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Die zweite Nacht

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Glücklich hatten sie ein geschütztes Plätzchen zwischen einigen Weidenbüschen gefunden, die am Rand des beinahe zugefrorenen Flusses wuchsen. Gegen den schneidenden Wind hatten sie Füchslins leichtes, aber festes Tuch gespannt, so dass die Lampe in ihrer Mitte kaum flackerte. Rosinante lag so auf dem Boden, dass Marius sich zum Schlafen gegen sie lehnen konnte. Sich gänzlich hinzulegen, das traute er sich nicht – oft genug hatte er Geschichten gehört, in denen Reiter im Schlaf von ihren eigenen Pferden erdrückt worden waren.

Füchslin hatte sich wieder einmal mit einem Pergament über das Licht gebeugt und studierte. Marius beobachtete ihn aus halb geschlossenen Augen. Ob er wirklich schon alt war? Marius stellte sich vor, wie der Mann ohne Bart und ohne seine buschigen Brauen aussehen mochte. Auf der Nase trug Füchslin wieder sein Vordieaugen. Das gab ihm ein besonders kluges Aussehen. Ab und zu suchte er etwas aus einer seiner zahlreichen Westen, die er übereinander trug wie eine Zwiebel ihre Schichten. Einmal war es ein Stein, der die seltsamsten Verzierungen aufwies, ein andermal eine Schnur, auf der hölzerne Perlen aufgezogen waren, die er dann heftig grübelnd hin und her schob, als würde er rechnen. Neben sich hatte er eine glatte Fläche Schnee zurechtgeklopft, auf der er mit Hilfe eines kleinen Metallstifts und einer Schnur, die er an einem Punkt festhielt und dann im Kreise schwang, unverständliche Muster zeichnete. Marius vermied es wohlweislich, ihn nach dem Sinn seines Handelns zu fragen – er hätte ihm doch nur Anlass gegeben zu einer seiner scheinbar endlosen Ausführungen.

Langsam fielen Marius die Augen zu. Viele Stunden lang waren sie durch Schnee und Eis gestapft, Rosinante und er. Füchslin hatte natürlich auf seinem Pferd gesessen und gefroren. Kein Wunder, wenn er nicht so erschöpft war wie sein jugendlicher Führer. Marius lauschte auf die Stille. Nur das träge vorbeiziehende Winterwasser war zu hören. Der Fluss war hier schon ziemlich breit und nicht mehr so wild wie am Oberlauf. Morgen würden sie wahrscheinlich bis Buchberg kommen und dann konnte Marius umkehren. Er machte sich Sorgen wegen Meister Goldauge. Ganz offensichtlich hatte der seine Botschaft nicht gefunden. Aber warum? War die Botschaft aus irgendeinem Grund nicht mehr da gewesen? Oder war Goldauge gar nicht erst nach Hause gekommen und hatte den Zettel deshalb nicht an der Tür gefunden? Denn sonst wäre Goldauge auf jeden Fall hinterhergekommen. Und er hätte sie auch bestimmt gefunden. Spätestens jetzt, da sie am Fluss waren – Goldauge wäre den Fluss hinaufgeflogen und hätte sie also finden müssen ...

Gut versteckt lagerten sie unter den Büschen am Fluss. Der Gelehrte und der Junge, der ihn nach Buchberg bringen sollte. Marius seufzte und sank wenig später in einen unruhigen Schlaf. Er träumte von Toss. Sah sich das Tor an der unfertigen Mauer durchschreiten und auf das Gasthaus zugehen, über dem Meister Goldauge saß. Er winkte Goldauge, doch der Rabe bemerkte ihn nicht. Plötzlich kam aus der Kirche, die seltsamerweise neben dem Gasthaus stand, ein riesiger Mann. Er schritt auf Marius zu, warf seinen Mantel ab, dann seine Jacke, die er darunter trug, dann das Wams, eine Weste, ein Hemd, eine weitere Weste und immer so weiter. Mit jeder Schicht, die er ablegte, wurde er dünner, bis zuletzt ein einziges Hemd übrig war. Als dieses auch zu Boden fiel, da schwebte vor Marius nichts weiter als eine kleine Dose, ganz wie die, in der Marius den Finger entdeckt hatte. Als er sie aber öffnete, lag darin ein einzelnes goldenes ... Marius schrak aus seinem Traum auf. Er spürte, wie er schwitzte und gleichzeitig fror. Goldauge, dachte er, wo bist du? Er atmete tief durch und versuchte, den Anblick des goldenen Auges, das er im Traum gesehen hatte, zu verscheuchen, zog die Pferdedecke fester um sich und wollte sich schon wieder zum Schlafen bequemen, als ihm auffiel, dass Füchslin nicht da war.

