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Abend über Falkenhorst

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Am nördlichen Bogen der Krähenbucht erhob sich düster Schloss Falkenhorst. Der Bau ragte steil über den Klippen auf und wirkte noch drohender denn je, seit der große Turm nach einem Blitzschlag eingestürzt war. Wie die Türme einer Kathedrale wiesen die zwei übrig gebliebenen mahnend zum Himmel. Der Felshaufen beim Palas, dem Haupthaus, hatte einen der Höfe verschüttet und wirkte wie ein Gebirge inmitten der Burg.

Auf einem der riesigen, von Schnee bepuderten Steinblöcke saß ein Mädchen, den Mantel eng um Leib und Beine geschlungen, den Blick hinaus aufs Meer gerichtet. Über dem Horizont war nur noch ein schwaches Abendrot zu erkennen. Bald würde es ganz dunkel sein.

»Xenia!«, rief eine Stimme von jenseits des Geröllhaufens.

Das Mädchen seufzte und richtete sich auf. »Ja?«

»Es ist spät!«

»Ich weiß.« Xenia blickte noch einmal nach Süden, wo sich bereits Dunkelheit über das Land gelegt hatte und auch das Meer im finsteren Nichts verschwand. Natürlich hatte sie nicht damit rechnen können, dass Florine noch am selben Tag zurückkehrte. Und doch: Wie viel wohler wäre ihr jetzt, wüsste sie die Freundin bereits wieder sicher auf dem Falkenhorst.

Xenia kletterte vorsichtig die Steinblöcke hinab, von denen einige mit Eis überzogen und so glatt waren, dass sie beim Darübergleiten die Augen schloss.

»Xenia!«, klagte der alte Mann, der sie unten erwartete. »Musst du so halsbrecherisch herumklettern?«

»Ich habe nach Florine Ausschau gehalten, Großvater«, entgegnete das Mädchen, zog den Mantel wieder fester um sich und hakte sich bei ihm unter. Sie gingen über den mit Steinen übersäten Winkel des Henkershofes, der nicht vom Burgfried unter sich begraben worden war, hinüber zum unversehrt gebliebenen großen Hof. Das spärliche Licht einiger weniger Fackeln bildete gelbe Inseln auf dem ansonsten dunklen Boden.

»Leise, Xenia«, mahnte Horatius Tyk seine Enkelin. »Es muss nicht jeder wissen.«

»Aber Großvater«, flüsterte Xenia, »wenn jemand lauscht, dann erfährt er doch auch nur, dass Florine unterwegs ist und nicht warum oder wohin

»Das mag ja sein. Aber wer nicht weiß, dass sie weg ist, wird sich auch nicht fragen, warum sie weg oder wohin sie geflogen ist.« Er lauschte auf die Geräusche ringsum. Doch es war nichts außer dem Hufschlag einiger Pferde zu hören, die die Burg eben verlassen hatten, und den Schritten eines Soldaten, der oben am Wehrgang entlanglief. »Komm jetzt, ich möchte gerne ein Wort mit Don Basilico reden. Lass uns kurz in der Küche vorbeischauen und dann zu deiner Großmutter gehen.«

Schweigend gingen sie über den großen Hof und unter einer niedrigen Tür hindurch ins Gebäude. Es war ein verwinkeltes System von Gängen, das die Burg durchzog. Wer es nicht kannte, konnte sich leicht verlaufen, wer aber wusste, wie die Wege miteinander verbunden waren, der konnte dieses Netz gut nutzen, um ungesehen von einem Ort zum anderen zu gelangen. Xenia kannte vielleicht mehr heimliche Gänge und Winkel als irgendjemand sonst auf der Burg. Das rührte von ihrer Freundschaft zu Golo her, dem alten Hofnarren, der jedoch vor einigen Wochen mit den Gauklern fortgegangen war.

