenn sich der Herr erst einmischt und zu ihnen redet – Du weißt doch, wie das wirkt. Wir haben es oft genug erfahren in der letzten Zeit.“

„Und wären es Vierhundert,“ brauste Ulrich auf, „und wäre es die Hälfte der ganzen Knappschaft, wir zwingen sie mit der andern Hälfte. Ich will doch sehen, ob ich mir nicht mehr Gehorsam schaffen kann; aber jetzt vorwärts! Karl, Du mußt nach den Werken hinüber; bringe mir Nachricht, ob Berkow sich nicht etwa einmischt, ob er mit seiner verdammten Art zu reden uns nicht wieder Hunderte abtrünnig macht. Ihr Anderen zurück nach den Schachten! Seht zu, ob sie hinreichend abgesperrt sind, und laßt Keinen heran, der nicht zu uns gehört; ich komme gleich selbst nach – fort!“

Der Befehl wurde augenblicklich ausgeführt. Die Bergleute eilten in den angewiesenen Richtungen davon, und Ulrich, der jetzt erst seines Vaters ansichtig ward, ging hastig auf denselben zu.

„Du hier, Vater? Du solltest doch lieber –“ er hielt plötzlich inne. Der Fuß wurzelte am Boden; das eben noch so heiß geröthete Gesicht wurde weiß, als sei jeder Blutstropfen daraus gewichen, und die Augen öffneten sich so weit und starr, als sehe er ein Gespenst vor sich. Eugenie war aus der Hausflur hervorgetreten und stand ihm gerade gegenüber.

In dem Kopfe der jungen Frau war ein Gedanke aufgeblitzt, der auch in demselben Moment schon ausgeführt wurde. Sie dachte nicht an die Kühnheit, ja an die Gefahr ihres Wagnisses; sie wollte zu ihrem Gatten um jeden Preis, und da galt es, das Grauen zu überwinden, das sie vor jenem Manne dort empfand, seit sie wußte, worauf sich ihre Macht über ihn gründete; da galt es einzig diese Macht zu gebrauchen, deren Wirkung sie so oft schon erprobt hatte.

„Ich bin es, Hartmann,“ sagte sie, ein unwillkürliches Beben bemeisternd und anscheinend mit vollkommener Ruhe. „Ihr Vater warnte mich soeben den Weg allein fortzusetzen, und doch muß ich vorwärts.“

Erst bei dem Klange ihrer Stimme schien Ulrich zu begreifen, daß es wirklich Eugenie Berkow war, die da vor ihm stand, und nicht blos ein Gebilde seiner erhitzten Phantasie. Er that stürmisch einige Schritte gegen sie; aber Eugeniens Ton und Blick übten doch noch die alte Gewalt über ihn aus; es legte sich wie ein Schimmer von Ruhe und Milde über seine Züge.

„Was wollen Sie hier, gnädige Frau?“ fragte er unruhig; aber der eben noch so herrisch rauhe Ton war verändert. Er hatte fast einen Anflug von Weichheit. „Es geht heute schlimm zu bei uns; das ist nichts für Frauen, am wenigsten für Sie. Sie dürfen hier nicht bleiben.“

„Ich will zu meinem Manne!“ sagte Eugenie rasch.

„Zu – Ihrem Manne?“ wiederholte Ulrich. „So?“

Es war das erste Mal, daß die junge Frau diese Bezeichnung gebrauchte; sie hatte sonst immer nur von Herrn Berkow oder ihrem Gemahl gesprochen, und Ulrich schien zu ahnen, was in diesem einen Worte lag. In der ersten Ueberraschung hatte er wohl nicht daran gedacht, wie sie so plötzlich hierher kam und weshalb es möglicher Weise geschehe; jetzt warf er einen schnellen Blick auf ihre Reisekleidung und einen zweiten umher, wie um den Wagen oder die Begleitung zu suchen.

„Ich bin allein,“ erklärte Eugenie, die diesen Blick auffing, „und eben das verbietet mir die Fortsetzung des Weges. Ich fürchte nicht die Gefahren, wohl aber die Beleidigungen, denen ich ausgesetzt sein könnte. Sie haben mir einst Ihren Schutz und Ihre Begleitung angeboten, Hartmann, wo ich dessen nicht bedurfte; jetzt nehme ich Beides in Anspruch. Führen Sie mich sicher nach dem Hause gegenüber! Sie können es.“

Der Schichtmeister hatte bisher angstvoll bei Seite gestanden; er erwartete jeden Augenblick ein Attentat seines Sohnes gegen die Gemahlin des so sehr gehaßten jungen Chefs und war bereit, sich im Nothfalle dazwischen zu werfen. Er konnte die Ruhe und Sicherheit der jungen Frau einem Manne gegenüber nicht begreifen, den sie doch so gut wie alle Welt als den eigentlichen Anstifter des ganzen Aufruhrs kannte; als sie nun aber gar dies Verlangen an ihn stellte, sich seinem Schutze anvertrauen wollte, da verließ den alten Mann die Fassungskraft; er schaute förmlich entsetzt auf sie hin.

