Читать книгу Ich träum von dir... - Ellen Sommer - Страница 14
ОглавлениеChris
Herr Hofmann war eine harte Nuss. Ich versuchte, zwei Freistunden für mich und Lille herauszuschlagen, damit wir nach dem Konzert nicht so früh aufstehen mussten und wenigstens für den Rest des Unterrichtstages fit zu sein, aber so einfach war das nicht. „Chris, ich kann euch beiden doch nicht so einfach frei geben. Wenn das die Runde macht, holt jeder sich irgendwelche Konzerttickets oder andere blöde Ausreden und der Unterricht kann mangels Schülern gar nicht mehr stattfinden. Das musst du doch einsehen.“ Ich ballte meine Hände zu Fäusten. Das sah ich überhaupt nicht ein. Es war ja nicht so, dass ich mir ausgesucht hatte, an einem Montagabend Konzerttickets in Düsseldorf zu haben. Ich hatte sie zum Geburtstag von Lille geschenkt bekommen.
„Und wenn ich so durchschaue, wie oft du dieses Schuljahr schon gefehlt hast oder zu spät kamst, Chris, dann kann ich dir auch nicht empfehlen an dem Dienstagmorgen blau zu machen…“ Das war der Gipfel! Herr Hofmann wusste von meiner Situation mit meiner Tante und ich wäre ihm am liebsten ins Gesicht gesprungen. Macht man aber ja nicht mit seinem Direktor… Ich ärgerte mich tierisch, dass ich überhaupt gefragt hatte, statt einfach nur eine Krankmeldung zu unterschreiben und am Dienstag komplett daheim zu bleiben. Und das sollte gerecht sein? Wenn man ehrlich war und fragte, wurde man bestraft und wenn man einfach nur gelogen hätte und weggeblieben wäre, würde man dafür belohnt? Ich warf genau das ein und sah, wie Direx Hofmann überlegte. Er drehte sich um und ging in seinem Zimmer auf und ab und blieb dann vor dem Fenster stehen, wo er lange Zeit auf den Schulhof hinabsah. Er räusperte sich. Ich stellte mich gerade hin, für den Fall, dass er sich umdrehte und entspannte bewusst langsam meine Fäuste. Ging mir total gegen den Strich, hier rumbetteln zu müssen. Nach gefühlten zehn Minuten sagte er: „Na gut, ihr seid aber offiziell die ersten beiden Stunden krank und schreibt mir einen Fehlzettel aus. Ihr holt die komplette Mathestunde nach und lasst euch in der nachfolgenden Stunde von Herrn Heitmann testen und Chris: Niemand wird über unsere Absprache informiert. Wenn mir zu Ohren kommt, dass irgendwer darüber tratscht, oder ihr zwei als Beispiel genannt werdet, wenn wieder jemand eine Freistunde rausholen will, dann werden euch die beiden Stunden nachträglich als unentschuldigt eingetragen und die Beteiligung mit 6 gewertet! Haben wir uns verstanden?“ Ich freute mich wahnsinnig! Natürlich würde ich es Lille sagen, aber die wäre sowieso viel zu brav, um irgendwem was von unserer Absprache zu erzählen. Ich strahlte Herrn Hofmann an und bedankte mich überschwänglich. Er scheuchte mich aus seinem Zimmer und guckte mich noch mal ganz ernst an: „Kein Wort zu niemandem!“ Ich nickte und versicherte ihm: „Nur Lille, die muss es ja auch wissen.“ Und dann machte ich mich auf die Suche nach ihr. In der Pausenhalle bei Jack und Sara war sie schon mal nicht. Vor dem Philosophieraum fand ich sie auch nicht und dann schellte es schon und ich musste weitere 135 Minuten warten, bis ich sie in Mathe wiedersah. „Wo warst du?“, fragte sie mich, kurz bevor Herr Heitmann zur Tür reinkam und ich ihr auch wieder nicht gleich antworten konnte. Das nervte gehörig, dass man keine 5 Minuten hatte, um mit seiner Freundin allein zu sein und zu besprechen, was man zu sagen hatte. Ich wollte aber auch keinen Zettel schreiben und womöglich dabei erwischt werden. Nach der Schule wetzten wir zum Schulbus und Lille erklärte mir, dass sie heute mit der anderen Linie gleich zum Krankenhaus fahren würde, um Oma zu besuchen. „Soll ich mitkommen?