Читать книгу Ich träum von dir... - Ellen Sommer - Страница 6
ОглавлениеChris
Die Mädels huschten ins Klassenzimmer zum Deutschkurs und ich wollte mir gar nicht ausmalen, was für einen Aufstand die Maier machen würde, nur, weil sie ein paar Sekunden zu spät kamen. Ich selber überlegte, ob ich es in weniger als 30 Sekunden zu Erdkunde schaffen würde und startete durch. Vom Lehrerzimmer kam mir Herr Lehmann entgegengeschlurft und ich witschte gerade noch so eben vor ihm ins Klassenzimmer, sodass ich mir einen Eintrag ins Klassenbuch ersparte. So langsam merkte ich, dass mich der „Beinahe-Unfall“ von vorhin doch mehr geschockt hatte, als gedacht. Meine Hände zitterten dermaßen, dass ich zweimal ansetzen musste, um den Rucksack zu öffnen. „Wenn Herr Berg dann auch seine Unterlagen zusammen hätte, könnten wir mit den Referaten starten“, hörte ich Herrn Lehmanns schnarrende Stimme. Ich kramte den Ordner raus und drehte mich nach vorne um. Wie ich diese 45 Minuten überleben sollte, war mir schleierhaft. Herr Lehmann gönnte mir keine 10 Minuten zum Nachdenken, sondern löcherte mich gleich zum Referat von Hannah, von dem ich – ehrlich gesagt – keinen Piep mitbekommen hatte. Selbst das Thema wusste ich nicht. Es war ja wohl auch wichtiger, einen Schlachtplan zu entwerfen, wie ich Lilles Oma dazu bringen konnte, mit mir über den Unfall zu reden. Das wäre nicht einfach, so wie sie geschrien hatte, als sie mich vor zwei Wochen in Lilles Zimmer entdeckte. Zuzutrauen wäre ihr, dass sie mich noch nicht einmal ins Haus lassen, geschweige denn ein Gespräch mit mir führen würde. Ich war am Ende der Stunde völlig erledigt. Das war jetzt ganz schlecht. Entsprechend übel fiel meine mündliche Note für heute aus und ich war froh, als die 45 Minuten endlich vorbei waren und ich lossprinten konnte, um nicht bei Miss Ibben in Englisch zu spät zu kommen. Auf Liedersingen im Altenheim am kommenden Wochenende hatte ich definitiv keine Lust. Ich schaffte es sogar, vor Lille und Sara im Klassenzimmer zu sein. Auch wenn ganz tief im Bauch mein schlechtes Gewissen an mir nagte, freute ich mich auf Lille. So ganz verstand ich nicht, woran ich mich erinnerte. Aber jetzt war wieder nicht die Zeit, dass ich mir Gedanken dazu machen konnte und ich versuchte, halbwegs aufmerksam dem Unterricht zu folgen und mir vor Lille nichts anmerken zu lassen. Sie warf mir zwischendurch allerdings immer wieder fragende Blicke zu, sodass ich mir sicher war, dass ich mit meinen schauspielerischen Leistungen heute bestimmt keine Oscarnominierung bekäme. Aber sie sagte nichts und schrieb auch keinen Zettel. Vielleicht hatte ich Glück und konnte sie noch eine Weile hinhalten wegen des „Nachschocks“ durch den Fast-Unfall. Das würde meine heutige Strategie sein, entschied ich und verdrängte mein schlechtes Gewissen noch ein bisschen weiter. Mir war total klar, dass ich irgendwann mit ihr sprechen musste, aber sie wusste ja noch gar nicht, dass ich mich jetzt an den vorangehenden Unfall so glasklar erinnerte, als wäre er heute passiert und sie konnte nicht ahnen, was mich die ganze Zeit so beschäftigte. „Dear Christopher, please let us know, why you are looking so moody today“, riss mich Miss Ibben aus meinen Gedanken. Ich hätte mich innerlich ohrfeigen können, dass ich schon wieder nicht aufgepasst hatte. Also setzte ich mein freundlichstes Lächeln auf und versuchte herauszufinden, worum es diesmal in der Englischstunde ging. Lille tippte netterweise auf den letzten Satz in der Lektüre und ich sah, dass wir heute den Part in Romeo und Julia hatten, in dem er sich umbringt. „Ähm, ich habe nur grad gedacht, dass es ja komplett irre ist, sich einfach umzubringen“, versuchte ich auf gut Glück eine Ausrede für meinen „finsteren Blick“ zu finden. Miss Ibben strahlte mich an, denn offensichtlich hatte sie genau dieses Thema gerade besprochen. Puh, das war knapp… Lille lächelte ganz süß von der Seite und ich riss mich zusammen und passte jetzt richtig auf, was mir aber extrem schwerfiel. In der Pause kamen wir nicht dazu, über irgendwas Persönliches zu sprechen, weil Jack wohl irgendwie mitbekommen hatte, dass ich heute Morgen fast mit dem Schulbus kollidiert wäre und mich dazu genau befragte. Kann man mich nicht einfach mit Lille in Ruhe lassen? Irgendwie nervten mich heute alle und ich wäre am liebsten gleich heimgefahren. Ging aber natürlich nicht. Lille fauchte Jack schließlich an: „Mensch Jack, merkst du nicht, dass es Chris total unangenehm ist, jetzt ständig dran erinnert zu werden, dass er fast wieder einen Unfall hatte? Jetzt reicht´s langsam!“ Ich wusste gar nicht, dass sie so zickig sein konnte. Und dann zog sie mich aus der Pausenhalle und ging mit mir hinter den Pavillon, wo sie mich gleich in ihre Arme nahm und küsste. So sah der Tag doch gleich viel netter aus. Viel zu kurz war unsere Pause und wir rannten die Treppen zu Kunst hoch. Ich hatte irgendwie ein Déjà-vu, als wir wieder Mal zu spät kamen und Herr Späth uns erstaunt anblickte, wie an Lilles erstem Schultag vor 2 Monaten. Diesmal hatte ich spontan keine Ausrede parat und auch Lille musste erst einmal Luft schnappen, nach dem Sprint ins 6. Stockwerk. Schlussendlich brummte uns Herr Späth eine Zusatzhausaufgabe auf, die wir bis Mittwoch fertig stellen sollten. Wir hätten uns vielleicht besser vorab eine Ausrede einfallen lassen sollen. Unsere Portraits hatten wir letzte Woche ja schon abgegeben und jetzt stand Linoldruck auf dem Plan. Wir sollten ein Mehrfarbenbild erstellen. Lille wählte das „blaue Pferd“ von Franz Marc. Ich schwankte zwischen einem Bild von Paul Klee oder Matisse. Vermutlich wäre beides, wegen der vielen kleinen Teile und unterschiedlichen Farben, extrem schwer zu schnitzen. Doch jetzt hatte mich der Ehrgeiz gepackt und ich legte los.