Читать книгу Herz-Sammelband: Elisabeth Bürstenbinder Liebesromane - Elisabeth Bürstenbinder - Страница 38
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ОглавлениеDer nächste Morgen! Das war ein Gedanke, der nicht blos Arthur und seine Gattin allein, sondern Alles, was überhaupt zum Berkow’schen Hause stand, mit schwerer Sorge erfüllte. Nun war er gekommen, dieser so gefürchtete Morgen, und schien in der That all die Befürchtungen verwirklicht zu haben, die man ihm entgegentrug. Trotz der frühen Stunde befanden sich die sämmtlichen Beamten bereits im Hause ihres Chefs. Ob sie zu einer Berathung versammelt waren, ob sie sich dorthin geflüchtet hatten – es sah fast aus, als sei das letztere der Fall, denn die Gesichter der Herren waren bleich, aufgeregt, verstört, und Reden und Gegenreden, Vorschläge, Sorgen und Befürchtungen schwirrten bunt durcheinander.
„Ich bleibe dabei, es war ein Fehler, die drei Leute in Verhaft zu nehmen!“ behauptete Schäffer, zum Director gewendet. „Das hätte man allenfalls wagen können, wenn die militärische Hülfe schon da wäre, aber nun und nimmermehr auf eigene Hand. Jetzt stürmen sie uns das Haus, um die Gefangenen zu befreien; wir werden sie herausgeben müssen.“
„Erlauben Sie, das werden wir nicht!“ rief der Oberingenieur, der sich wie gewöhnlich in vollster Opposition seinen beiden Collegen gegenüber befand. „Wir werden den Sturm aushalten und uns nöthigenfalls hier im Hause vertheidigen; Herr Berkow ist durchaus entschlossen dazu.“
„Nun, Sie freilich müssen seine Beschlüsse am besten kennen. Sie sind ja sein ausschließlicher Berather!“ meinte etwas pikirt der Director, der sich allerdings einer gleichen Intimität mit dem jungen Chef nicht rühmen konnte, obgleich seine Stellung ihn vielleicht eher dazu berechtigte.
„Herr Berkow pflegt seine Beschlüsse gewöhnlich allein zu fassen,“ entgegnete der Oberingenieur trocken. „Ich befinde mich nur, wie gewöhnlich, auch diesmal in dem Falle, ihm vollkommen beizustimmen. Es wäre wider Recht und Gewissen, es wäre eine erbärmliche Feigheit gewesen, die drei Uebelthäter laufen zu lassen. Sie hatten die eingestandene Absicht, uns die Maschinen zu zerstören.“
„Auf Hartmann’s Befehl!“ warf Schäffer ein.
„Gleichviel, sie gaben sich doch zur Ausführung her. Der Herr kam gerade recht, um das Bubenstück noch zu verhindern, und ich möchte Den sehen, der da Ruhe genug gehabt hätte, die Anstifter straflos ausgehen zu lassen. Er ließ sie festnehmen, und daran that er recht. Hartmann war freilich nicht dabei; er befand sich noch bei den Schachten, wo der Lärm gerade im vollen Gange war und wo er doch schließlich die Einfahrt nicht hindern konnte, weil der eigene Vater sich ihm entgegenstellte.“
„Ja, es war ein Glück, daß der Schichtmeister uns zu Hülfe kam!“ sagte der Director. „Er muß wohl eingesehen haben, daß ihm kein anderes Mittel mehr übrig blieb, um das Aeußerste zu verhüten, als er sich heute Morgen aus freien Stücken erbot, die Leute zur Schicht zu führen, obgleich es gar nicht sein Amt ist. Er wußte am Ende, daß sich der Sohn an ihn nicht wagen würde, und von den Uebrigen rührte Keiner die Hand gegen die Cameraden, als sie den Führer zurückweichen sahen. Dem Alten allein danken wir es, daß die Einfahrt wirklich erzwungen wurde.“
„Ich sage es ja,“ beharrte Schäffer, „die Einfahrt wurde erzwungen, mehr als die Hälfte der Knappschaft verhielt sich bereits neutral dabei, und hätte man sie nicht durch die Festnahme ihrer Cameraden gereizt, so wäre die ganze Sache in Ruhe und Frieden verlaufen.“
„In Ruhe und Frieden, so lange Hartmann befiehlt?“ lachte der Oberingenieur bitter auf; „da täuschen Sie sich ganz und gar. Er suchte einen Vorwand zum Angriffe, gleichviel, welchen, und hätte ihn schlimmsten Falles auch ohne Vorwand unternommen. Der heutige Morgen hat ihm doch wohl gezeigt, daß es mit seiner Macht reißend schnell zu Ende geht, daß er vielleicht nur heute noch über seinen Anhang gebietet, und da wagt er das Letzte. Der Mensch weiß jetzt, daß er verloren ist, und reißt rücksichtslos mit sich in’s Unglück, was ihm noch aus Furcht oder Gewohnheit folgt. Er hat nichts mehr zu schonen, und uns schont er da am wenigsten.“
Sie wurden durch Herrn Wilberg unterbrochen, der mit bleicher Miene vom Fenster zurückkam, wo er während der letzten zehn Minuten Posto gefaßt hatte.
„Der Lärm wird immer ärger,“ berichtete er zaghaft. „Es ist kein Zweifel mehr, daß sie einen Angriff gegen das Haus beabsichtigen, wenn Herr Berkow nicht nachgiebt. Das Parkgitter ist schon nieder; die ganzen Anlagen sind zerstampft und zertreten. Ach, und der herrliche Rosenflor auf den Terrassen –“
„Bleiben Sie uns mit Ihrer Sentimentalität vom Leibe!“ fuhr der Oberingenieur auf, während der Director und Schäffer zum Fenster eilten. „Jetzt, wo die Empörer uns das Haus stürmen, denken Sie an zertretene Rosenstöcke. Wollen Sie sich nicht lieber gleich hinsetzen und den Rosenjammer in Verse bringen? Ich dächte, es wäre gerade die rechte Stimmung für einen Poeten.“
„Ich habe seit einiger Zeit das Unglück, daß Alles, was ich sage und thue, den Unwillen des Herrn Oberingenieurs erregt,“ entgegnete Herr Wilberg gekränkt, aber doch mit einer Miene geheimen Selbstbewußtseins, die den Grimm seines Vorgesetzten noch zu steigern schien.
„Weil Sie nichts Vernünftiges sagen oder thun!“ grollte er, ihm den Rücken wendend und seinen Collegen folgend, die vom Fenster aus den immer mehr anwachsenden Tumult beobachteten.
„Das wird Ernst!“ sagte der Director unruhig, „sie bedrohen den Eingang. Man wird den Herrn benachrichtigen müssen.“
„Lassen Sie ihn doch wenigstens für den Augenblick in Ruhe!“ fiel der Oberingenieur ein. „Ich dächte, er wäre seit Tagesanbruch so ununterbrochen auf dem Posten gewesen, daß wir ihm die fünf Minuten bei seiner Frau gönnen dürfen. Die nothwendigsten Maßregeln sind ja alle getroffen, und wenn die Gefahr da ist, wird er auch da sein; das wissen Sie doch.“
Der Beamte hatte Recht. Arthur, seit den ersten Morgenstunden mit Befehlen, Anordnungen und persönlichem Eingreifen in ununterbrochener Thätigkeit begriffen, war bisher seiner Gattin kaum zu Gesicht gekommen und hatte sich jetzt erst mit ihr auf einige Minuten in eines der Nebengemächer zurückgezogen. Er mußte ihr dort wohl den ganzen Stand der Dinge mitgetheilt haben, denn die Arme der jungen Frau waren in angstvoller Erregung um seinen Hals geschlungen.
