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Einsame Reise

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Wo Meister Goldauge nur blieb? Seit Stunden waren sie nun schon unterwegs und hatten sicher ihre zehn oder zwölf fauconischen Meilen zurückgelegt. Na ja, vielleicht waren es auch nur acht. Es war immerhin schwer, im hohen Schnee zügig voranzukommen. Umso mehr erstaunte es Marius, dass Meister Goldauge nicht längst auf seiner Schulter saß. Mit zusammengekniffenen Augen blickte er in den Himmel, der sich bereits langsam zu verdunkeln begann. Wenn der Rabe nicht bald auftauchte, würden sie sich am Ende verpassen. Denn jetzt musste Marius zusehen, dass sie ein Nachtlager fanden, am besten eine Scheune oder zumindest eine Böschung, in der sie die Plane aufspannen konnten, die der höchst wunderliche Herr angeblich bei sich führte. Es war nicht ganz ungefährlich, bei dieser Kälte ohne Dach über dem Kopf draußen die Nacht zu verbringen. Einen der Jungen aus dem Ort hatten sie letzten Winter erfroren gefunden, nachdem er beim Versteckspiel verschwunden war.

Es wehte ein scharfer Wind vom Meer her. Nicht mehr lange, dann würden sie die Küste sehen können. Manchmal trieben weiter draußen in der Krähenbucht große Eisschollen, die vom Norden her kamen, dann war die Küste für Schiffe gefährlich und die Seeleute hielten sich weiter südlich. Immerhin bedeutete das auch, dass es keine Piraten gab.

Nicht weit entfernt entdeckte Marius einen knorrigen alten Baum, der wohl mehr als einmal vom Blitz getroffen worden sein musste. Er kannte die verwachsene Ruine. Man sah sie vom Weg aus, wenn man nach Buchberg reiste. Sie waren also ziemlich genau auf der Strecke unterwegs, die Marius sich vorgenommen hatte, obwohl die Straße unter der dichten Schneedecke nicht einmal zu erahnen war.

Unter dem gebeugten Stamm des Baumes bildeten die mächtigen Wurzeln einen umhegten Bereich, gerade groß genug für den Jungen, den geheimnisvollen Reisenden, sein Pferd und, wenn es denn damit noch etwas würde vor Einbruch der Nacht, einen stolzen Raben.

Marius schritt schneller voran, um endlich in den Schutz des Baumes zu kommen. Den Gaul mit seinen Bergen von Gepäck und dem stattlichen Mann zog er am Zügel hinter sich her, während dieser erklärte: »Eine normannische Honigeiche! Sehr seltenes Gewächs hierzulande. Man trifft sie sonst viel weiter im Osten an. Kein Wunder, wenn diese hier vom Blitz gespalten ward. Aus der Rinde brauen die nordischen Bergvölker ein Bier, das besonders auf Säuglinge sehr beruhigend wirkt, wenn man ...«

»Meint Ihr, wir können hier unser Zelt aufschlagen, mein Herr?«, fragte Marius.

»Füchslin«, sagte der Fremde. Und auf Marius’ verständnislosen Blick: »Nenn mich einfach Füchslin, mein Junge. ›Mein Herr‹ gefällt mir nicht und der ganze Titel wäre zu lang.«

»Der ganze Titel?«

»Faustus Füchslin Graf Eigenbrod, Sechster Meister der Cerberusbruderschaft, Professorus der sieben geheimen Wissenschaften, Vorsitzender des Rats der Faucofonen, Schatzmeister des Pfauenordens, Gesandter des Kaisers von Sina sowie der Herzöge von Bardien, König von Mauritz.«

»König seid Ihr auch?«

»Ach«, winkte der Mann ab, »das ist nur ein sehr kleines Inselkönigreich eine halbe Jahresreise im Südosten. Sie hatten dort noch nie einen weißen Mann gesehen. Ich konnte mir aussuchen, ob ich König oder einer ihrer Götter werden will.«

»Und warum habt Ihr Euch für König entschieden?«, fragte Marius, während er das Pferd zu der Eiche zog oder vielmehr: zu dem, was von ihr übrig geblieben war.