Aber auch Ulrich war furchtbar gereizt durch diese Zumuthung. Der flüchtige Schimmer von Milde und Nachgiebigkeit war bereits wieder verschwunden und der alte herrische Trotz zurückgekommen.

Ich soll Sie hinüberführen?“ fragte er mit dumpfer Stimme. „Und von mir verlangen Sie das, gnädige Frau, von mir?“

„Von Ihnen!“ Eugenie ließ das Auge nicht von seinem Gesichte. Sie wußte, daß darin ihre ganze Macht lag, aber hier schien sie denn doch an der Grenze derselben zu stehen. Ulrich fuhr auf wie ein Rasender.

„Nun und nimmermehr! Eher lasse ich das Haus stürmen, lasse Alles in Grund und Boden reißen, ehe ich Sie hinüberbringe. Er da drüben soll wohl Muth bekommen zum äußersten Widerstande, wenn er Sie erst an der Seite hat? Er soll wohl triumphiren, wenn er sieht, daß Sie ganz allein aus der Residenz herreisen und mitten durch die Revolte zu ihm wollen, nur um ihn nicht allein zu lassen? Aber dazu suchen Sie sich doch einen anderen Führer, und fände sich der andere,“ hier streifte ein drohender Seitenblick den Vater, „er käme nicht weit mit Ihnen; dafür sorge ich.“

„Ulrich, um Gotteswillen bezähme Dich, es ist eine Frau!“ rief der Schichtmeister, in Todesangst dazwischen tretend. Er sah in dieser Scene natürlich nur den Ausbruch einer schonungslosen Feindseligkeit, die sein Sohn schon lange gegen die ganze Berkow’sche Familie genährt, und deshalb stellte er sich wie zum Schutze gegen die junge Frau, die ihn leise, aber entschieden zurückdrängte.“

„Sie wollen mich also nicht begleiten, Hartmann?“

„Nein und zehnmal nein!“

„Nun denn, so gehe ich allein!“

Sie wandte sich nach der Richtung des Parkes hin; aber mit zwei Schritten hatte Ulrich sie erreicht und stellte sich ihr in den Weg.

„Zurück, gnädige Frau! Sie kommen nicht durch, sage ich Ihnen, am wenigsten da, wo meine Cameraden sind. Ob Frau oder nicht, das gilt ihnen jetzt gleich. Sie heißen Berkow und das genügt ihnen. Sobald Sie erkannt werden, stürzt sich Alles gegen Sie. Hinüber können Sie jetzt nicht und hinüber sollen Sie auch nicht. Sie bleiben hier!“

Es war ein drohender Befehl, den er ihr mit den letzten Worten zuschleuderte, aber Eugenie war nicht gewohnt, sich befehlen zu lassen, und die fast wahnsinnige Heftigkeit, mit der er sich bemühte, sie von Arthur fern zu halten, rief eine namenlose Angst in ihr wach, es könne schlimmer um ihn stehen, als man sie errathen ließ.

„Ich will zu meinem Manne!“ wiederholte sie mit voller Energie. „Ich will doch sehen, ob man mir mit Gewalt den Weg zu ihm versperrt. Lassen Sie Ihre Cameraden sich an einer Frau vergreifen! Geben Sie selbst das Zeichen zum Angriff, wenn Sie die Heldenthat auf sich nehmen wollen! Ich gehe!“

Und sie ging wirklich; sie eilte an ihm vorüber und betrat den Wiesenpfad. Hartmann stand da und sah ihr mit glühenden Augen nach, ohne auf die Bitten und Vorstellungen seines Vaters zu hören; er wußte besser als dieser, was die junge Frau mit diesem Wagniß beabsichtigte, wozu sie ihn damit zwingen wollte, aber er wollte diesmal dem Zwange nicht weichen. Und wenn sie zu Grunde ging an der Schwelle ihres Hauses, im Angesichte ihres Gatten, ehe er sie selbst in die Arme des Gehaßten führte, ehe – da erschien drüben eine Schaar von Bergleuten, die lärmend und tobend ihrem Führer nachzogen. Die Vordersten waren nur noch einige Hundert Schritte weit entfernt; schon fiel die einzelne Frauengestalt ihnen auf; in der nächsten Minute mußte sie erkannt werden, und er selbst hatte die Leute noch vor einer halben Stunde bis zur blinden Wuth aufgestachelt gegen Alles, was den Namen Berkow trug. Eugenie ging vorwärts, gerade der Gefahr entgegen, ohne auch nur das Gesicht zu verbergen – wie außer sich stampfte Ulrich mit dem Fuße; dann auf einmal riß er sich los vom Vater und war im nächsten Augenblick an ihrer Seite.