Xenia führte ihren Großvater vorsichtig die steilen Stufen hinab. Der alte Mann hatte den größeren Teil seines Augenlichts im Kerker verloren, wo er viele Jahre in völliger Finsternis verbracht hatte. Nach wenigen Schritten waren sie bei einer niedrigen, breiten Tür angekommen, hinter der Scheppern, Klirren und Fluchen zu hören war.

Horatius Tyk lächelte. »Wenn man sich nicht an den Gerüchen der Küche orientieren könnte, man bräuchte nur dem Lärm nachzugehen.«

Xenia öffnete vorsichtig die Tür und geleitete ihren Großvater über die Schwelle. »Ah! Meister Tyk!«, ertönte freundlich die Stimme des Kochs, die man eben noch fluchend und schimpfend hatte vernehmen können.

»Don Basilico«, erwiderte der alte Mann, »es duftet wieder köstlich bei Euch!«

»Zu viel der Ehre!« Man konnte den Stolz in Don Basilicos Stimme hören. »Was darf ich Euch anbieten?«

Horatius Tyk entzog sich Xenias Arm und tastete sich zu einem der Stühle vor, die an dem riesigen Tisch in der Mitte des Raumes standen. »Vielleicht hättet Ihr eine Schale von Eurer wundervollen Walnusssuppe mit ein wenig Schmalz?«

»Aber ja doch, Meister Tyk, gerne!« Der Koch gab dem Küchenjungen ein Zeichen, dass dieser eine irdene Schale aus dem Geschirrschrank nehmen solle, und rückte einen kleineren Kessel über die Feuerstelle. »Habt Ihr Euch gut eingelebt, Meister Tyk?«, wollte er wissen.

»Bestens, lieber Don Basilico. Bestens. Mir geht es so gut wie überhaupt noch nie!« Ein Höllenlärm ließ ihn herumfahren. »Was zum Teufel ...!«, rief Don Basilico wütend, während der Küchenjunge mit rotem Gesicht stotterte: »T-t-t-ut m-m-mir l-l-leid. I-i-ich ...« Hilflos wedelte er mit den Händen über dem Haufen Scherben zu seinen Füßen.

Xenia sprang auf und nahm eine noch im Geschirrschrank verbliebene Schüssel. »Kein Problem«, sagte sie leichthin, als wäre nichts passiert. »Hier ist eine Schüssel.«

»Hm«, machte der Koch und runzelte die Stirn.

»Und das räume ich rasch mit Ludovico weg«, versicherte Xenia ihm und beeilte sich, einige Scherben in ihrem Rock zu sammeln, während der Küchenjunge langsam wieder aus seiner Verlegenheit herausfand und nun ebenfalls die Reste der kaputten Schale zusammenräumte. »Danke«, nuschelte er.

»Keine Ursache«, sagte Xenia. »Du bist ja noch so neu hier in der Küche. Da passiert so was schon mal.«

Ludovico nickte und schaute aus den Augenwinkeln zu seinem Meister hinüber, der inzwischen die Suppe gebracht hatte. Sein Gesicht war immer noch rot, auch wenn die Verfärbung sich langsam mehr zu den Ohren hin zog.

Xenia beobachtete ihn. Ludovico war ein, zwei Jahre jünger als sie. Sie schätzte ihn auf zehn. Nachdem sein Vorgänger Emerald im Kerker arbeiten musste und Marius keine Lust gehabt hatte, auf Schloss Falkenhorst zu bleiben, hatte es Ludovico erwischt. Nicht dass Küchenjunge eine schlechte Aufgabe gewesen wäre, nein, ganz und gar nicht, aber es war eben doch eine Arbeit, die sehr anstrengend war – und man musste ein wegen Don Basilicos aufbrausender Natur dickes Fell mitbringen. Xenia bezweifelte, ob Ludovico das hatte. Sie hatte zwar bisher nicht viel mit ihm zu tun gehabt, doch schien es ihr, als sei er ein wenig zarter als die anderen Jungen auf der Burg.