»Die Götter werden geopfert, Junker Tyk.«

»Oh. Verstehe«, sagte Marius. »Marius.«

»Nein, Mauritz.«

»Nicht das Königreich. Mein Name.«

»Wie?«

»Marius. Ich soll Euch Füchslin nennen – und Ihr nennt mich Marius. So nennt mich jeder. Außerdem bin ich kein Junker.«

»Marius. Ein Name lateinischer Herkunft. Ursprünglich gehörte er der Familie der Marier. Ähnlich bei den Liviern, den Corneliern oder den Antoniern. Im Süden sehr beliebt als Mario.« Füchslin beschirmte die Augen mit der Hand und blickte sich nach allen Seiten um, dann schleckte er einen Finger ab und hielt ihn in die Luft, schnupperte ein wenig hierhin und dorthin und grunzte schließlich zustimmend: »Ja, ich denke, hier ist ein guter Ort. Wir können uns hier unter dem Baum einrichten. Niemand wird uns hier finden.« Er klopfte dem Pferd den Hals. »Spätere Namen wurden oft latinisiert. Piscatorus etwa oder Sartorius, der Schneider, von Schneidern sartorere ...«

Marius sagte nichts. Er fragte sich, ob das die ganze Reise über so weitergehen würde. Wann immer Füchslin etwas sah oder hörte, verbreitete er sogleich sein ganzes Wissen darüber. Und er wusste wirklich zu allem etwas. Nicht dass Marius hätte sagen können, ob das alles stimmte. Aber allein der Drang dieses Mannes, zu allem und jedem seinen Senf zu geben, war ihm lästig.

Füchslin wuchtete seinen schweren Körper vom Pferd. Marius meinte beinahe, das Tier aufatmen zu hören.

»Und das Pferd?«, fragte er unvorsichtigerweise.

»Rosinante!«, rief Füchslin, als habe er auf diese Frage schon gewartet. »Ich habe sie in Hispanien einem Edelmann abgewettet. Zugegeben, Livius, sie ist eine alte Mähre, doch treu und zäh. Gerade das richtige Pferd für Abenteurer und Vagabunden. Über die Rasse lässt sich nur schwer etwas sagen. Ihr Stammbaum reicht, glaubt man dem wackeren Mann, der sie vor mir ritt, zurück bis zum legendären Hengst des Julius Caesar. Julius, auch so ein Name ...«

Marius’ Gedanken schweiften ab. Er band das Tier an einem der knorrigen Äste fest und hörte nur noch mit halbem Ohr zu, als der seltsame Reisende die Vorzüge von ägyptischem Tuch schilderte, darüber zu einem Pergament ganz eigener Art kam, sich über die riesigen Grabtempel der Ägypter verbreitete und endlose Wüsten, die er dort weit im Süden gesehen zu haben behauptete, in einem Land namens Africa, wo vor allem schwarze Menschen lebten. Schwarze Menschen, Marius schauderte. Schwarz, das konnten doch nur Teufel sein. Und Füchslin war angeblich König eines Reiches von Schwarzen! Marius blickte ihn aus den Augenwinkeln an. Eigentlich sah der Mann ganz harmlos aus. Marius konnte ihn sich nicht so recht als Teufelskönig vorstellen.

Sie schlugen eine Zeltbahn auf und befestigten sie mit Schnüren zwischen zwei hoch aufragenden Wurzeln. Darunter traten sie den Schnee fest und breiteten zwei Schaffelle aus. Dann zogen sie Rosinante ganz nah an die so entstandene Nische heran und schichteten die verbliebene Öffnung mit den Paketen zu, die das gute Tier befördert hatte.

Schließlich war nur noch ein schmales Fenster frei, durch das man in die Dämmerung blicken konnte. Ein Wanderer, der vorbeikäme, würde das helle Tuch für Schnee halten und die darunter geduckten Bündel und das Pferd für Teile des Baumes. Sie waren geborgen wie in einer Höhle.

»So«, sagte Füchslin. »Und nun ist es Zeit für einige Studien.« Er nahm eine kleine Öllampe aus seiner Reisetasche, eine Hand voll Zunder und zwei Feuersteine. Mit einem einzigen Versuch schlug er Feuer und entzündete sogleich einen Kienspan, um damit die Lampe anzuzünden.