„Du darfst nicht hinaus, Arthur; es ist ein tollkühnes, ein verzweifeltes Wagniß! Was willst Du, der Einzelne, gegen die tobende Menge ausrichten? Gestern waren sie unter sich selber im Streite, als Du dazwischen tratest; heute wendet sich Alles gegen Dich allein. Du wirst die Kühnheit büßen müssen; ich lasse Dich nicht hinaus!“
Arthur machte sich sanft, aber entschieden los aus ihren Armen. „Ich muß, Eugenie! Es ist die einzige Möglichkeit, den Sturm noch aufzuhalten, und es ist ja nicht das erste Mal, daß ich solchen Scenen Stand halten muß. Was thatest Du denn gestern bei Deiner Ankunft?“
„Ich wollte zu Dir!“ sagte Eugenie in einem Tone, als sei damit jedes Wagniß gerechtfertigt. „Aber Du willst Dich von mir losreißen, um Dich der blinden Wuth dieses Hartmann entgegenzuwerfen. Denke an den Auftritt gestern Abend, an seine Drohungen! Wenn Du hinaus mußt, wenn es keine Wahl giebt, so laß mich wenigstens mit Dir gehen. Ich bin nicht furchtsam; ich bebe vor der Gefahr nur, sobald ich Dich allein darin weiß.“
Er beugte sich ernst, aber liebevoll zu ihr nieder. „Ich weiß, daß Du Muth hast, meine Eugenie, aber ich würde feig sein der Menge gegenüber, wüßte ich, daß ein Stein aus ihrer Mitte auch Dich treffen könnte. Ich brauche heute meinen vollen Muth, und den habe ich nicht, wenn ich Dich neben mir bedroht sehe, ohne Dich schützen zu können. Ich weiß, warum Du mich begleiten willst: Du glaubst mich sicher vor einem Arme, so lange Du an meiner Seite stehst. Täusche Dich nicht! Das ist vorbei seit gestern Abend; seitdem hast Du Antheil an dem Hasse, mit dem er mich verfolgt, und auch wenn das nicht wäre,“ hier verlor seine Stimme den zärtlich weichen Klang und die Stirne faltete sich, „ich will meine Sicherheit nicht einem Gefühl verdanken, das eine Beleidigung ist für Dich wie für mich und das schon allein die Entfernung jenes Mannes forderte, auch wenn sein sonstiges Benehmen es nicht thäte.“
Die junge Frau mußte wohl die Wahrheit dieser Worte fühlen – sie senkte in stummer Resignation das Haupt. Arthur fuhr auf:
„Da bricht das Toben von Neuem los! Ich muß fort! Unser Wiedersehen wird sich heute nur auf Minuten beschränken, und auch die werden angstvoll genug sein für Dich, mein armes Weib. Du hättest zu keiner schlimmeren Zeit zurückkehren können.“
„Möchtest Du den Sturm lieber allein aushalten, ohne mich?“ fragte Eugenie leise.
Ein Ausdruck leidenschaftlicher Zärtlichkeit erhellte die umdüsterten Züge des jungen Mannes. „Ohne Dich? Ich habe bisher ausgehalten wie der Soldat auf einem verlorenen Posten. Erst seit gestern weiß ich, daß auch der Kampf etwas werth sein kann, wenn man ein Lebensglück und eine Zukunft dabei zu gewinnen hat. Du hast mir Beides zurückgebracht, und wenn es jetzt von allen Seiten noch ärger auf uns einstürmte, ich glaube wieder an den Sieg, seit ich Dich wieder habe.“ –
Die noch immer in größter Aufregung geführten Debatten der Beamten verstummten, als Berkow mit seiner Gemahlin eintrat, aber die Bewegung, welche sich dabei von allen Seiten kund gab, war mehr als die bloße Rücksicht für das Erscheinen des Chefs. All die ernsten, besorgten, ängstlichen Blicke hefteten sich auf sein Gesicht, als wollten sie Hoffnungen oder Befürchtungen daraus lesen. Alle drängten sich um ihn, wie um einen Mittelpunkt, an dem sie Halt und Stütze suchten; Alles athmete auf bei seinem Eintritt, als sei damit allein schon ein Theil der Gefahr beseitigt. Diese Bewegung, unwillkürlich wie sie war, zeigte Eugenien doch hinreichend, welche Stellung ihr Gatte sich bei seiner Umgebung errungen hatte und die Art, wie er in ihre Mitte trat, zeigte noch mehr, daß er sie zu behaupten wußte. Sein Antlitz, das die junge Frau noch vor wenig Augenblicken so schwer umdüstert gesehen hatte, verrieth jetzt, wo es all den besorgten Gesichtern begegnete, nur einen ruhigen Ernst, nichts weiter, und seine Haltung war von einer Sicherheit, die auch dem Zaghaftesten Muth einflößen mußte.
„Nun, meine Herren, es sieht ziemlich feindselig und bedrohlich aus da draußen. Wir werden uns auf eine Art von Belagerung, vielleicht sogar auf einen Angriff gefaßt machen müssen. Meinen Sie nicht?“
„Man will die Gefangenen heraus haben,“ sagte der Director, indem er einen Unterstützung fordernden Blick auf Schäffer warf, der jetzt gleichfalls herantrat.
„Ja wohl, Herr Berkow, und ich fürchte, wir werden uns hier nicht behaupten können gegen den Aufruhr. Die Festnahme der drei Bergleute ist im Augenblick freilich der alleinige Grund oder Vorwand dazu; wenn man ihnen den nähme –“
„So würden sie einen anderen finden,“ schnitt ihm Arthur das Wort ab, „und die verrathene Schwäche würde sie vollends entfesseln. Wir dürfen jetzt weder Schwanken noch Furcht zeigen, oder wir verlieren das Spiel noch im letzten Augenblick. Ich sah die Folgen voraus, als ich die drei Unheilstifter festnehmen ließ, aber diesem Attentat gegenüber blieb nur die vollste Strenge übrig. Die Gefangenen bleiben in Haft, bis das Militär eintrifft.“
Der Director trat zurück, und Schäffer zuckte die Achseln; sie hatten ihren jungen Chef nun nachgerade genug kennen gelernt, um zu wissen, daß es diesem Tone gegenüber keinen Widerspruch gab.
„Ich vermisse Hartmann unter der Menge,“ wandte sich Arthur an den Oberingenieur. „Er pflegt doch sonst überall der Erste zu sein, wo es Lärm und Tumult giebt; heute aber scheint er die Schaar nur zum Angriff gehetzt und sie dann allein gelassen zu haben. Er ist nirgends sichtbar.“
„Auch ich vermisse ihn schon seit einer Viertelstunde, entgegnete der Gefragte bedenklich. „Wenn er nur nicht wieder irgend ein neues Unheil anstiftet. Sie befahlen die Posten von den Maschinenhäusern zurückzuziehen, Herr Berkow.“
„Gewiß! Wir brauchen die wenigen Leute, über die wir verfügen können, nothwendiger hier im Hause, und seit die Einfahrt erzwungen wurde, sind die Schachte wie die Maschinen vollkommen sicher. Sie können nichts dagegen unternehmen, ohne ihre eigenen Cameraden da unten zu gefährden.“
„Ob das bei einem solchen Führer in Betracht kommt?“ meinte der Beamte zweifelnd.
Die Stirn Arthur’s umwölkte sich. „Ich dächte doch! Hartmann ist ein Unbändiger, ein Wütherich sogar, wenn er gereizt wird, ein Schurke ist er nicht, und das, was Sie da andeuten, wäre Schurkerei. Er hat die Maschinen zerstören wollen, um die Anfahrt zu hindern, und als er sie nicht mehr hindern konnte, weshalb glauben Sie denn, daß er sich da so unsinnig nach den Häusern stürzte? Es geschah wohl nicht, um den Vater und die Cameraden dem Verderben preiszugeben. Er wollte seine früheren Befehle rückgängig machen und erst als er sah, daß wir ihm bereits zuvorgekommen waren, brach er in der Wuth über den gescheiterten Plan gegen uns los. Die Anfahrt allein hat uns die Maschinen gerettet. Es hebt Keiner die Hand dagegen, so lange der Schichtmeister und die Uebrigen in den Schachten sind, aber dafür richtet sich der Sturm jetzt gegen das Haus. Ich werde hinausgehen und einen Versuch machen, ihn zu beschwichtigen.“
Die Beamten waren es seit den letzten Wochen gewohnt, daß ihr Chef mit der vollsten Kühnheit und ohne alle Rücksicht auf seine Person vorging, wenn es sich um ähnliche Scenen handelte, heute aber wurden doch von allen Seiten Bitten und Abmahnungen laut; sogar der Oberingenieur schloß sich diesmal den Vorstellungen an, während Schäffer, der wohl wußte, von welcher Seite ein Widerspruch allein nützen konnte, sich zu Eugenien wandte, die noch an der Seite ihres Gemahls stand.
„Lassen Sie es nicht zu, gnädige Frau! Heute nicht – heute ist es gefährlicher als all’ die Tage vorher. Die Leute sind furchtbar gereizt, und Hartmann spielt diesmal va banque gegen uns. Halten Sie den Herrn zurück!“
Die junge Frau wurde todtenbleich bei dieser Mahnung, die ihre eigenen Befürchtungen nur zu sehr bestätigte, aber sie behauptete ihre Fassung; ein Theil der Ruhe Arthur’s schien auch auf sie übergegangen zu sein.