Schlagartig war Marius hellwach. Er lauschte. Weiterhin war nichts als das Wasser zu hören – und Rosinantes Schnarchen. Nach einer Weile aber hörte er Schritte im Schnee, langsame Schritte, die um die Tuchbahn schlichen, wieder stehen blieben und dann erneut zögerlich weitergingen. Marius griff nach seinem Gürtel, an dem er ein Messer trug. Lautlos richtete er sich auf, zog die Waffe und huschte zur anderen Seite des Tuches. Seine Schritte machten keine Geräusche, weil auf dieser Seite des Stoffes der Schnee festgetreten war. So konnte er unbemerkt hinter Rosinante vorbeischleichen und in die schneehelle Nacht hinausblicken.

Wenige Schritte von ihm entfernt ragte, einem Denkmal gleich, ein Mann vor ihm auf, der die Arme zum Himmel gerichtet hatte und in den Händen etwas hielt, das Marius im ersten Augenblick wie ein riesiges schwarzes Spinnennetz erschien. Rosinante schnaubte plötzlich. Marius erschrak, keuchte, der Mann drehte sich zu ihm um. »Julius«, sagte Füchslin und ließ die Arme sinken. »Du solltest schlafen. Morgen steht uns ein weiterer anstrengender Marsch bevor.«

»Meister Füchslin«, stammelte Marius. »Was treibt Ihr hier?« »Oh, ach so, das!« Füchslin blickte auf das seltsame Ding in seiner Hand. »Das ist ein wundervolles Gerät zur Bestimmung der Himmelskörper und ihres Stands.« Er winkte Marius, sich mit ihm wieder ins Lager zu setzen, und machte ein paar Schritte um das nun wieder ruhig daliegende Pferd herum. »Ich nenne es Astrospektakulum.«

Marius folgte Füchslin und ließ sich wieder an seinem Platz nieder. Jetzt konnte er erkennen, dass das Gerät nicht schwarz war, sondern golden schimmerte. Auf kunstvolle Weise waren Metallreifen und Winkel ineinandergesetzt. Marius hatte nie zuvor etwas so Wundervolles gesehen. Es war ein Kunstwerk! »Und damit könnt Ihr die Sterne bestimmen?«, fragte er. »Wozu?«

»Wer den Stand der Sterne kennt, kennt auch seinen Weg.«

Marius überlegte einen Augenblick. »So hättet Ihr mich gar nicht gebraucht?«

»Doch, doch«, beeilte sich Füchslin zu erklären. »Noch kenne ich den Weg ja nicht. Doch wenn ich ihn mit Hilfe meines Astrospektakulums aufzeichne, so kann ich die Strecke auf eine Karte eintragen – und in Zukunft kann jeder den Weg finden.«

»So zeichnet Ihr auch Karten?«, wollte Marius wissen.

Füchslin winkte ab. »Ich selbst zeichne keine Karten. Das besorgen andere. Aber ...«

Marius machte eine schnelle Handbewegung. »Schschsch ...«, zischte er und bedeckte das Licht mit beiden Händen. »Hört Ihr das?«

Sie lauschten. Jetzt war es deutlich zu hören: Der dumpfe Hufschlag mehrerer Pferde kam schnell näher. Füchslin löschte das Licht und Marius griff sich unwillkürlich an die Brust, wo er sein Amulett trug.

Wenige Augenblicke später tauchten die Umrisse mehrerer Reiter vor dem im Mondlicht glitzernden Band des Flusses auf, die ihre Rösser am Ufer entlangtrieben. Es gab eine schmale Straße, das wusste Marius, auch wenn man sie unter der dicken Schneedecke nicht sehen konnte. Offenbar kannten die Reiter diesen Weg ebenfalls. Marius überlegte, wie nahe die Straße an ihrem Lager vorbeiführte. Er erschrak. Es konnten kaum mehr als fünf oder sechs Schritte sein, nah genug, um sie zu entdecken.

Rosinante schrak auf, sie hatte das Wiehern der näher kommenden Pferde gehört und das Zittern des Bodens gespürt. Sie spielte mit den Ohren. Füchslin legte seinen Arm um ihren Hals und flüsterte ihr etwas zu, das Marius nicht verstand.