Behagliches Licht breitete sich aus und Marius fühlte, wie seine durchgefrorenen Zehen kribbelten. Hier auf dem Fell konnte er seine Stiefel aufbinden und die Füße ein wenig reiben, damit sie wieder warm wurden. Aus den Augenwinkeln beobachtete er Füchslin, wie er eines der Pakete aufschnürte und ihm einige Schriftrollen entnahm. »Ähm, sollten wir nicht lieber etwas essen?«

»Wie?« Die schwarzen Augen unter den buschigen Augenbrauen hefteten sich auf ihn. Füchslin schien einen Moment zu brauchen, um sich zurechtzufinden. »Ach so, ja, natürlich. Gerne. Nimm dir nur ...« Er nickte zu einem anderen Paket hin. »Ich esse abends nichts.« Dann breitete er ein Pergament vor sich aus, zog aus der Tasche seines Wamses ein kleines Metallgestell, in das zwei gläserne Plättchen eingefasst waren, und schaute durch die Gläser hindurch auf das Schriftstück.

Marius vergaß, dass er hatte essen wollen. »Verzeihung«, sagte er, »darf ich fragen, was das für ein merkwürdiges Ding ist, das Ihr Euch da vor die Augen haltet?«

Füchslin sah auf und wieder dauerte es einen Augenblick, ehe er antworten konnte. »Du sagst es selber. Das ist ein Vordieaugen. So nenne ich es jedenfalls.«

»Und was könnt Ihr damit sehen?«

»Wie? Sehen?« Füchslins Augenbrauen sträubten sich ein wenig. »Alles. Ich kann damit alles sehen.«

»Alles?« Marius starrte auf das Zauberding. Konnte das wahr sein? Er wusste natürlich, dass es Wesen gab, die viel genauer und viel weiter sehen konnten als normale Menschen, sein Freund Golo etwa, der sich auch in tiefster Nacht gut zurechtfand, oder Meister Goldauge mit seinem goldenen Auge. Und dennoch: »Ihr könnt damit alles sehen?«

»Gewiss«, sagte Füchslin und drehte das Vordieaugen in der Hand. »Es ist ja nur Glas.« Dann aber schoss ihm offenbar ein ganz abwegiger Gedanke durch den Kopf und er fing lauthals zu lachen an. »Ach so!«, rief er. »Jetzt verstehe ich!« Er wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel, während sein mächtiger Brustkorb sich immer noch vor Erheiterung schüttelte. »Jetzt verstehe ich ... Du meinst: Ich könnte damit Dinge sehen, die man mit bloßem Auge nicht sieht!«

»Nun«, erwiderte Marius zaghaft, »Ihr sagtet doch: alles.« »Natürlich, Julius. Natürlich. Ich meinte, ich sehe damit alles besser.«

»Besser?«

»Aber ja! Sieh selbst!« Er streckte ihm das Metallgestell hin und Marius nahm es mit spitzen Fingern, gerade so als könnte es beißen. Dann hielt er sich das Vordieaugen vor die Augen und schaute hindurch. Alles, was er eben noch genau und gerade gesehen hatte, war plötzlich verschwommen und schief. Enttäuscht reichte er das Ding wieder zurück. »Also, ich finde eher, man sieht damit schlechter.«

»Du hast natürlich Recht!«, sagte Füchslin und rieb sich die Stirn über seinen eigenen Unverstand. »Wer gut sieht, sieht mit einem Vordieaugen natürlich schlecht. Nur wer schlecht sieht, sieht damit besser.«

»Dann ist es also ein Sichtverdreher?«

»So könnte man sagen«, meinte Füchslin und betrachtete das Gestell in seiner Hand, als sehe er es zum ersten Mal. »Ein guter Hinweis – muss ich mir ernsthaft durch den Kopf gehen lassen.«

Marius’ Magen knurrte. Ihm fiel wieder ein, dass er eigentlich etwas hatte essen wollen. Aus Füchslins Tasche nahm er ein Stück würziger Wurst und etwas Brot. Beides aß er mit großem Genuss, ehe er unter eine der beiden Satteldecken schlüpfte, die Rosinantes Rücken bedeckt hatten und noch stark nach warmem Pferderücken rochen. Und während er in den Schlaf hinüberdämmerte, tanzte die Flamme der kleinen Öllampe hinter seinen Augenlidern und weiße und schwarze Götter und Teufel kletterten in seine Gedanken, in die sich auch eine Frage verwob, die ihm plötzlich seltsam erschien. Warum hatte Füchslin gesagt: Niemand wird uns hier finden?

Die Stunde des Narren

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