„Mein Gatte hat mir erklärt, er müsse den Versuch machen,“ entgegnete sie fest, „und er soll nicht sagen, daß ich ihn mit Thränen und Klagen von dem zurückgehalten habe, was er für seine Pflicht hält. Lassen Sie ihn hinaus!“
Arthur hielt ihre Hand noch immer fest in der seinigen; er dankte ihr nur mit einem Blick.
„Nun, meine Herren, nehmen Sie sich ein Beispiel an dem Muthe meiner Frau! Sie hat doch wohl am meisten zu zittern. Ich wiederhole es Ihnen, der Versuch muß gemacht werden! Lassen Sie die Eingangsthür öffnen.“
„Wir gehen alle mit!“ rief der Oberingenieur. „Fürchten Sie nichts, gnädige Frau! Ich weiche dem Herrn nicht von der Seite.“
Arthur wies ihn ruhig, aber entschieden zurück. „Ich danke Ihnen, aber Sie bleiben hier und die übrigen Herren gleichfalls – ich gehe allein. In solchem Falle ist höchstens der Einzelne der Menge gegenüber sicher. Ihr gesammtes Erscheinen könnte als eine Herausforderung gelten. Halten Sie sich nur bereit, mir, wenn es zum Aeußersten kommen sollte, den Rückzug in’s Haus zu decken! Leb’ wohl, Eugenie!“
Er ging, von dem Oberingenieur und einem Theil der Beamten bis zur Treppe begleitet. Es machte Keiner mehr den Versuch, ihn zurückzuhalten; sie wußten Alle, daß in seinem Erscheinen draußen die einzige Möglichkeit lag, eine Gefahr abzuwenden, gegen die noch stundenlang sich hier im Hause zu behaupten schwer, wenn nicht unmöglich erschien.
Eugenie eilte an’s Fenster. Sie sah nicht, daß die noch Anwesenden sich in ängstlicher Spannung an die übrigen Fenster drängten, hörte nicht die halblauten Bemerkungen, die der Director und Schäffer, die unmittelbar hinter ihr standen, mit einander austauschten; sie sah nur die wild empörte Menge, die, Kopf an Kopf gedrängt, das Haus umwogte und mit wüthendem Geschrei die Freilassung der Gefangenen verlangte, diese Menge, der sich ihr Gatte jetzt allein entgegenwerfen wollte und die im nächsten Augenblick vielleicht sein Leben bedrohte. Das freilich mehr zierliche als feste Eisengitter des Parks war dem Ansturm bereits gewichen; es lag zertrümmert am Boden; die kostbaren, so sorgfältig gepflegten Gartenanlagen bildeten, von Hunderten von Fußtritten zerstampft, nur noch ein wüstes Chaos von Erde, Blumenscherben und zertretenen Gesträuchen. Schon waren die Ersten bis an die Terrasse und damit bis in die unmittelbare Nähe des Hauses vorgedrungen; schon zeigten sich die Fäuste Einzelner mit Steinen bewehrt, bereit, sie gegen die Fenster zu schleudern. Geschrei, Drohungen, Rufe aller Art tönten wild durcheinander; das Toben stieg von Minute zu Minute und steigerte sich bisweilen zu einem secundenlang andauernden Geheul, das nichts Menschliches mehr zu haben schien.
Da auf einmal tiefe athemlose Stille! Der Lärm brach so jäh ab, als habe ein Machtwort von oben ihm Schweigen geboten; die wildbewegten Gruppen hielten inne; die Menge wogte zurück, als habe sie plötzlich einen Widerstand gefunden, und alle Augen, alle Gesichter wandten sich nach einer Richtung – die Eingangsthür war geöffnet worden, und der junge Chef auf die Terrasse getreten.
Die Stille dauerte nur wenige Secunden; dann wich die augenblickliche Ueberraschung einem erneuten Wuthausbruch, furchtbarer als der erste, und jetzt hatte er ein besseres Ziel vor Augen. All’ dieses tobende Geschrei, all’ diese wuthverzerrten Gesichter und erhobenen Arme, die vorhin das Haus und dessen Insassen bedrohten, wendeten sich jetzt gegen einen Einzigen; aber dieser Eine war der Chef, der Herr der Werke, und was der Vater mit seinem industriellen Genie, mit seiner zähen Ausdauer und tyrannischen Willkür in Jahrzehnten nicht erringen konnte, das hatte der Sohn in wenigen Wochen erzwungen: die unbedingte Autorität seiner Persönlichkeit; sie wirkte selbst hier noch, wo alle Bande der Ordnung gelöst waren. Er ließ den Sturm ruhig austoben; die schlanke Gestalt hoch aufgerichtet, das große Auge fest und klar auf die Menge gewendet, aus der jeder Einzelne ihm an Kraft überlegen war, und vor der ihn nichts schützte, als nur diese Autorität, stand er ihr allein und waffenlos gegenüber; aber er stand da, als müsse sich die brandende Woge der Empörung an ihm brechen.
Und sie brach sich wirklich. Das Toben verstummte allmählich; es ward zum Rufen, dann zum Murren; endlich legte sich auch dieses, und nun erhob sich Berkow’s Stimme, anfangs noch unverständlich in der ihn umfluthenden Bewegung, noch öfter unterbrochen durch den Tumult, der stoßweise immer wieder von Neuem anschwoll; aber ebenso oft sank er auch machtlos wieder zusammen, und endlich schwieg er ganz und man hörte nur die Stimme des jungen Chefs noch, die klar, laut und deutlich herübertönte und auch den am fernsten Stehenden vernehmbar blieb.
„Gott sei Dank!“ murmelte Schäffer, indem er sich die Stirn mit dem Taschentuche trocknete, „jetzt hat er sie im Zügel. Das knirscht noch und bäumt sich, aber es gehorcht! Sehen Sie nur, gnädige Frau, wie die Bewegung sich legt, wie Alles zurückweicht. Sie geben wahrhaftig die Terrasse frei – und da fallen auch die Steine zu Boden. Wenn der Himmel uns jetzt nur den Hartmann fernhält, so ist die Gefahr beseitigt.“
Er wußte nicht, mit welcher Todesangst Eugenie den Wunsch im Innern wiederholte. Bisher hatte sie immer noch in der Menge vergebens die eine gefürchtete Gestalt gesucht, und so lange die nicht sichtbar war, hielt sich ihr Muth noch aufrecht, so lange glaubte sie Arthur noch sicher; aber jetzt war es vorbei bei mit der Sicherheit und mit der Hoffnung. Ob das plötzliche Aufhören des Tobens, das er selbst mit vollster Absicht entfesselt, den Vermißten hergerufen, ob eine Ahnung dessen, was geschah, ihn im entscheidenden Augenblick herbeizog – wie aus der Erde emporgestiegen, stand Ulrich Hartmann plötzlich hinten am Parkgitter, und ein einziger Blick zeigte ihm, wie die Sache stand.
„Feiglinge, die Ihr seid!“ donnerte er seinen Cameraden zu, während er sich, von Lorenz und dem Steiger Wilms gefolgt, einen Weg durch die dicht geschlossenen Massen bahnte. „Ahnte ich’s doch beinahe, daß Ihr Euch hier wieder in seinen Netzen fangen laßt, während wir erkunden, wohin sie die Gefangenen gebracht haben. Wir haben es jetzt heraus! Dort im rechten Erker sind sie im Erdgeschoß, dicht hinter dem großen Saale; dorthin muß sich der Angriff richten. Schlagt die Spiegelfenster ein! so brauchen wir nicht erst die Thür zu stürmen.“
Noch gehorchte Niemand der Aufforderung, aber wirkungslos blieb sie nicht. Es giebt nichts Wankelmüthigeres, Willenloseres als eine aufgeregte Menge, die gewohnt ist, sich von der Entschlossenheit eines Mannes leiten zu lassen. In all’ dem Toben und Lärmen vorhin war doch eine gewisse Planlosigkeit und Unentschiedenheit gewesen, die es nicht zum directen Angriffe kommen ließ. Das Auge, der Arm des Führers hatte gefehlt; jetzt war er da, und in dem Augenblicke, wo seine Hand die Zügel wieder ergriff, gab er ihnen auch eine bestimmte Richtung. Man wußte jetzt, wo die Gefangenen sich befanden; man kannte den Weg zu ihnen – das weckte die kaum überwundene Gefahr auf’s Neue.