“, fragte ich sie. Ich wollte es zumindest angeboten haben. Mir war klar, dass ich ihr im Krankenhaus keine große Hilfe wäre und sie schüttelte auch den Kopf. „Dann telefonieren wir nachher“, legte ich fest. „Ich ruf dich an, wenn ich zu Hause bin“, sagte Lille und wir hatten gerade noch Zeit für einen kurzen Abschiedskuss, bevor sie in den Schulbus springen musste, um nicht eine Stunde auf den nächsten Bus warten zu müssen. Ich fuhr mit der Suzi zu Tom und fragte, ob ich ihm den zweiten Helm abkaufen konnte. Er grinste: „Chris, wenn du den Helm für Lille haben willst, leihe ich ihn dir. Wenn du ihn für eine andere brauchst, kannst du ihn gleich hierlassen und dir einen eigenen Helm besorgen…!“ Na bravo, da fand also noch jemand Lille so toll. Ich freute mich aber trotzdem, dass mein bester Freund sie mochte. „Hast du schon was gegessen?“ „Seit heute Morgen nichts mehr, ich bin in der Schule nicht dazu gekommen“, antwortete ich. Tom setzte Nudelwasser auf und zusammen vertilgten wir eine große Packung für 3 bis 4 Personen. Er wohnte im Anbau bei seinen Eltern und hatte es hier, neben der Garage, einigermaßen ruhig. Ich hatte ihn total um den Anbau beneidet, als ich noch bei meiner Tante gelebt hatte. Jetzt war ich aber froh, was Eigenes bei Carlos und Matthis zu haben. Toms Mutter war früher überfürsorglich gewesen, wenn ich ihn besucht hatte und der Kontrast zu meiner Tante hätte nicht größer sein können. Ohne Toms Familie wäre ich schon längst so fertig wie meine Tante, da war ich mir total sicher. Tom hatte nach der 10. Klasse eine Lehre bei seinem Onkel angefangen und war jetzt schon fast fertig. Er verdiente nebenher als Türsteher in diversen Discos, wo ihm das Karatetraining zugutekam, das er seit der 3. Klasse machte. Na ja, und seine Statur. Tom war ein Kleiderschrank. Er bestand nur aus Muskeln, war fast doppelt so breit wie ich und überragte mich mindestens um einen halben Kopf. Dabei war ich auch nicht einer der Kleinsten in meiner Mannschaft. Seit der 1. Klasse war er mein bester Freund und ich war so froh, dass er auch nach dem Unfall meiner Eltern zu mir gehalten hatte. Wenigstens eine Konstante in meinem Leben. „Wie läuft es denn so, jetzt mit deiner eigenen Wohnung?“, fragte er neugierig. „Zimmer. Ich habe nur ein eigenes Zimmer in einer WG, aber das ist genial! Du glaubst gar nicht, wie ruhig es oben im Univiertel ist. Von Carlos und Matthis bekomme ich nichts mit. Außer wenn wir unseren Pizzaabend haben.“ „Na, dann musst du ja richtig viel Schönheitsschlaf abbekommen, wenn keiner dich nachts weckt…“, grinste er und klopfte mir auf die Schulter. Das würde einen blauen Fleck geben, da war ich mir sicher. Aber ich war kein Ansteller und ich grinste zurück. „Sieht man doch – langsam sind die Ringe unter den Augen weg.“ Ich war kurz davor, ihm von meiner wieder gewonnenen Erinnerung und dem Unfall zu erzählen, konnte es mir aber dann doch verkneifen, weil ich unbedingt erst mit Lilles Oma darüber sprechen wollte. Das Kopfkino hatte mich die halbe Nacht wachgehalten und ich war mir wirklich nicht sicher, wie Lille auf das Ganze reagieren würde. Tom musste leider noch los, aber dafür, dass er spontan Zeit hatte, war ich sehr froh und versprach, das nächste Mal mit Lille vorbei zu kommen, damit er sie auch mal richtig kennen lernen konnte. Sie hatten sich bisher ja nur kurz bei der Halloweenparty im Exit gesehen. Ich fuhr nach Hause und freute mich, dass ich jetzt auf jeden Fall den zweiten Helm für Lille hatte. Ich hoffte, dass wir zusammen nach Düsseldorf fahren konnten und nicht die S-Bahn nehmen mussten, dann waren wir zeitlich deutlich flexibler. Sie müsste eigentlich in meine alte Lederkombi passen, sodass sie nicht erfror, falls es nächste Woche kühler sein sollte. Ich war erstmals sehr zufrieden mit mir.