„Lassen Sie den Schleier herunter!“ gebot er, und dabei legte sich seine Hand mit eisernem Druck um die ihrige.

Eugenie gehorchte tiefaufathmend; jetzt war sie sicher. Sie wußte, daß er die Hand nicht wieder loslassen werde, und wenn die ganze Knappschaft der Werke jetzt gegen sie anstürmte. Mit vollem Bewußtsein war sie der Gefahr entgegen gegangen, aber auch in der vollen Ueberzeugung, daß nur diese augenscheinliche Gefahr, in die sie sich begab, ihr den versagten Schutz erzwingen konnte. Sie hatte gesiegt, aber es war auch die höchste Zeit gewesen.

Sie erreichten jetzt die Schaar, die sofort Miene machte, ihren Führer zu umringen und in die Mitte zu nehmen; aber ein kurzer, doch mit vollem Nachdruck gegebener Befehl desselben hieß sie Platz machen und wies sie gleichfalls nach den Schachten hinüber. Wie vorhin ihre Cameraden, gehorchten auch sie sofort, und Ulrich, der nicht einen Augenblick Halt gemacht hatte, zog seine Begleiterin mit sich fort, die jetzt erst sah, wie unmöglich es gewesen wäre, hier allein durchzukommen, oder auch nur mit einem anderen Schutze als dem, den sie an der Seite hatte.

Die ganzen sonst so stillen Wiesenflächen waren heute der Schauplatz eines wogenden Tumultes, obgleich der eigentliche Streit darüber bei den Schachten stattgefunden hatte. Die Bergleute zogen in hellen Haufen umher oder standen dicht geschaart bei einander – überall wildbewegte Gruppen, überall zornige Gesichter, drohende Geberden, überall Geschrei, Toben und Lärmen. Die wilde Aufregung schien nur nach einem Gegenstande zu suchen, um sich sofort in rohen Gewaltthätigkeiten Luft zu machen. Der Fußweg führte zum Glücke am Rande der Wiese entlang, wo der Tumult verhältnißmäßig schwächer war, aber auch hier war Ulrich, sobald er sich nur zeigte, sofort Gegenstand und Mittelpunkt der Aufmerksamkeit Aller. Doch in die lärmenden Rufe, mit denen man ihn überall begrüßte, mischte sich diesmal ein eigenthümliches Befremden. Ein Heer von erstaunten, mißtrauischen, argwöhnischen Blicken richtete sich auf die Frauengestalt an seiner Seite. In dem dunklen Reisemantel und hinter dem dichten Schleier erkannte freilich Niemand die Gemahlin des Chefs, und hätte Einer auch den Gang oder die Haltung erkannt, die Vermuthung wäre mit Hohnlachen zurückgewiesen worden. Es war ja Ulrich Hartmann, der sie schützend führte, und der schützte sicher nichts, was zum Berkow’schen Hause gehörte; aber es war doch immer eine Dame, die da neben ihm ging, neben dem schroffen, wilden Sohne des Schichtmeisters, der sich sonst nie um Frauen kümmerte, nicht einmal um Martha Ewers, um die sich doch jeder Ledige auf den Werken zu kümmern pflegte. Ulrich, der die Frauen seiner eigenen Cameraden bei solchen Gelegenheiten, wie die heutige, als eine überflüssige Last betrachtete und behandelte, die man so viel als möglich abschütteln müsse, er geleitete diese Fremde mit einem Ausdruck im Gesichte, als werde er Jeden niederschlagen, der ihr auch nur einen Schritt zu nahe komme. Wer war das? und was sollte das heißen?

Der kurze, kaum zehn Minuten dauernde Gang war ein Wagniß selbst für den jungen Führer, aber er zeigte, daß er hier wenigstens noch unumschränkter Herr war und seine Herrschaft zu gebrauchen wußte. Bald sprengte er hier mit einigen gebieterischen Worten eine Gruppe, die ihm im Wege stand, bald warf er dort Befehle oder Anordnungen in einen hervordrängenden Haufen, der diesem sofort eine andere Richtung gab; dann wieder herrschte er Einzelnen, die ihm mit Fragen oder Berichten nahen wollten, ein „Später“ oder „Ich komme wieder“ zu und dabei zog er die junge Frau unaufhaltsam und so schnell mit sich fort, daß bei diesem Vorübereilen jede Entdeckung und jeder Aufenthalt ausgeschlossen wurde. Endlich hatten sie den Park erreicht, der hier an seinem Ausgange nur durch eine hölzerne Gitterthür geschlossen war. Ulrich stieß sie auf und trat mit ihr in den Schutz dieser Bäume.

„Jetzt ist’s genug!“ sagte er, ihre Hand loslassend. „Der Park ist noch sicher, und in fünf Minuten sind Sie am Hause.

Eugenie bebte noch leise von der überstandenen Gefahr und ihre Hand schmerzte noch von dem eisernen Drucke der seinigen; langsam schlug sie den Schleier zurück.