Ulrich kümmerte sich zwar im Augenblick nicht viel darum, ob seinem Befehle Folge geleistet wurde. Er hatte sich Bahn gebrochen bis zur Terrasse und stand jetzt dicht vor dem jungen Chef, mit dem ganzen Trotz und Stolz seiner unbändigen Natur, mit seiner riesenhaften Gestalt fast um Kopfeslänge hinausragend über alle die Anderen. Es war der geborene Führer der Massen, dessen wilde Energie, dessen despotischer Wille sie in blindem Gehorsam mit sich fortriß und der trotz Allem, was geschehen war und vielleicht noch geschah, doch für den Augenblick unumschränkt über sie gebot. Der ganze Sieg, den Arthur errungen hatte, war in Frage gestellt, wenn nicht vernichtet, durch das bloße Erscheinen dieses Mannes, dessen Persönlichkeit mindestens ebenso mächtig wirkte, wie die seinige.
„Wo sind unsere Cameraden?“ fragte Hartmann drohend, indem er noch dichter heran trat. „Wir wollen sie heraus haben, auf der Stelle! Wir leiden keine Gewaltthat gegen die Unserigen!“
„Und ich leide keine Zerstörung meiner Maschinen!“ unterbrach ihn Arthur mit kalter Ruhe. „Ich habe die Leute festnehmen lassen, obgleich sie nur das Werkzeug in fremder Hand waren. Wer befahl den Angriff auf die Maschinen?“
In Ulrich’s Augen blitzte es auf, furchtbar aber triumphirend; er hatte diese Festigkeit vorhergesehen und seinen Plan darauf gebaut. Er freilich brauchte keinen Vorwand mehr zum Angriffe, wo er seinen Haß um jeden Preis kühlen wollte, aber sein Anhang, der bereits wankte und fahnenflüchtig zu werden drohte, brauchte einen solchen; da galt es, die Schwankenden von Neuem aufzustacheln, und der Gegner war kühn und stolz genug, ihm den Anlaß dazu zu liefern.
„Ich brauche Ihnen nicht Rede zu stehen!“ rief er höhnisch, „und ich lasse mich überhaupt nicht mit dieser Gebietermiene verhören. Noch einmal: geben Sie die Gefangenen heraus! Die Knappschaft verlangt es, oder –“ sein Blick vollendete die Drohung.
„Die Gefangenen bleiben in Haft!“ erklärte Arthur unerschütterlich, „und Sie, Hartmann, haben überhaupt nicht mehr das Recht, im Namen der gesammten Knappschaft zu sprechen: mehr als die Hälfte hat sich bereits von Ihnen gewandt. Ich habe mit Ihnen nichts mehr zu reden!“
„Aber ich mit Ihnen!“ schrie Ulrich außer sich. „Zu unseren Cameraden!“ wandte er sich an die empörte Menge, „schlagt nieder, was sich Euch in den Weg stellt! Vorwärts!“
Er wollte sich als der Erste auf Berkow stürzen und damit das Zeichen zum Angriffe geben, aber noch ehe er Das vermochte, noch ehe es entschieden war, ob die Menge ihm Gehorsam leisten oder ihm denselben versagen würde, ertönte ein fremdartiger Laut, der den ganzen Umkreis erzittern machte und den wilden Führer entsetzt inne halten ließ, während er die Uebrigen in athemlosem Lauschen bannte. Es war wie ein ferner dumpfer Schlag, der aus den Tiefen der Erde zu kommen schien, und dem ein secundenlanges unterirdisches Rollen folgte; dann wurde es todtenstill, und Hunderte von schreckensbleichen Gesichtern wandten sich zu den Werken hinüber.
„Gott im Himmel! Das kam von den Schachten her; da ist etwas passirt!“ rief Lorenz auffahrend.
„Das war eine Explosion!“ tönte die Stimme des Oberingenieurs, der sich während der letzten kritischen Minuten bereits unten im Vestibül an die Spitze der jüngeren Beamten und der ganzen verfügbaren Dienerschaft gestellt hatte, um dem Chef zu Hülfe zu eilen. „In den Schachten ist ein Unglück geschehen, Herr Berkow! Wir müssen hinüber!“
Einen Augenblick lang schien der Schrecken noch Alles ringsum zu lähmen. Niemand rührte sich; die Mahnung war auch zu furchtbar. Gerade in dem Momente, wo die eine Partei sich verderbenbringend auf die andere werfen wollte, erreichte ein anderes Verderben ihre Brüder in der Tiefe da unten und rief sie gebieterisch vom Angriffe fort zur Rettung. Arthur war der Erste, der sich emporraffte.
„Nach den Schachten!“ rief er den Beamten zu, die jetzt aus dem Hause hervorstürzend ihn umringten, und gab selbst das Beispiel, indem er Allen voran nach den Werken hinüber eilte.
„Nach den Schachten!“ donnerte jetzt auch Ulrich den Bergleuten zu, aber der Befehl war nicht mehr nothwendig; schon stürzte die ganze Masse in wilder Hast nach der gleichen Richtung hin, an ihrer Spitze der Führer; er und Berkow waren die Ersten, die fast gleichzeitig die Werke erreichten.
Dort gab sich äußerlich noch nichts kund von der Wirkung des zerstörenden Elementes, nur die dichte Rauchsäule, die aus den Schachten empor quoll, verkündete, was geschehen war, aber sie sagte genug. In weniger als zehn Minuten war der ganze Umkreis gefüllt mit Menschen, deren anfänglich stummes Entsetzen jetzt den lauten Ausbrüchen der Angst, des Schreckens, der Verzweiflung wich. Es ist etwas Erschütterndes und doch zugleich etwas Erhebendes um solch ein großes Unglück, das nicht von Menschenhand kommt, denn es rettet fast immer die Ehre der Menschennatur und reinigt sie von all’ den schlimmen Leidenschaften, welche sie sonst entstellen und verdunkeln. Der Umschlag in der allgemeinen Stimmung vollzog sich hier so plötzlich, so blitzähnlich, daß es nicht mehr dieselbe Menge zu sein schien, die noch vor wenigen Minuten das Haus umtobt und mit Wuth und Zerstörung, vielleicht mit Mord gedroht hatte, weil ihrem wilden Verlangen nicht nachgegeben wurde. Streit, Feindschaft, mondenlang genährter Haß, das Alles ging jetzt unter in dem einen Gedanken der Rettung; zu dieser Rettung drängten sich Bergleute und Beamte, Freund und Feind heran, und gerade die wildesten der Empörer waren die Ersten voran. Vor einer Stunde noch hatten sie ihre Cameraden bedroht, angegriffen, und hätten sie niedergeschlagen, wäre es nicht gerade der Vater ihres Führers gewesen, der die Schicht leitete, und jetzt, wo eben diese Cameraden in Todesgefahr schwebten, jetzt hätte ein Jeder sein Leben eingesetzt, um ihnen Hülfe zu bringen – die furchtbare Mahnung hatte gefruchtet.
„Zurück!“ trat Arthur gebietend den wild und planlos Anstürmenden entgegen. „Ihr könnt jetzt noch nicht helfen. Ihr hindert nur die Anfahrt der Beamten. Es muß erst festgestellt werden, wo und wie wir eindringen können. Laßt die Ingenieure vor!“
„Laßt die Ingenieure vor!“ wiederholten die Vordersten; der Ruf pflanzte sich fort durch die Reihen und in der dichtgekeilten Menge öffnete sich sofort eine Gasse für den Oberingenieur, der mit seinen Untergebenen bereits zur Stelle war; sie kamen von der entgegengesetzten Richtung her.
„Da drüben ist das Eindringen eine Unmöglichkeit,“ sagte der Beamte zu Arthur, indem er nach dem unteren Schachte hinüber zeigte, der mit dem oberen in Verbindung stand und aus dessen Oeffnung Rauch und Qualm in mächtigen Säulen empor stiegen. „Wir haben nicht einmal den Versuch wagen können, denn in dem Höllenbrodem da drinnen vermag nichts Menschliches zu athmen. Hartmann wagte es, aber nach sechs Schritten schon mußte er halb erstickt wieder zurück und konnte gerade noch den Lorenz mit herausreißen, der ihm gefolgt, aber schon am Eingange niedergestürzt war. Unsere einzige Hoffnung bleibt der obere Förderschacht, vielleicht haben sie sich dorthin gerettet. Setzt die Maschine in Gang! Wir müssen dort hinunter.“
Der Maschinenmeister, an den die letzten Worte gerichtet waren, und der bleich und verstört daneben stand, machte keine Anstalt, zu gehorchen.
