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Füchslins Angst

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Als Marius endlich das letzte Paket verschnürt hatte, waren seine Finger bereits so steif gefroren, dass es sich anfühlte, als seien sie selbst in unbewegliche Knoten verschlungen. Er hatte seine neue Kappe tief in die Stirn geschoben und die Krempe herabgestreift, damit ihm der eisige Wind nichts anhaben konnte, doch alles in allem war der Aufbruch für ihn eher eine Art Flucht. Lange Stunden würden sie nun vor sich haben und er war nicht sicher, ob sie den Weg weiterhin so gut finden würden wie bisher. Marius war selbst nur drei- oder viermal in Buchberg gewesen und kannte die Strecke längst nicht so gut wie die in Richtung Süden oder zu den Hafenstädten hin. Nein, er fühlte Unsicherheit, die dadurch wuchs, dass ihm die Frage nicht aus dem Kopf ging, die ihn schon die halbe Nacht gekostet hatte: Niemand wird uns hier finden. – Was hatte Füchslin damit gemeint? Je mehr Marius diesen Satz in seinem Kopf bewegte, umso geheimnisvoller und gefährlicher schien er ihm. Warum sollte niemand sie entdecken? Was hatte Füchslin getan, dass er nicht entdeckt werden wollte? Oder was führte er mit sich, das ihm so sehr in Gefahr schien? Oder war es eine Gefahr, die er mit sich führte? Wer mochte ein Interesse daran haben, Füchslin zu finden?

Während sie durch den mehr als kniehohen Schnee stapften, jagten Marius die wildesten Theorien durch den Kopf. Doch letztlich blieben alle diese Überlegungen sinnlos. Er würde Füchslin fragen müssen, den er hinter sich erläutern hörte: »Die Eisvölker auf den Inseln des ewigen Winters kennen mehr als siebenunddreißig Wörter für Schnee ...«

Mehr als siebenunddreißig?, dachte Marius. Was ist das – achtunddreißig? Kennen sie achtunddreißig? Er versuchte es selbst: Schnee, Weiße Hölle, Saukaltwolle, Zähneklapperwolken, Schlottersumpf ...

»Ist da jemand hinter uns?«, unterbrach ihn Füchslins Stimme schon bei Wort Nummer fünf. Marius sah sich um, konnte aber nichts weiter sehen als Weiß, makelloses Weiß, wenn man von dem winzigen schwarzen Fleck absah, der die alte Honigeiche war, in deren Wurzelwerk sie die Nacht zugebracht hatten. »Da ist nur der Baum, unter dem wir geschlafen haben«, erwiderte er und Füchslin grunzte erleichtert. Er hatte den Kragen seines Mantels hochgeklappt und den Schal weit übers Gesicht gezogen, so dass unter seinem Hut nur noch ringsum ein weißgrauer wirrer Haarschopf sowie die tropfrote Nase herausragten. Marius bibberte zwar auch, aber Füchslin schien schon besonders verfroren zu sein. Über seine zahlreichen Westen und über den prächtigen Mantel hatte er noch eines der Schaffelle geschlungen, auf denen sie die Nacht zugebracht hatten.

Füchslin war ein seltsamer Geselle. Marius konnte sich kaum vorstellen, dass irgendjemand ihn verfolgen würde. Eher war es wohl so, dass man vor ihm flüchtete, wenn er anfing, sein Wissen zu verbreiten. Hatte also der undurchsichtige Mann etwas vor, bei dem er nicht entdeckt werden wollte? Es war das erste Mal, dass Marius froh war, absolut kein Geld zu haben. Ihn zu überfallen würde sich kein bisschen lohnen. Oder? Beim Packen war eine von Füchslins Taschen aufgegangen – Marius hatte darin schaurige Dinge entdeckt: einen getrockneten Finger, Bärenzähne und Bärenklauen, das in Harz gegossene Auge eines Reptils ... Und ein großes Büschel langer, blonder Haare! »Meine Naturaliensammlung!«, hatte Füchslin ausgerufen. »Es ist nicht leicht, solche Glanzstücke für die Forschung zu finden. Aber manchmal gelingt es.«

»Forschung?«, hatte Marius gefragt und das Büschel Haare hochgehalten. »Oh! Ach das, das ist eigentlich nur für meine lieben Untertanen auf Mauritz. Blondes Haar ist ihnen so fremd wie weiße Haut. Sie werden es mit Freuden ihren Göttern opfern ...« Marius schauderte, wenn er daran dachte.