„Machen Sie nur schnell, gnädige Frau!“ fuhr der junge Bergmann mit bitterem Hohne fort. „Ich habe ja redlich dazu mit geholfen, daß Sie Ihren Mann wiedersehen. Sie werden ihn doch nicht warten lassen?“

Eugenie sah auf zu ihm. Sein Gesicht verrieth, welche Folter sie ihm auferlegt hatte, als sie ihm nur die Wahl ließ, entweder einen Angriff auf sie zu dulden, oder sie selbst ihrem Gatten zuzuführen. Die junge Frau hatte nicht den Muth, zu danken; sie streckte ihm nur wortlos die Hand hin.

Aber Ulrich stieß die Hand fast zurück. „Sie haben mir viel zugemuthet, gnädige Frau, so viel, daß es um ein Haar mißglückt wäre. Jetzt haben Sie Ihren Willen, aber versuchen Sie es nicht, mich noch einmal so zu zwingen wie heute, am wenigsten wenn Er dabei ist – dann – dann – bei Gott, dann gebe ich Euch Beide preis!“ –

Auf der vorderen Terrasse standen die beiden Diener Franz und Anton, mit ängstlichen und doch zugleich neugierigen Gesichtern nach den Werken hinüber schauend, aber sie fuhren nicht weniger erschreckt zurück, wie vorhin der Schichtmeister, als ihre gnädige Frau, die doch in der Residenz sein mußte, urplötzlich vor ihnen stand, ohne daß sie auch nur einen Wagen gehört hatten, oder das Kammermädchen oder sonst Jemand in ihrer Begleitung sahen. Durch die Werke konnte die junge Herrin doch unmöglich gekommen sein, noch weniger durch den Park, denn dort hinten auf den Wiesen ging es ja fast noch ärger zu, und doch war sie jetzt hier. Die beiden Leute waren so bestürzt, daß sie kaum auf die ihnen hastig vorgelegte Frage antworten konnten, indeß erfuhr Eugenie doch, daß Herr Berkow sich augenblicklich noch im Hause befand, und nun eilte sie rasch die Treppe hinauf. Franz, der ihr gefolgt war, fand noch mehr Gelegenheit, sich über die gnädige Frau zu wundern, denn diese duldete es kaum, daß er ihr oben im Vorzimmer Hut und Mantel abnahm, befahl ihm zu bleiben, als er mit der Meldung ihrer Ankunft nach dem Flügel hinüber eilen wollte, den der Herr bewohnte, und erklärte, sie werde selbst sofort ihren Gemahl aufsuchen. Der Diener stand da, den Mantel noch in den Händen, und sah ihr mit offenem Munde nach. Das ging ja Alles wie im Sturmwinde, was konnte es denn nur in der Residenz gegeben haben?

Eugenie hatte rasch den Saal und die beiden vorderen Gemächer durchschritten, als sie plötzlich inne hielt; denn aus dem nebenan liegenden Arbeitszimmer Arthur’s tönten ihr Stimmen entgegen. Die junge Frau hatte so sicher darauf gerechnet, ihren Gatten allein zu finden; unerwartet und unangemeldet hatte sie zu ihm eintreten wollen, und nun traf sie ihn in Gesellschaft eines Anderen. Nur nicht dieses Wiedersehen in Gegenwart Fremder! Eugenie zögerte unentschlossen, ob sie umkehren oder bleiben solle. Endlich trat sie lautlos zurück hinter die Portière, deren Falten sie zum größten Theil verbargen.

„Es ist unmöglich, Herr Berkow!“ sagte die klare scharfe Stimme des Oberingenieurs. „Wenn Sie noch länger die Schonung walten lassen, so wendet es sich gegen Die, die da anfangen, zur Ordnung zurückzukehren. Sie haben diesmal noch das Feld geräumt, weil sie die Schwächeren waren, aber die Scenen werden sich schlimmer, blutiger wiederholen als heute Morgen, wo es mit einem bloßen Handgemenge abging. Hartmann hat gezeigt, daß er die eigenen Cameraden nicht schont, wenn sie sich gegen seinen Terrorismus auflehnen. Er läßt Feind und Freund bluten, sobald es sich um sein starres Princip handelt.

Die offene Thür ließ Eugenie den Einblick in das Zimmer frei. Arthur stand ihr gerade gegenüber am offenen Fenster, und das volle Licht fiel auf sein Antlitz, das um so Vieles düsterer geworden war, seit sie es nicht gesehen. Der Schatten der Sorge, der freilich damals schon auf der Stirn lag, die noch so wenig gewohnt war, ihn zu tragen, hatte sich jetzt in zwei tiefen Falten dort eingegraben, die vielleicht nichts mehr verwischen konnte. Jede einzelne Linie des Gesichts war schärfer, strenger geworden; der Zug von Energie, der damals erst aufdämmerte und nur in Momenten der Erregung zur vollsten Geltung kam, herrschte jetzt auch in der Ruhe unbedingt vor und hatte den ehemaligen träumenden Ausdruck völlig zurückgedrängt; auch die Haltung und Stimme verrieth eine gleiche Festigkeit und Bestimmtheit – man sah es, der junge Chef hatte in wenigen Wochen Das gelernt, wozu Andere Jahre brauchen.