„Die Maschine versagt den Dienst!“ berichtete er angstvoll, schon seit fast einer Stunde. Ich habe es hinüber melden wollen; denn die Herren waren ja alle drüben im Hause – aber mein Bote konnte durch den Tumult nicht hindurch, und ich dachte, im schlimmsten Falle bliebe den Schichtleuten ja noch der Ausgang durch den unteren Schacht. Wir mühen uns schon lange vergebens ab mit der Maschine, sie ist nicht vom Flecke zu bringen.“
„Himmel und Erde! das fehlte uns nur noch,“ rief der Oberingenieur, in das Schachtgebäude stürzend.
„Aber der Fahrschacht!“ wandte sich Arthur hastig an den Director, „können wir nicht dort hinunter?“
Der Gefragte schüttelte den Kopf. „Der Fahrschacht ist unzugänglich seit heute Morgen. Sie wissen es ja, Herr Berkow, Hartmann hat all die oberen Leitern zertrümmern lassen, weil er um jeden Preis die Anfahrt hindern wollte. Es gelang ihm nicht; die Leute gingen im Förderschacht hinunter, und das ist augenblicklich unser einziger Zugang zu der Tiefe.“
Jetzt erschien auch Ulrich mit Wilms und mehreren seiner gewöhnlichen Begleiter. „Dort unten geht’s nicht,“ rief er seinen Cameraden zu, während er sich Bahn durch ihre Reihen machte. „Wir opfern nutzlos das Leben, und wir brauchen es nothwendiger zur Hülfe. Vielleicht ist’s hier oben möglich. Warum arbeitet die Maschine nicht? Wir müssen mit der Förderschale hinunter.“
Er wollte stürmisch zum Schachtgebäude vordringen und stand plötzlich vor dem jungen Chef, der ihm finster entgegentrat.
„Die Maschine versagt den Dienst,“ sagte er laut und scharf, „schon seit einer Stunde, und vor zehn Minuten erst ist das Unglück geschehen. Das steht in keiner Beziehung miteinander, aber gerade vor einer Stunde war es, wo wir Ihre drei Abgeschickten ergriffen. Was ist da vorgegangen, Hartmann?“
Ulrich taumelte zurück, als habe er einen Schlag empfangen. „Ich hab’ es widerrufen,“ stieß er hervor, „im Augenblick, als mein Vater drunten war und die Uebrigen folgten. Ich kam selbst, es zu hindern – da hatten sie es schon gethan. Das habe ich nicht gewollt; bei Gott, das nicht!“
Arthur wandte sich von ihm und zu einem der eben heraustretenden Ingenieure. „Nun, wie steht es?“ fragte er hastig.
Der Beamte zuckte die Achseln. „Die Maschine weigert sich, zu gehorchen. Noch haben wir nicht herausfinden können, woran es liegt, an der Explosion sicher nicht; sie kam fast eine Stunde später und die Schachtgebäude sind ganz unberührt davon. Die Beschädigung kam von Menschenhand; wir müssen heute Morgen trotz der sofortigen Untersuchung irgend etwas übersehen haben. Glückt es nicht, das Werk wieder in Gang zu bringen, so ist der sofortige Zugang in die Tiefe uns verschlossen, und die da unten sind rettungslos verloren, der Schichtmeister Hartmann mit!“
Er hatte bei den letzten Worten die Stimme erhoben und das Auge auf Ulrich gerichtet, der, Leichenblässe im Gesicht, stumm und regungslos dastand; jetzt aber zuckte er zusammen und machte eine heftige Bewegung vorwärts. Arthur vertrat ihm den Weg.
„Wohin?“
„Ich muß hinauf,“ keuchte der junge Steiger, „ich muß helfen. Lassen Sie mich los, Heer Berkow! Ich muß, sage ich Ihnen.“
„Sie können nicht helfen,“ unterbrach ihn Arthur bitter. „Mit den bloßen Armen ist hier nichts gethan. Zerstören konntet Ihr und uns die Gefahr verzehnfachen. Das Wiederherstellen überlaßt den Beamten! Sie allein können uns die Rettung ermöglichen und sie dürfen in ihrer Arbeit weder gestört noch gehindert werden. Lassen Sie den Raum absperren, Herr Director, und Sie, Herr Wilberg, schaffen Sie sofort die drei Gefangenen zur Stelle! Die Leute müssen doch wissen, wo sie Hand angelegt haben. Vielleicht können sie den Ingenieuren einen Fingerzeig geben. Eilen Sie!“
Wilberg gehorchte, und auch der Director machte Anstalt, die befohlene Maßregel auszuführen. Er fand keinen Widerstand dabei. Die Menge wußte, was jetzt von der Thätigkeit der Beamten abhing; sie gehorchte willig. Sie fühlten Alle etwas von der Wahrheit jener Worte, die Arthur einst der trotzigen Herausforderung ihres Führers entgegengeschleudert: „Versucht’s, wenn Euch das so sehr gehaßte Element fehlt, das Eueren Armen die Richtung, Eueren Maschinen die Triebkraft, Euerer Arbeit den Geist giebt!“ Hier waren Hunderte von Armen, Hunderte von Kräften zum Helfen bereit, und Keiner konnte den Arm heben, Keiner die Kraft einsetzen; die ganze Macht, die ganze Möglichkeit der Rettung lag in den Händen der Wenigen, die auch hier wieder den Geist herleihen mußten, um vielleicht noch Hülfe zu bringen, wo die Menge mitsammt ihrem Anführer nichts konnte als sich höchstens blind in einen gewissen Tod stürzen. Diese so gehaßten, so oft geschmähten Beamten! An ihnen hingen jetzt alle Blicke, um sie drängte sich Alles, wenn einer von ihnen sichtbar wurde; man hätte sie und ihre Arbeit jetzt geschützt um jeden Preis, wenn sie des Schutzes bedurft hätten.
Minute auf Minute verrann in ängstlichem, qualvollem Harren. Wilberg war längst mit den drei Gefangenen zurück, die man drüben im Hause in einem der Räume des Erdgeschosses eingeschlossen hatte. Die Leute wußten, was geschehen war; sie kamen in athemloser Hast, wie all die übrigen, um wie diese rathlos und verzweifelt dazustehen. Man bedurfte ihrer nicht mehr; denn der Grund der Stockung in der Maschine war bereits gefunden. Die Beschädigung erwies sich als unbedeutend und die sofortige Herstellung als möglich. Die Ingenieure unter Leitung ihres Vorgesetzten boten alle Kräfte dazu auf, während man draußen den Rettungsplan organisirte und Vorkehrungen zur Ausführung traf, während man immer wieder von Neuem und immer wieder vergebens versuchte, sich von der anderen Seite her einen Zugang in die Schachte zu schaffen. Die Gefahr hatte wie mit einem Schlage die gelösten Bande der Disciplin wieder fest geknüpft. Alles gehorchte und gehorchte besser und schneller, als je vor dem Ausbruche des Streites.
Aber mehr als alle Uebrigen leistete der Chef selbst. Ueberall war sein Auge, seine Stimme; überall wußte er einzugreifen, anzufeuern. Arthur besaß wenig oder nichts von den Kenntnissen und Erfahrungen, die gerade hier am Platze gewesen wären; man hatte den jungen Erben der Werke in der vollsten Unwissenheit dessen erzogen, was ihm am meisten zu wissen nöthig war; aber Eins besaß er, was sich nun freilich nicht erziehen und nicht erlernen läßt, das Genie des Befehlens, und das that hier gerade noth, wo der einzige Energische der Beamten, der Oberingenieur, drinnen bei den Maschinen festgehalten wurde und der Director und die Uebrigen, halb betäubt von dem schnellen Wechsel der Verhältnisse und von der Katastrophe selber, ungeachtet ihrer Kenntnisse, Erfahrungen und Fähigkeiten doch alle Geistesgegenwart verloren hatten. Arthur war es, der sie ihnen zurückgab, der mit schnellem Ueberblick Jeden auf den richtigen Platz stellte und ihn dort anspornte, das Aeußerste zu leisten, dessen er überhaupt fähig war, der mit seiner Energie Alles fortriß und entflammte. Der so lange von seiner Umgebung und von ihm selbst am meisten verkannte Charakter des jungen Mannes hatte sich nie so glänzend bewährt wie in diesen Stunden der Gefahr.
Da endlich ertönte das schwer ächzende Geräusch, mit dem die Maschine zur Arbeit einsetzte; dann folgte ihr Schnauben und Stöhnen, anfangs noch stoßweise und unterbrochen, dann in regelmäßigen Zwischenräumen; das Werk hob und senkte sich mit dem alten Gehorsam. Der Oberingenieur trat zu Berkow; aber sein Gesicht war nicht heller geworden.