»Was für ein wundervolles Süppchen, Don Basilico«, seufzte Horatius Tyk, strich sich über den langen, weißen Bart und schob die geleerte Schüssel von sich. »Ihr seid ein Meister der Genüsse, Lukullus’ würdigster Priester.«

»Zu liebenswürdig«, entgegnete der Koch und hielt sich liebevoll den Bauch, als hätte das Kompliment diesem gegolten.

»Doch ich habe Euch nicht nur Eurer kulinarischen Meisterschaft wegen aufgesucht«, erklärte Horatius Tyk. »Ich wollte auch ein Wort im Vertrauen mich Euch sprechen.«

»Ein Wort im Vertrauen?« Der Koch trat nah an ihn heran. »Jederzeit gerne, Meister Tyk.«

Doch der alte Mann rückte nicht sogleich heraus mit der Sprache, sondern nickte, kaum merklich, zu dem Küchenjungen hinüber, der immer noch einen roten Kopf hatte – oder waren es nur noch die Ohren, die rot waren?

Don Basilico verstand sofort. Ein Wort im Vertrauen brauchte keine Zuhörer. Und gerade mit neugierigen Küchenjungen hatte er alles andere als gute Erfahrungen gemacht... »He, Bursche«, rief er Ludovico zu. »Sieh zu, ob du die Teller und Schüsseln aus dem Palas wieder einsammeln kannst!«

Ludovico richtete sich auf, legte die Scherben beiseite, die er in der Hand hielt, und nickte. »Sehr wohl, Meister.« Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und ging in die Speisekammer. Es dauerte einen Augenblick, ehe er wieder auftauchte und den Weg zur Küchentür suchte. »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Don Basilico.

»Mhm«, murmelte der Junge und schlüpfte nach draußen.

»Ich weiß nicht«, grübelte der Koch. »Bisher war er eigentlich recht aufgeräumt und zuverlässig.« Dann wandte er sich wieder dem alten Mann zu, der nach wie vor an seinem Tisch saß und plötzlich sehr betrübt wirkte. Es war, als hätte er eine Maske abgelegt. »Nun erzählt«, forderte ihn Don Basilico auf. Horatius Tyk nickte und atmete tief durch. Dann sagte er leise, aber so eindringlich, dass Don Basilico schlagartig eine Gänsehaut über den Rücken lief: »Ich fürchte, lieber Don Basilico, wir haben ein ernstes Problem hier auf unserer Burg, nein, eigentlich im ganzen Reich. Und wenn wir es nicht schnell lösen, könnte es sein, dass wir alle hier in große Schwierigkeiten geraten.« Die Augen des Alten huschten im Raum umher, als könnten überall heimliche Lauscher verborgen sein.

»Aber wie soll das zugehen?«, fragte der Koch und setzte sich neben den alten Schreiber, der erst seit kurzem auf der Burg lebte.

»Der Herzog ...«, begann Tyk, doch Xenia hob die Hand. »Pst!«, mahnte sie und machte leise ein paar Schritte auf die Tür zu. Jetzt erst fiel dem Koch auf, dass das Mädchen noch in der Küche war. Keine Frage, nach allem, was in letzter Zeit auf der Burg geschehen war, durfte sie jederzeit ins Vertrauen gezogen werden und es war kein Wunder, dass der alte Tyk sie dabeihaben wollte. Schließlich hatte sie maßgeblich dazu beigetragen, dass er nach langen Jahren aus dem Kerker der Rabenburg befreit und dass ein Krieg der beiden Reiche von Herzog Friedbert und Fürst Heinrich verhindert worden war.

Xenia meinte, auf der anderen Seite der Tür zu hören, wie jemand tief Luft holte. Vorsichtig drückte sie auf den Riegel und das Schloss öffnete sich lautlos. »Was ist denn, Kind?«, fragte Horatius Tyk.

In diesem Augenblick stieß Xenia mit aller Kraft die Tür auf und ein markerschütternder Schrei drang herein, gefolgt von einem dumpfen Aufschlag.

Die Stunde des Narren

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