„Ich bin gewiß der Letzte, der einer fremden Hülfe das Wort redet, „fuhr der Oberingenieur fort, „aber ich dächte, wir Alle, unser Chef voran, hätten nun genug gethan, sie abzuhalten. Man kann und wird uns wahrhaftig keinen Vorwurf machen, wenn wir endlich auch zu Dem greifen, was die Nachbarwerke längst gethan haben, und zwar ohne solche dringende Nothwendigkeit wie die unsrige.“

Arthur schüttelte düster das Haupt. „Die anderen Werke können für uns keinen Maßstab geben; dort ist es mit einigen Verhaftungen und Verwundungen abgegangen, dort genügten fünfzig Mann und ein paar Schüsse in die Luft, um die ganze Revolte zu unterdrücken. Hier steht Hartmann an der Spitze, und wir wissen Alle, was das heißen will. Der weicht selbst einem Bajonnetangriff nicht, und mit ihm steht und fällt auch sein ganzer Anhang. Sie würden das Aeußerste herausfordern – bei uns geht der Friede nur über Leichen.“

Der Beamte schwieg, aber sein bedeutsames Achselzucken zeigte, daß er die Befürchtung seines Chefs theilte.

„Wenn aber der Friede nicht anders zu erreichen ist –“ begann er wieder.

Wenn er zu erreichen ist! Er ist es aber nicht, und die Opfer fallen umsonst. Ich zwinge die Empörung für den Augenblick nieder, damit sie sich im nächsten Jahr, in den nächsten Monaten vielleicht schon von Neuem erhebt, und Sie wissen so gut wie ich, daß mir das die letzte Möglichkeit nimmt, die Werke zu behaupten. Anderswo geben sich doch wenigstens noch Regungen der Gerechtigkeit, des Vertrauens kund, anderswo fangen die Leute doch endlich an, zur Besinnung zurückzukehren; bei uns ist das nicht zu hoffen; das Jahre lang gesäete Mißtrauen läßt sich nicht überwinden. Haß und Feindschaft war die Parole, die gegen mich ausgegeben wurde, als ich hier eintrat; sie ist es noch heute, und wenn ich nun noch das Blut zwischen sie und mich stelle, dann ist es vollends aus. Hartmann freilich darf es wagen, die Seinen im offenen Kampfe zum Gehorsam zu treiben, ihnen gewaltsam, vielleicht blutig seinen Willen aufzuzwingen; er bleibt ihnen doch der Messias, von dem sie allein ihr Heil erwarten. Wenn ich nur einen Schuß thun lasse, wenn ich mich nur zur eigenen Nothwehr bewaffne, so bin ich der Tyrann, der sie kaltblütig morden läßt, der Unterdrücker, der seine Freude hat an ihrem Verderben. Der alte Schichtmeister hat es mir damals nicht umsonst gesagt: ‚Wenn es einmal bei uns losbricht, dann gnade uns ‚Gott!‘“

Es lag keine Klage, nicht einmal eine Muthlosigkeit in diesen Worten, nur die tiefe Bitterkeit eines Mannes, der sich endlich doch an den Rand des Abgrundes gerissen sieht, dem fern zu bleiben, er vergebens alle Kräfte aufgeboten. Vielleicht hätte der junge Chef auch zu keinem Anderen so gesprochen, aber der Oberingenieur war der Einzige, der ihm in der letzten Zeit näher getreten war, weil er bei allen Gefahren und Maßregeln fest und unverrückbar an seiner Seite gestanden; er war auch der Einzige, der bisweilen etwas anderes aus seinem Munde hörte, als die Befehle oder Ermuthigungen, die er allein für die übrigen Beamten hatte.

„Ein Theil der Leute hat aber doch bereits die Arbeit wieder aufnehmen wollen,“ meinte er.

Arthur richtete sich hastig empor. „Und gerade das wird mich zwingen, den Uebrigen den Krieg zu erklären! Mit Hartmann ist keine Versöhnung zu hoffen – ich habe es vergebens noch einmal versucht!“

„Mit wem? Was haben Sie versucht, Herr Berkow?“ fragte der Beamte mit einem solchen Ausdruck des Erschreckens, daß der junge Chef ihn befremdet ansah.