„Die Maschine gehorcht wieder,“ sagte er ernst; „aber ich fürchte, es ist zu spät oder zu früh zur Anfahrt. Der Dampf quillt jetzt auch hier empor; die Wetter müssen weiter vorgedrungen sein. Wir werden warten müssen.“
Arthur machte eine heftige Bewegung. „Warten? Wir haben schon eine volle Stunde gewartet, und an jeder Minute kann das Leben der Verunglückten hängen. Halten Sie es für möglich, den Förderschacht überhaupt zu passiren?“
„Möglich ist’s vielleicht; es scheint nur Dampf zu sein, der da aufsteigt; aber es riskirt Jeder sein Leben, der jetzt schon hinunter will. Ich würde es nicht wagen.“
„Aber ich!“ tönte Ulrich’s Stimme mit finsterer Entschlossenheit. Er war in dem Moment, wo die Maschine zu arbeiten begann, gewaltsam vorwärts gedrungen und stand jetzt bereits an der Förderschale.
„Ich fahre an!“ wiederholte er, „aber Einer nützt nichts da unten. Ich muß Hülfe haben. Wer geht mit?“
Niemand antwortete; Jeder schien zurückzubeben vor der Fahrt in den dampfenden Schlund hinab. Sie hatten es Alle gesehen, wie die Muthigen, die auf den anderen Zugängen einzudringen versuchten, zurücktaumelten oder niederstürzten, Lorenz lag noch besinnungslos da von einem Wagniß, das sein stärkerer Gefährte ohne Schaden überstanden hatte; aber diesem Gefährten jetzt auf einem Wege zu folgen, wo Umkehr und Rückzug fast unmöglich waren, die Kühnheit besaß Keiner.
„Niemand?“ fragte Ulrich nach einer Pause. „Gut denn, so gehe ich allein! Gebt das Zeichen!“
Er sprang in das Gefäß; aber plötzlich legte sich eine schmale weiße Hand auf den geschwärzten Rand desselben, und eine klare Stimme sagte fest: „Warten Sie, Hartmann! Ich begleite Sie.“
Ein Schrei des Entsetzens von den Lippen der sämmtlichen anwesenden Beamten beantwortete den Entschluß; von allen Seiten gab sich eine stürmische Opposition kund.
„Um Gotteswillen, Herr Berkow! Sie opfern nutzlos Ihr Leben. Sie können nichts helfen.“ So tönte es durcheinander in allen Tonarten des Schreckens und der Angst.
Arthur richtete sich empor; das volle mächtige Selbstbewußtsein des Herrn und Gebieters leuchtete aus seinen Zügen.
„Es geschieht nicht der Hülfe, es geschieht des Beispiels wegen. Wenn ich anfahre, folgt Alles. Sichern Sie uns hier oben nach Kräften die Rettung, Herr Oberingenieur; der Director mag draußen für die Ordnung sorgen. Ich kann für den Augenblick nichts weiter als den Leuten Muth geben, und das denke ich zu thun.“
„Aber nicht allein und nicht mit Hartmann,“ rief der Oberingenieur, ihn fast zurückreißend. „Wahren Sie sich, Herr Berkow! Es ist dasselbe Werk und dieselbe Begleitung, die Ihrem Vater tödtlich wurde – auch Ihnen könnte da unten mehr drohen, als nur die empörten Wetter.“
Es war das erste Mal, daß die Beschuldigung offen und laut vor all den Zeugen hingeschleudert wurde, und wenn sich auch Keiner von Diesen ihr anzuschließen wagte, ihre Gesichter verriethen, daß sie dieselbe im vollsten Maße theilten. Ulrich stand noch an seinem Platze, ohne Laut, ohne Bewegung; er widersprach nicht und vertheidigte sich nicht; nur das Auge hatte er starr und unverwandt auf den jungen Chef gerichtet, als erwarte er aus dessen Munde allein Lossprechung oder Verdammung.
Arthur’s Blick begegnete dem seinigen – nur eine Secunde lang, dann wand er sich los von den kräftigen Armen, die ihn zurückhalten wollten.
„Da unten in der Tiefe sind mehr als Hundert verloren, wenn wir nicht Hülfe bringen, und da, denke ich, wird sich wohl keine Hand anders heben, als zur Rettung. Geben Sie das Zeichen! Ihren Arm, Hartmann! Sie müssen mir helfen!“
Mit einer zuckenden Bewegung streckte Ulrich den Arm aus, um die gebotene Hülfe zu leisten. In der nächsten Minute stand Arthur bereits an seiner Seite.
„Sobald wir glücklich unten sind, senden Sie uns nach, was folgen will und kann. Glück auf!“
„Glück auf!“ wiederholte Ulrich dumpf, aber mit der gleichen Festigkeit. Er klang schaurig, fast geisterhaft, dieser Gruß, den die beiden Männer der Tiefe entgegenriefen, welche sie jetzt aufnahm. Die Maschine setzte ein, und die Förderschale sank langsam. Die Obenstehenden sahen nur noch, wie der junge Chef, schwindelnd von der ungewohnten Fahrt, betäubt von dem zum Glück nur schwach aufsteigenden Dampfe, seitwärts schwankte und wie Hartmann mit einer raschen Bewegung den Arm um ihn legte und ihn kraftvoll aufrecht hielt – dann verschwanden Beide in dem dampfenden Schlunde.
Arthur hatte Recht; sein Vorgehen entschied Alles, wo das Ulrich’s wirkungslos blieb. Man war es gewohnt, daß der Steiger Hartmann um viel geringerer Veranlassung willen sein Leben tollkühn in die Schanze schlug und es stets unverletzt davontrug, so daß sich bei seinen Cameraden bereits eine Art von Aberglauben gebildet hatte, es könne ihm keine Gefahr etwas anhaben. Er war es, der den Fahrschacht unzugänglich gemacht, der durch sein Attentat auf die Maschinen die Hülfe um mehr als eine Stunde verzögert hatte, und sein Vater war drunten mit den Uebrigen, vielleicht durch ihn verloren – da war es selbstverständlich, daß er sich ohne Zögern in ein Wagniß stürzte, das wohl Keiner theilen wollte. Aber als der Chef das Beispiel dazu gab, der verwöhnte, vornehme Mann, der seine Schachte nie betreten hatte, als sie verhältnißmäßig sicher waren, und der jetzt eindrang, wo sie Jedem Verderben drohten, als der voranging, da folgte Alles. Die Nächsten waren die drei Bergleute, die heut Morgen Hand an die Maschinen gelegt hatten und die jetzt unter Leitung eines der Ingenieure anfuhren. Dann kamen neue und immer neue Helfer; es bedurfte keines Aufrufs, keiner Aufforderung. Der Oberingenieur mußte bald genug die Andrängenden abwehren, weil nur ein Theil der Leute zu den Rettungsarbeiten zugelassen werden konnte.
Stunde auf Stunde verging; die Sonne hatte längst die Mittagshöhe erreicht, längst sie wieder verlassen – und noch immer rang da unten im Schoße der Erde Menschengeist und Menschenwille mit den empörten Elementen, um ihnen ihre Opfer zu entreißen. Es war ein Kampf, furchtbarer als je einer im Lichte des Tages ausgefochten wurde: jeder Fuß breit mußte erst erobert, jeder Schritt erst der Todesgefahr abgerungen werden, um das Vordringen zu ermöglichen, aber man drang dennoch vor, und es schien, als sollten die unerhörten Anstrengungen auch unerhört belohnt werden. Man hatte bereits Fühlung mit den Verunglückten; man hoffte sie zu retten; denn noch lebten sie, oder doch wenigstens ein Theil von ihnen. Ein glücklicher Zufall, das Auffinden zweier in der Hast des Forteilens verlorener oder weggeworfener Blenden, hatte auf die richtige Spur geleitet. Die Explosion schien den oberen Schacht nur theilweise berührt und die Bergleute schienen sich noch zeitig genug in einen der sicheren Seitenstollen geflüchtet zu haben, wo die Wetter sie nicht erreichten, wo aber ein theilweiser Einsturz der vorderen Strecke sie verschüttet und von den Ausgängen abgeschnitten hatte. Es galt jetzt, sich bis zu ihnen hindurchzuarbeiten, auf einem Wege, der den Rettern wenigstens die Möglichkeit des Athmens ließ, und zur Ausführung des schnell und umsichtig entworfenen Rettungsplanes wurden jetzt alle Kräfte aufgeboten.
