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Eisige Lüfte

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Über der Krähenbucht braute sich ein Unwetter zusammen. Dunkle Wolken türmten sich. Florine hatte es sich sorgfältig überlegen müssen, ob sie diesen Weg nehmen würde. Doch es galt keine Zeit zu verlieren – sie musste Marius so schnell wie möglich erreichen. Immerhin schwebte vermutlich auch er in großer Gefahr!

Die Schwingen des Paradiesvogels schmerzten in der klirrend kalten Luft. Für solche Temperaturen war die Papageiendame nicht geschaffen. Und obwohl sie seit ihrer Geburt auf diesem Flecken Erde lebte, wünschte sie sich doch jeden Winter in behaglichere Gefilde, in eine Umgebung voll Wärme und Sonne.

In der Ferne sah sie einen Schwarm Möwen auffliegen, die sich um einen Fisch balgten und ihn in der Luft zerfetzten. Sie flog einen großen Bogen um die Vögel, nicht weil sie Angst vor ihnen gehabt hätte – nein, es ging ihr vielmehr darum, nicht unnötig gesehen zu werden. Schließlich musste es sich nicht herumsprechen, dass königliches Gefieder unterwegs nach Toss war.

Es dauerte nicht lange, bis sie die Giebel des Städtchens in der Ferne erkennen konnte. Die Augen tränten im schneidenden Wind, die Flügelspitzen fühlte sie kaum mehr. Doch dass sie jetzt das Ziel vor Augen hatte, trieb sie an. In kurzer Zeit würde sie in Toss sein und Marius sprechen und ihm von den ungeheuerlichen Vorgängen auf Schloss Falkenhorst und im ganzen Rabenwald berichten.

Sie nahm all ihre Kraft zusammen und schoss über den sich zunehmend verdüsternden Himmel. Als sie das Meer hinter sich gelassen hatte, befand sie sich inmitten eines Schneesturms, der schon bald in Toss anlangen würde. Sie eilte sich, möglichst schnell unter ihm hindurchzufliegen. Immer wieder trieb ihr Schnee in die Augen, die dicken Flocken verklebten ihr Gefieder und zogen sie mit ihrem Gewicht tiefer zur Erde hinab. »Was für eine Quälerei«, ächzte Florine. Doch sie war stark und sie würde dem Drang widerstehen, sich irgendwo einen Unterschlupf zu suchen, bis das Wetter besser war.

Da endlich gaben die heftigen Böen sie frei und entließen sie in ein freundlicheres Schneegeriesel über der verschneiten Stadt. Florine fand sich über dem Dachreiter der kleinen Kapelle wieder und blickte sich um. Nicht weit von hier lag die Schänke, daneben die Schmiede, einige Höfe und die Stadtmauer. Außerhalb dieser Stadtmauer aber, direkt am Bach bei einem kleinen Waldstück, lag die Hütte, in der Marius mit seinem Raben lebte. Florine atmete tief durch und trieb sich an, um das letzte Stück ihres Weges schnell zu nehmen. Die Hütte des Jungen war alt und schief. Aus dem Kamin stieg eine schmale Rauchsäule empor. Es schien also jemand zu Hause zu sein. Florine flatterte vor die Tür und pochte mit ihrem Schnabel einige Male gegen das dunkle Holz. Doch nichts. Niemand kam, um ihr zu öffnen. Sie hörte Stimmen hinter sich. »Verflucht«, sagte jemand. »Ob es diese Hütte ist?«

»Es wird nicht sehr schwer sein, das herauszufinden.«

Florine kannte die Stimmen nicht. Schnell schlüpfte sie hinter eine Schneewehe neben der Tür und schaute vorsichtig dahinter hervor. Die zwei Männer, die sich langsam näherten, waren dick vermummt und schwiegen jetzt. Einer gab dem anderen ein Zeichen, den Weg zu verlassen, und so schlichen sie beide um das Haus herum. Florine duckte sich tief in den Schnee, um nicht entdeckt zu werden. Sie beobachtete aufmerksam, wie die Männer sich an der Wand entlangdrückten und vorsichtig durch die kleinen Fenster blickten, hinter denen sich der schwache Lichtschein eines Kaminfeuers abzeichnete. Bald würde es dunkel werden, dann war es leichter, drinnen etwas zu erkennen. Jetzt mussten die unbekannten Besucher damit rechnen, entdeckt zu werden.

Doch es schien niemand zu Hause zu sein. Nachdem sie die Hütte einmal umrundet hatten, standen die beiden Männer einen Moment vor der Tür und tuschelten. Florine konnte sie von ihrem Platz aus nicht sehen. Sie hörte nur, wie einer der beiden plötzlich sagte: »Sieh an! Als wär’s für uns bestimmt gewesen!«

Das Rascheln von Pergament. Dann die Stimme des anderen: »Wahrlich, das nenne ich Glück!«

»Ja. Und sehr freundlich, dass er uns so genau aufgeschrieben hat, wohin es geht.« Wieder hörte Florine ein Rascheln. Dann verdrückten sich die beiden Männer ins nahe gelegene Gehölz, das bereits in die heraufziehenden Schatten der Dämmerung getaucht war.

Seltsam, dachte Florine, was wollen die beiden von Marius? Warum haben sie nicht an seine Tür geklopft, wenn sie ihn besuchen wollen? Warum haben sie sich wie Diebe herumgedrückt und sind dann doch wieder verschwunden? Und was haben sie gefunden?

Florines Flügel fühlten sich an, als hätte sie sie in Leim gebadet, so steif gefroren waren sie. Noch länger an diesem frostigen Ort zu bleiben war nicht ratsam. Sollte sie fortfliegen? Doch wohin? Sie war hier fremd – und sie durfte nicht erwarten, dass ihr Unbekannte Obdach boten, ohne sich heimlich zu fragen, ob man einen Papagei essen konnte. Unschlüssig spielte sie mit ihren Flügelspitzen, als plötzlich ein Schatten über ihr auftauchte.

Die Stunde des Narren

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