Inzwischen waren die Reiter so nah, dass Marius erkennen konnte, dass sie zu viert waren. Und es waren keine Kaufleute und auch keine Familie. Vielmehr blitzten die Klingen hoher Lanzen im Mondlicht und Ketten klirrten durch die Nacht. Einer der Reiter hob die Hand. Die anderen, die nur wenige Schritte hinter ihm herankamen, zügelten ihre Pferde. »Halt!«, rief der erste mit verhaltener Stimme. »Dort vorne!« Er zeigte vor sich hin. Marius blieb beinahe das Herz stehen. Zeigte der Mann auf ihr Lager? Er konnte es nicht erkennen.

Die anderen Reiter schlossen zu dem ersten auf und reihten sich neben ihn. »Ich kann nichts erkennen«, sagte einer.

»Dann schau genau hin«, herrschte ihn der Erste an. Sein Pferd schnaubte und riss am Zügel. Es hatte offenbar die Witterung von Rosinante aufgenommen. Ein tiefes Knurren ließ Marius zurückschrecken. Was war das? Kein Pferd gab solche Laute von sich.

»Ja«, sagte der andere, »jetzt seh ich es auch.«

»Es wird nicht einmal mehr bis zum Morgengrauen dauern, ehe wir da sind«, stellte nun ein Dritter fest.

Alle vier blickten flussaufwärts, während ihre Pferde auf der Stelle tänzelten. Das Knurren wurde lauter. »Still, ihr dummen Tölen!«, polterte der Anführer. Ein kurzes Bellen folgte, dann verstummte das Tier. Hunde!, dachte Marius, und die wissen genau, dass sich hier jemand versteckt!

»Die Frage ist, wer zuerst dort ist«, stellte der Dritte fest und schickte ein kurzes, raues Lachen hinterher.

»Ich denke nicht, dass das die Frage ist«, entgegnete der Erste und klopfte seinem Ross mit den Fersen in die Flanken, worauf dieses sich wieder in Bewegung setzte. Die anderen folgten ihm. Langsam ritten sie auf die Stelle zu, an der Marius und Füchslin sich hinter das weiße Tuch geduckt hielten und nun gemeinsam versuchten, Rosinante still zu halten. Gerade als sie auf gleicher Höhe waren, gab der Reiter seinem Pferd die Sporen und preschte davon, gefolgt von seinen bewaffneten Begleitern. Die Hunde bellten wütend auf, doch die Männer hielten es wohl nur für das übliche Bellen, wenn es weiterging. Mit lautem Wiehern rappelte sich Rosinante auf, Marius sprang zur Seite, stolperte über eine Wurzel und stand mit beiden Beinen bis zu den Oberschenkeln im Wasser – doch die schwarzen Reiter machten selbst so viel Lärm, dass sie den Tumult an Füchslins Lagerplatz gar nicht hörten.

»Bei allen Göttern«, seufzte Füchslin, als die vier Schattengestalten hinter der nächsten Biegung verschwunden waren, »das war knapp.« Er hielt Marius die Hand hin, rutschte auf der vereisten Uferböschung ebenfalls aus und landete neben ihm im Wasser.

»Sie sahen nicht sehr freundlich aus«, sagte Marius und krabbelte auf allen vieren wieder an Land.

»Und du kannst sicher sein, sie wären auch nicht freundlich gewesen«, entgegnete Füchslin, stieg ihm hinterher und blickte düster vor sich hin. Eine Weile schwieg er, während er erneut Feuer schlug. »Nur gut, dass sie uns überholt haben«, sagte er schließlich. »Wir wissen ja jetzt, dass sie vor uns sind.«

»Ihr glaubt, dass es Eure Verfolger sind, Meister Füchslin?« Marius wickelte eine der Decken um die Hüften. Wenn er sich nur nicht erkältete. Die Beinlinge begannen schon zu knacken, weil das eiskalte Wasser, mit dem sie sich vollgesogen hatten, augenblicklich gefror.

»Glauben? Ich weiß es! Ich werde doch ständig verfolgt. Sie sind immer und überall hinter mir her.« Behutsam legte er eine Hand auf eines seiner Bündel. »Und vor allem natürlich hinter meinen Entdeckungen.«

Während am Fluss nahe Buchberg vier Schwarze Reiter durch die Nacht donnerten, machte sich andernorts mancher bereit zur Abreise oder legte sich zur Ruhe, um auf einen weiteren langen Tag zu warten. Auf Schloss Falkenhorst saß eine alte weise Frau im Schein einer kleinen Lampe und studierte die Prophezeiungen des Rabenwalds, der Türmer blickte sorgenvoll über Land und Meer – und ein Junge huschte unbemerkt aus der Kapelle und suchte in den tiefen Schatten der Mauern seinen Weg zur Küche. Bald schon würde es dämmern und jeder spürte: Gefahr lag in der Luft.

Die Stunde des Narren

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