„Und wenn die ganze Erde drauf läge, wir müssen zu ihnen!“ hatte Ulrich ausgerufen, als man die erste Spur fand, und das war das Losungswort geworden, das sich Jeder wiederholte. Da war auch nicht Einer, der zurückwich, nicht Einer, der sich der gefährlichen Pflicht entzog, wohin man ihn auch stellte, und doch hielt bei Vielen die Kraft nicht gleichen Schritt mit dem Eifer, doch mußte Mancher, erschöpft und halbbetäubt, zurückgesandt und durch neue Helfer ersetzt werden, wollte man die Zahl der Opfer nicht noch vermehren. Nur Zwei waren es, die nichts rührte und nichts ermüdete, Ulrich Hartmann mit seinem eisernen Körper und Arthur Berkow mit seinem eisernen Willen, der dem verwöhnten zartgebauten Manne heute Nerven wie von Stahl lieh, und ihn ausdauern ließ in Umgebungen und Gefahren, denen sich so viele Stärkere nicht gewachsen zeigten. Die Beiden hielten aus; Seite an Seite drangen sie vor, immer voran, immer die Ersten. Wo Ulrich’s Riesenkraft das fast Unglaubliche leistete und Hindernisse bewältigte, die für Menschenhände unüberwindlich schienen, da genügte es bei dem „Herrn“ schon, daß er an der Spitze stand, daß er überhaupt da war. Er konnte in der That nicht viel mehr thun, als den Arbeitern Muth geben zu ihrem Werke, aber er gab genug damit, mehr als seine Arme hätten leisten können. Schon dreimal hatte die Hand seines kundigeren Gefährten ihn zurückgerissen, wenn er, unbekannt mit den Gefahren der Schachte, sich zu unvorsichtig aussetzte; schon oft hatten ihn die Ingenieure gebeten, umzukehren, jetzt wo Leute genug zur Hülfe und Beamte genug zur Leitung da waren; Arthur verweigerte es jedes Mal mit vollster Entschiedenheit. Er fühlte, was von seinem Bleiben unter diesen Menschen abhing, die von Aufruhr und Empörung zur Rettung fortgeeilt waren. Sie sahen Alle auf ihren Chef, der, seit er überhaupt zur Selbstständigkeit erwacht war, nur immer gegen sie gestanden hatte, und der heute zum ersten Mal mit ihnen stand in Noth und Tod, der gleich dem Geringsten von ihnen sein Leben aussetzte, gleich ihnen ein junges Weib da oben in Todesangst zurückließ. In diesen Stunden gemeinsamer Arbeit und Gefahr, da wurde es endlich erzwungen, was man dem Sohne und Erben eines Berkow so lange und so hartnäckig verweigert, das Vertrauen. Da unten in der Tiefe der Felsenschachte wurde der alte Haß und die alte Zwietracht begraben, da endigte der Streit. Arthur wußte, daß es sich hier für ihn um mehr handelte, als nur um ein Wagniß, das jeder Andere an seiner Stelle leisten konnte, wußte, daß er sich mit diesem Ausharren die Zukunft seiner Werke und seine eigene Zukunft erkämpfte, und um diesen Preis ließ er Eugenien oben in ihrer Angst allein und blieb.
So ging es fort mit unermüdeter Thatkraft und unermüdeter Ausdauer; man drang vor, langsam, Schritt für Schritt, aber man drang vor, und endlich beugten sich die tückischen Gewalten der Tiefe dem Menschenwillen, der sich Bahn gebrochen zu seinen Brüdern dort unten. Als die Sonne sich droben zum Untergange neigte, da war der Weg gefunden, da wurden die Geretteten emporgehoben zum Lichte des Tages, zwar verletzt, halb erstickt, betäubt von Schrecken und Todesangst, aber doch lebend, und ihnen folgten, gleichfalls zum Tode erschöpft, die Retter. Die beiden Ersten bei dem kühnen Unternehmen, der Chef und Hartmann, sie waren die Letzten beim Rückzuge, sie wollten nicht eher weichen, bis sich Alles in Sicherheit befand.
„Ich weiß nicht, was das bedeuten soll, daß der Herr und Hartmann noch immer da unten zögern,“ sagte der Oberingenieur unruhig zu den ihn umgebenden Beamten. „Sie waren doch bereits am Ausgange, als die Letzten zu Tage fuhren, und Hartmann kennt doch wahrlich die Gefahren der Schachte hinreichend, um auch nur einen Augenblick länger zu verweilen, als die Nothwendigkeit gebietet. Noch immer wartet die Förderschale dort unten; sie geben kein Zeichen, beantworten keins unserer Signale – was soll das heißen?“
„Wenn nur nicht im letzten Moment noch irgend ein Unglück geschehen ist!“ meinte Wilberg ängstlich. „Es klang mir vorhin so seltsam im Schachte, gerade als die Letzten hier oben ankamen. Die Entfernung war zu groß und das Geräusch der Maschine zu laut, um es mich deutlich unterscheiden zu lassen, aber das ganze Erdreich ist erschüttert – wenn da nur nicht irgend ein Nachsturz erfolgt ist!“
„Um Gotteswillen, da könnten Sie Recht haben!“ rief der Oberingenieur. „Gebt noch einmal mit vollster Kraft die Signale! Bleiben die unbeantwortet, so müssen wir wieder hinunter und nachsehen, was da passirt ist.“
Aber noch ehe er oder die Anderen diesen Entschluß ausführen konnten, wurde drunten rasch und heftig das Zeichen zum Heraufziehen gegeben. Die Obenstehenden athmeten auf und traten näher an die Oeffnung heran, in der auch nach kurzem Harren die Förderschale erschien. Ulrich stand in derselben, das Antlitz entstellt und geschwärzt vom Schweiß und Staub der furchtbaren Arbeit in den Schachten, die Kleidung zerfetzt, zerrissen, bedeckt mit Erde und Steintrümmern, während ihm von Stirn und Schläfen das Blut niederrieselte. Wie bei der Einfahrt hielt er den jungen Chef umfaßt, aber diesmal stützte er nicht blos einen Wankenden; Arthur’s Haupt lag todtenbleich mit geschlossenen Augen auf seiner Schulter, und seine Gestalt hing unbeweglich und leblos in den Armen, welche sie mit Anstrengung aller Kräfte aufrecht erhielten.
Ein Ruf des Schreckens tönte von allen Seiten. Man wartete kaum, bis die Maschine still stand. Mehr als zwanzig Arme streckten sich aus, den Besinnungslosen in Empfang zu nehmen und ihn zu seiner Gattin zu tragen, die, gleich all’ den Uebrigen, während der ganzen Zeit nicht von der Stätte des Unglücks gewichen war. Alles umdrängte die Beiden. Man rief nach Hülfe, nach dem Arzte, und Niemand achtete in der allgemeinen Verwirrung auf Ulrich, der es seltsam still und willenlos hatte geschehen lassen, daß man die Last aus seinen Armen nahm. Er sprang nicht mit seinen gewohnten raschen und energischen Bewegungen aus der Förderschale; langsam, mühsam stieg er aus und mußte sich zweimal an den Ketten festhalten, um nicht umzusinken. Er gab auch jetzt noch keinen Laut von sich, aber die Zähne des jungen Bergmanns waren wie in wüthendem Schmerze aufeinander gebissen, und das Blut strömte stärker, wenn man auch unter der dicken Staubschicht nicht sehen konnte, daß sein Gesicht an Leichenblässe dem des jungen Chefs nichts nachgab. Er ging schwankend noch einige Schritte vorwärts, bis in die Nähe der Gruppe, die sich um Arthur drängte, dann hielt er plötzlich inne und umfaßte krampfhaft mit beiden Armen einen der beiden Pfeiler des Gebäudes, um sich daran aufrecht zu erhalten.