„Eine Verständigung mit Hartmann. Es geschah allerdings nicht officiell. Das hätte man als Schwäche auslegen können; es war bei einer zufälligen Begegnung zwischen uns Beiden allein, wo ich ihm noch einmal die Hand bot.“

„Das durften Sie nicht!“ fiel Jener fast leidenschaftlich ein. „Ihre Hand diesem Manne! Mein Gott – freilich, Sie wissen ja noch nichts.“

„Ich durfte nicht?“ wiederholte Arthur etwas scharf. „Wie meinen Sie das, Herr Oberingenieur? Sein Sie überzeugt, daß ich meine Stellung hinreichend zu wahren weiß, selbst bei solchen Gelegenheiten.“

Der Beamte hatte sich bereits wieder gefaßt. „Verzeihen Sie, Herr Berkow! Der Ausdruck sollte keine Maßregel meines Chefs kritisiren; es galt einzig dem Sohne, der freilich keine Ahnung hat von den Gerüchten, die sich an die Todesstunde seines Vaters knüpfen. Wir hatten einander das Wort gegeben, darüber gegen Sie zu schweigen; es geschah in der besten Absicht. Jetzt aber sehe ich doch ein, daß wir Unrecht thaten, daß Sie es wissen müssen. Sie wollten dem Hartmann Ihre Hand bieten, und das, ich wiederhole es, durfte nicht sein.“

Arthur sah ihn starr an. Sein Gesicht war auf einmal farblos geworden, und die Lippen bebten.

„Sie sprechen von Hartmann und von der Todesstunde meines Vaters! Es existirt also ein Zusammenhang zwischen beiden?“

„Ich fürchte es; wir fürchten es Alle. Der allgemeine Verdacht klagt den Steiger an und nicht bei uns allein, auch bei seinen Cameraden.“

„Damals im Fahrschacht?“ stieß Arthur in furchtbarer Bewegung hervor. „Ein meuchlerischer Ueberfall gegen einen Wehrlosen? Das glaube ich von Hartmann nicht!“

„Er haßte den Verstorbenen,“ sagte der Oberingenieur bedeutsam, „und er hat diesen Haß nie geleugnet. Herr Berkow mag ihn durch ein Wort, durch einen Befehl gereizt haben. Ob die Seile wirklich durch bloßen Zufall gerissen sind und er den Moment der Gefahr benutzte, um sich zu retten und den Anderen in die Tiefe zu schleudern, ob das Ganze ein vorbedachter Plan war, darüber freilich liegt ein räthselhaftes Dunkel, aber schuldlos ist er nicht, dafür möchte ich bürgen.“

Man sah es dem jungen Chef an, wie diese Enthüllung ihn erregte; er stützte sich schwer auf den Tisch. „Die Untersuchung hat ein Unglück ergeben,“ entgegnete er mit schwankender Stimme.

„Die Untersuchung ergab nichts! Deshalb nahm man ein Unglück an und ließ es als ein solches gelten. Eine laute Anklage wagte Niemand; es fehlte jeder Beweis, und es hätte zu unabsehbaren Conflicten mit unseren Leuten geführt, hätte man den Verdacht benutzt, um ihnen den Führer zu nehmen, der aller Wahrscheinlichkeit nach doch frei ausgegangen wäre. Wir wußten, Herr Berkow, daß, wie die Verhältnisse nun einmal lagen, Sie den Kampf mit diesem Gegner nicht vermeiden konnten; wir wollten Ihnen wenigstens die Bitterkeit ersparen, zu wissen, mit wem Sie kämpften. Das war der Grund unseres Schweigens.“

Arthur fuhr sich mit der Hand über die feuchte Stirn. „Das ahnte ich nicht! Das nicht! Und wenn es auch nur ein Verdacht ist – Sie haben Recht, dem Manne durfte ich meine Hand nicht bieten.“

„Und dieser Mann,“ fiel der Beamte energisch ein, „hat an der Spitze seiner Cameraden das ganze Unglück über Sie und uns gebracht; dieser Mann hat den Streit endlos geschürt und verlängert und versucht es jetzt, wo seine Macht im Sinken ist, den Riß unheilbar, die Versöhnung unmöglich zu machen. Können und wollen Sie ihn jetzt noch schonen?“

„Ihn? Nein! Mit ihm war ich bereits zu Ende, als er mein Entgegenkommen so schroff zurückwies, aber auch die Anderen kann ich nicht mehr schonen nach den heutigen Scenen, sie treiben mich zum Aeußersten. Die Zweihundert von heute Morgen wollten arbeiten und sie haben am Ende das Recht, Schutz für ihre Arbeit zu verlangen. Die Schachte müssen gesichert werden um jeden Preis; ich allein kann es nicht mehr, also –“

„Also – wir erwarten Ihre Befehle, Herr Berkow.“

Es trat eine secundenlange Pause ein, aber der sichtbare Kampf in Arthur’s Zügen wich allmählich dem Ausdruck einer finsteren Entschlossenheit.