„Beruhigen Sie sich, gnädige Frau! Es ist ja nur eine Ohnmacht,“ tröstete der Arzt, der, bei den Verunglückten beschäftigt, sofort hergeeilt war. „Ich finde nicht die geringste Verletzung an dem Herrn; er wird sich erholen.“
Eugenie hörte nicht auf den Trost; sie sah nur das bleiche Antlitz mit den geschlossenen Augen, nur die hingestreckte Gestalt, die kein Lebenszeichen von sich gab. Es hatte eine Zeit gegeben, wo die junge Frau als Neuvermählte, wenige Stunden nach ihrer Trauung, als eine fremde Hand sie der Gefahr entriß und sie noch in Ungewißheit über das Schicksal ihres Gatten schwebte, mit kühler Besonnenheit und Ruhe zu ihrem Retter gesagt hatte: „Sehen Sie nach Herrn Berkow!“ Was Kälte und Verachtung damals gesündigt, das freilich war mehr als gesühnt durch die Qual dieser letzten Stunden, in denen sie erfahren hatte, was es heißt, für das Geliebte zu zittern, ohne ihm helfen zu können, ohne ihm auch nur nahe zu sein. Jetzt sandte und ließ sie keinen Anderen an seine Seite; jetzt lag sie auf den Knieen neben ihm und rief wie jede andere Frau in Todesangst den Namen ihres Mannes:
„Arthur!“
Es war ein Schrei der leidenschaftlichsten Liebe, der vollsten Verzweiflung, und bei diesem Aufschrei ging ein leises schmerzliches Zucken durch die Gestalt des jungen Bergmannes, der noch immer am Pfeiler lehnte, und der sich aufrichtete bei diesem Ton. Noch einmal wandten sich die finsteren blauen Augen hinüber zu den Beiden, aber es lag nichts mehr von dem alten Trotz und Haß darin, nur ein stummes tiefes Weh; dann umschleierte sich der Blick; die Hand hob sich, nicht nach der blutenden Stirn, sondern nach der Brust, wo doch keine Verletzung war, aber sie preßte sich so fest darauf, als wühle dort der schlimmere Schmerz, und in demselben Augenblicke, wo Arthur in den Armen seines Weibes das Auge aufschlug, stürzte Ulrich hinter ihnen zusammen. – – –
Obgleich jetzt auch die Letzten dem Schachte entstiegen waren, blieb es doch seltsam still und bang in der versammelten Menge. Kein Jubel, keine Freudenbezeigungen gaben sich kund; der Anblick der Geretteten verbot sie. Man wußte ja noch nicht, wer von ihnen wirklich dem Leben erhalten blieb, und ob der Tod nicht noch die ihm mühsam entrissenen Opfer zurückverlangte. Der junge Chef hatte sich schneller von seiner Ohnmacht erholt, als man geglaubt. Es war in der That ein Nachsturz des schwer erschütterten Erdreiches gewesen, der ihn und seinen Gefährten noch im letzten Augenblick getroffen, aber wunderbarer Weise hatte Arthur nicht die geringste Verletzung davon getragen; er stand bereits wieder aufrecht, wenn auch noch matt und bleich, auf den Arm seiner Gattin gestützt, und bemühte sich, seine Erinnerungen zu sammeln, um Eugeniens angstvolle Fragen zu beantworten.
„Wir befanden uns bereits am Ausgange des Schachtes. Hartmann war einige Schritte vorauf und somit schon in Sicherheit; da muß er irgend ein Anzeichen der Gefahr bemerkt haben. Ich sah ihn plötzlich zu mir zurückstürzen und meinen Arm ergreifen, aber es war zu spät; schon wankte Alles um und über uns. Ich fühlte nur noch, wie er mich zu Boden riß und sich über mich warf, fühlte, wie er mich mit seinem eigenen Körper gegen die herabstürzenden Trümmer deckte – dann vergingen mir die Sinne.“
Eugenie gab keine Antwort; sie hatte die Nähe dieses Mannes so unendlich gefürchtet, hatte so namenlos gezittert, als sie hörte, daß Arthur in seiner Begleitung das Wagniß unternommen, und jetzt dankte sie es dieser Nähe allein, daß sie den Gatten lebend und gerettet in ihren Armen hielt.
Der Oberingenieur näherte sich den Beiden. Sein Gesicht war sehr ernst, und auch seine Stimme hatte einen tiefernsten Klang, als er sagte: „Der Arzt meint, sie würden Alle gerettet werden, nur der eine, der Hartmann nicht – bei dem ist jede Hülfe umsonst! Was er heute da unten in den Schachten geleistet, das war zu viel, selbst für seine Riesennatur, und die Wunde hat dann noch das Uebrige gethan. Wie er es möglich gemacht hat, trotz dieser schweren Verwundung sich und Sie, Herr Berkow, aus den Trümmern emporzuarbeiten, Sie in die Förderschale zu heben und festzuhalten, bis Sie in Sicherheit waren, das ist fast nicht zu begreifen, und war eben auch nur ihm möglich. Er hat es gethan, aber er wird es auch mit dem Leben bezahlen!“
Arthur sah seine Gattin an; ihre Blicke begegneten und verstanden sich. Er raffte sich trotz seiner Erschöpfung empor und die Hand Eugeniens ergreifend, zog er sie fort nach dem Platze, wo den Verunglückten die erste, reichlich gebotene Hülfe zu Theil ward. Nur einen, den letzten, hatte man abseits getragen. Ulrich lag auf dem Boden ausgestreckt; sein Vater war noch nicht wieder zur Besinnung zurückgekehrt und wußte nichts von dem Schicksal des Sohnes, aber dieser war deshalb nicht allein oder nur von fremder Hülfe umgeben; an seiner Seite kniete ein junges Mädchen, das den Kopf des Sterbenden in ihren Armen hielt und mit dem Ausdruck herzzerreißender Angst in seine Züge blickte, ohne auf ihren Bräutigam zu achten, der an der andern Seite stand und die erkaltende Hand des Freundes gefaßt hatte. Ulrich sah beide nicht, wußte vielleicht gar nicht mehr, daß sie bei ihm waren; sein Auge war groß und starr auf den flammenden Abendhimmel, auf die sinkende Sonne gerichtet, als wolle es noch einen Strahl des ewigen Lichtes einsaugen und mit hinübernehmen in die lange düstere Nacht.
Arthur hatte eine halblaute Frage an den gleichfalls anwesenden Arzt gerichtet; dieser antwortete mit einem stummen Achselzucken – der junge Chef wußte genug. Die Hand seiner Gattin loslassend, flüsterte er ihr einige Worte in’s Ohr und trat dann zurück, während Eugenie sich zu Ulrich niederbeugte und seinen Namen nannte.
Da flammte es noch einmal mitten durch den Nebel des Todes mächtig auf; die ganze Gluth und Leidenschaft des Lebens drängte sich für einen Moment nochmals zusammen in diesem Blick, den er mit dem Ausdruck des vollsten Bewußtseins auf die junge Frau richtete, deren Lippen jetzt eine bange leise Frage aussprachen:
„Hartmann! Sind Sie schwer verwundet?“
Das Weh von vorhin zuckte wieder über sein Antlitz; die Stimme klang dumpf, gebrochen, aber ruhig. „Was fragen Sie nach mir? Sie haben ihn ja wieder. Was brauche ich da noch zu leben! – Ich hab’s Ihnen ja vorher gesagt: Er oder ich! Ich meinte es freilich anders, aber das war’s doch, was mir durch den Kopf fuhr, als die Wand stürzte. Da dachte ich an Sie und Ihren Jammer, und dachte daran, daß er mir da oben die Hand gereicht hatte, als sonst Niemand sie wollte, und da – da warf ich mich über ihn!“
Er sank zurück; der aufflammende Funke erlosch schnell in der Anstrengung des Sprechens, aber dieses wilde glühende Leben verblutete sich im Tode ruhig, ohne Kampf und Qual. Der Mann, dessen ganzes Dasein nur Haß und Kampf war gegen die, die das Schicksal über ihn gestellt, er hatte in der Rettung des Gehaßten sein Ende gefunden. Die Ahnung war zur Wahrheit geworden, die das Wasser ihm gestern zurauschte; es hatte aus der Tiefe der Schachte hervor dem Opfer den Todesgruß gebracht. Er brauchte nicht mehr über dieses „morgen“ hinauszublicken, das sich so dicht vor ihm verschleierte; es war Alles zu Ende für ihn mit diesem „morgen“ – Alles!
Drüben von der Landstraße her tönte der tactmäßige Schritt einer vorrückenden Menge, tönten Commandoworte und Waffenklirren; die aus der Stadt erbetene und erwartete Hülfe gegen den Aufruhr war eingetroffen. Schon beim Betreten der Colonie hatte der befehlshabende Officier erfahren, was hier geschehen war; er ließ seine Leute drüben auf der Chaussee Halt machen und kam, nur von einigen begleitet, hinüber auf den Schauplatz des Unglücks, wo er den Chef zu sprechen verlangte. Arthur trat ihm entgegen.
„Ich danke Ihnen, mein Herr,“ sagte er mit ruhigem Ernste. „Aber Sie kommen zu spät; ich bedarf Ihrer Hülfe nicht gegen meine Leute. In einem gemeinsamen zehnstündigen Kampfe um das Leben der Unsrigen haben wir Frieden miteinander gemacht – hoffentlich für immer!“