„Ich werden nach M. schreiben! Der Brief soll noch heute dorthin – es muß sein!“

„Endlich!“ sagte der Oberingenieur halblaut und wie mit halbem Vorwurf. „Es war auch hohe Zeit.“

Arthur wandte sich zu seinem Schreibtische. „Gehen Sie jetzt und sorgen Sie dafür, daß der Director und die übrigen Herren auf den Posten bleiben, die ich ihnen angewiesen habe, als ich vorhin auf den Werken war. Sie sollen sich nicht rühren, bis ich selbst komme. Heute Morgen wäre es nutzlos gewesen, in das Toben dort einzugreifen; vielleicht ist das jetzt möglich. In einer halben Stunde bin ich bei Ihnen. Fällt inzwischen etwas Besonderes vor, so senden Sie mir sofort Nachricht herüber!“

Der Beamte, im Begriff sich zu entfernen, trat noch einmal an die Seite seines Chefs. „Ich weiß, was der Entschluß Sie kostet, Herr Berkow,“ sagte er ernst, „und leicht nimmt gewiß Keiner von uns die Sache, aber man braucht doch nicht immer das Aergste zu fürchten. Vielleicht geht es dennoch ab ohne Blutvergießen.“

Der Oberingenieur war, als er mit kurzem Gruße das Zimmer verließ, viel zu eilig und hatte den Kopf zu voll von anderen Dingen, als daß er die junge Frau hätte bemerken sollen, die sich bei seinem Nahen noch tiefer in den Schutz der Portière flüchtete. Ohne auch nur einen Blick seitwärts zu werfen, durchschritt er das anstoßende Gemach und schloß die Thür hinter sich. Die beiden Gatten waren allein.

Arthur hatte nur ein bitteres Lächeln gehabt für die letzten Worte seines Beamten. „Es ist zu spät!“ sagte er jetzt dumpf vor sich hin. „Sie werden nicht weichen ohne Blut – ich werde ernten müssen, was mein Vater gesäet hat!“

Er warf sich auf den Sessel nieder und stützte den Kopf in die Hand. Jetzt, wo er nicht mehr den fremden Augen Rede zu stehen, wo er nicht mehr den Chef zu vertreten hatte, von dessen Entschlossenheit die aller Uebrigen abhing, jetzt wich die Energie aus seinen Zügen, um dem Ausdruck jener tödtlichen Erschöpfung Platz zu machen, der auch der Stärkste unterliegt, wenn er wochenlang all seine Geistes- und Körperkräfte bis an die äußerste Grenze des Möglichen hin angespannt und überreizt hat. Es war ein Augenblick tiefer verzweifelter Muthlosigkeit, wie sie wohl einem Manne nahen konnte, der immer und immer wieder vergebens ankämpft gegen den Fluch einer Vergangenheit, gegen die er nichts verschuldet, als ein gleichgültiges Fernhalten von ihren Aufgaben, und deren verhängnißvolles Erbe doch mit seiner ganzen erdrückenden Last auf ihn allein fällt. Die schwere Anklage gegen den Vater, die sich unwillkürlich seinen Lippen entwand, verstummte zwar in dem gleichen Augenblick vor den furchtbaren Andeutungen, die er soeben über die Todesstunde dieses Vaters erhalten hatte, und doch hatte der allein es verschuldet, wenn der Sohn jetzt nach all dem verzweifelten Ringen doch endlich der letzten schrecklichen Nothwendigkeit gegenüberstand, wenn er, seinen Ruin vor Augen, verlassen von seinem Weibe, aufgegeben von all seinen ehemaligen Freunden, zum letzten Mittel griff, um sich und das, was er für den Augenblick noch sein nannte, vor einem Hasse zu sichern, der, jahrelang gesäet und genährt, ihm jetzt seine volle bittere Frucht zu kosten gab. Arthur schloß wie todtmüde die Augen und lehnte den Kopf an die Lehne des Armsessels – er konnte nicht mehr.

Eugenie hatte leise ihr Versteck verlassen und war auf die Schwelle getreten. Vergessen war die vorhin überstandene Gefahr, vergessen die Anklage des Beamten, die sie eben noch mit solchem Entsetzen durchschauert, vergessen auch Der, dem sie galt, und Alles, was sich an ihn knüpfte; jetzt, wo sie ihrem Gatten nahte, sah und dachte sie nichts weiter, als nur ihn allein. Der Schleier, der so lang und dicht zwischen ihnen Beiden gelegen, sollte jetzt endlich zerreißen. Es mußte klar werden, und doch bebte sie vor der Entscheidung, als solle ihr Todesurtheil damit gesprochen werden. Wenn sie sich täuschte, wenn sie nicht so empfangen wurde, wie sie empfangen werden wollte und mußte nach diesem Opfer, das sie ihrem Stolze abgerungen – das Blut drängte mit stürmischer Gewalt zum Herzen der jungen Frau, und dieses Herz pochte in namenloser Angst – an der nächsten Minute hing für sie Alles.

„Arthur!“ sagte sie leise.

Arthur fuhr auf, als habe eine Geisterstimme sein Ohr berührt, und blickte um sich. Dort auf der Schwelle, wo sie ihm Lebewohl gesagt für immer, stand sein Weib und in dem Moment, wo er sie erkannte, schwand Besinnung und Ueberlegung. Er machte eine Bewegung, ihr entgegen zu stürzen, und der Aufschrei des Glückes, der sich seinen Lippen entrang, das Aufleuchten seiner Augen verrieth alles, was eine mondenlange Selbstbeherrschung ihr bis auf diese Stunde abgeleugnet.

„Eugenie!“

Die junge Frau athmete auf, als sei eine Bergeslast von ihrer Brust gesunken. Der Blick, der Ton, mit dem er ihren Namen rief, gaben ihr endlich die so lang bezweifelte Gewißheit, und wenn er auch mitten in seiner stürmischen Bewegung inne hielt, wenn er wie zum Schutze gegen sich selbst die alte Maske wieder vorzunehmen strebte und den verrätherischen Blick verschleierte, es war zu spät, sie hatte zu viel gesehen!

„Wo kommst Du her?“ fragte er endlich, sich mühsam fassend, „so plötzlich – so unerwartet – und wie gelangtest Du in’s Haus? Die Werke sind noch in vollem Aufruhr. Du kannst sie unmöglich passirt haben.“

Eugenie näherte sich langsam. „Ich bin erst vor wenigen Minuten angekommen. Den Zugang habe ich mir freilich erst erzwingen müssen; frage mich jetzt nicht wie – genug daß ich ihn erzwang. Ich wollte zu Dir, ehe die Gefahr Dich erreichte.“

Arthur machte einen Versuch, sich abzuwenden. „Was soll das, Eugenie? Was willst Du mit diesem Tone? Curt wird Dich geängstigt haben mit seinen Berichten, trotz meiner Bitte, trotz meines ausdrücklichen Verbotes. Ich will kein Opfer der Pflicht und Großmuth. Du weißt es.“

„Ja, ich weiß es!“ entgegnete die junge Frau fest. „Du hast mich ja schon einmal damit von Dir gewiesen. Du konntest es mir nicht verzeihen, daß ich Dir einmal Unrecht gethan, und der Rache dafür hättest Du beinahe mich und Dich geopfert. Arthur, wer war der Schroffste, der Härteste von uns beiden?“

„Es war keine Rache,“ sagte er leise. „Ich gab Dich frei – Du hast es selbst gewollt.“

Eugenie stand jetzt dicht vor ihm; das Wort, das einst um keinen Preis der Welt seinen Weg über ihre Lippen gefunden hätte, es wurde ihr jetzt so leicht, seit sie sich geliebt wußte. Sie hob das dunkle thränenfeuchte Auge voll zu ihm empor.

„Und wenn ich nun meinem Manne sage, daß ich die Freiheit nicht will ohne ihn, daß ich zurückgekommen bin, um alles mit ihm zu theilen, was uns auch treffen mag, daß ich ihn – lieben gelernt habe: wird er mich dann zum zweiten Male gehen heißen?“

Sie erhielt keine Antwort, wenigstens in Worten nicht, aber sie lag bereits in seinen Armen, und in diesen Armen, die sie so heiß und fest umschlossen, als wollten sie das endlich Errungene nie wieder von sich lassen, unter den leidenschaftlichen Liebkosungen, mit denen er sie überströmte, fühlte Eugenie, wie tief ihn einst ihr Verlust getroffen und was ihre Rückkehr ihm war in solchem Augenblick. Sie sah das Aufstrahlen der großen braunen Augen in einem Glanze, wie sie ihn trotz alles blitzähnlichen Leuchtens darin doch noch nie gesehen. Die gebannte, versunkene Welt war herauf gestiegen aus ihrer Tiefe zum hellsten Sonnenlicht, und die junge Frau mußte doch wohl eine Ahnung haben von all den Schätzen, die sie ihr verhieß, denn sie legte mit dem Ausdruck des hingebendsten Vertrauens ihr Haupt an die Brust des Gatten, als er sich zu ihr herabbeugend leise sagte:

„Mein Weib! Mein Alles.“

Durch das offene Fenster wehte es herein wie ein Rauschen und Grüßen von den grünen Waldbergen drüben. Die Stimme mußte doch auch mitflüstern in dem neu erstandenen Glück; sie hatte es ja mit erbauen helfen. Sie hatte die Beiden längst erkannt, als sie sich selbst noch nicht kannten, als sie noch im herben Trotz und Kampf gegen einander standen und das Trennungswort aussprachen, gerade da, wo ihre Herzen sich fanden. Aber es nützt nichts, dieses Kämpfen und Trotzen der Menschenkinder, wenn sie mit ihrem Lieben und Hoffen in den Bann gerathen, den der Berggeist über sein Reich legt im wallenden Nebel der ersten Frühlingsstunde – und was sich da findet, das gehört zusammen für immer!

Herz-Sammelband: Elisabeth Bürstenbinder Liebesromane

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