»Bist du sicher, dass wir den richtigen Weg gehen?«, rief Füchslin von hinten.

»Gewiss, Meister Füchslin!«, entgegnete Marius. Doch er war sich keineswegs sicher. So makellos weiß die Landschaft hinter ihnen war, so strahlend war sie vor ihnen. Der ideale Ort, um sich eines zwölfjährigen Jungen zu entledigen, dem man sein Amulett stehlen oder dessen dichten Haarschopf man für ein Mohrenopfer an sich bringen wollte.

Tapfer schritt Marius durch den Schnee, an der Hand die alte Rosinante hinter sich herziehend, von der er den Eindruck hatte, dass sie auch lieber in wärmeren Gefilden unterwegs gewesen wäre.

Endlich zeichnete sich in der Ferne eine Böschung ab. Marius kannte die Stelle. Sie waren nicht so weit gekommen, wie er gehofft hatte – waren aber nach wie vor auf dem richtigen Weg. »Dort vorne können wir Rast machen, Meister Füchslin!«, rief er zähneklappernd.

»Wunderbar!«, rief Füchslin. »Dort werden wir auch essen.«

Essen, ja. Das würden sie. Und dann würde Marius ihn fragen.

Die Böschung bot einen ausgezeichneten Unterschlupf. Sie setzten sich in einen kleinen Winkel, in dem sogar Rosinante ein wenig Schutz fand. Füchslin fütterte sie mit einigen Brocken von etwas, das aussah wie getrockneter Torf, ehe er mit verschmitztem Lächeln ein kleines Säckchen aufschnürte, daran roch, ein lang gezogenes »Mhhhhhh« hören ließ und es Marius unter die Nase hielt. »Hier, Cornelius, greif zu! Es sind die Besten, die es diesseits der Schattengrenze gibt.«

Marius schnupperte vorsichtig in Richtung des Säckchens und fasste dann mit spitzen Fingern hinein, als würde er erwarten, in eine Schlangengrube zu greifen. Was er herausbeförderte, sah ungefähr so aus wie das, was kleinere Hunde aus sich herausbefördern, wenn man sie ins Freie ließ – nur dass es glänzte und irgendwie süßlich roch.

»Datteln«, erklärte Füchslin.

»Was soll ich tun? Datteln? Wie geht das?«, fragte Marius verwirrt.

»Nein, nein. Du sollst nicht datteln, das sind Datteln!« Füchslins Augenbrauen wackelten höchst amüsiert. »Sie heißen so.«

»Aha. Und was ist es genau?«, wollte Marius wissen, dem der Gedanke an einen Hund nicht mehr aus dem Kopf ging.

»Nun. Ein Obst. Es wächst auf Bäumen. Auf Palmen, um genau zu sein«, erläuterte der rundliche Mann und fischte selbst nach einem solchen Ding.

»Auf Psalmen? Dann ist es Zauberei!« Marius warf das Ding wieder in den Sack zurück.

»Auf Palmen, mein Sohn«, erwiderte Füchslin, »nicht auf Psalmen. Palmen, das sind Bäume, wie sie in südlichen Ländern wachsen. Sie können so hoch werden wie ein Kirchturm und bestehen oft aus einem einzigen langen Stamm, an dessen Spitze sich fächerartig einzelne, riesige Blätter ausbreiten ...«

Marius ließ ihn erzählen und griff noch einmal in den Sack, weil ihm schien, dass Füchslin den kleinen, schwarzbraunen Batzen, mit großem Genuß verzehrte. Er verdrängte den Gedanken an den Hund und schob sich auch so eine Dattel zwischen die Zähne, die, sowie sie sich in das süßlich duftende Stück vergruben, wie durch einen lächerlichen Fluch darin klebten und kaum mehr auseinandergingen. Es schmeckte süß und köstlich und klebrig und ein bisschen eklig zugleich. Gleichzeitig konnte Marius einen leicht fauligen Geruch wahrnehmen. Er überlegte, wie lange diese Frucht wohl schon nicht mehr an ihrem Palmenbaum hing, und nuschelte: »Un-man-gan-sie-sischer-no-essn?«

»Hm? Oh ja, ja natürlich. Sie sind praktisch ewig haltbar, wenn sie getrocknet sind. Frisch sind sie eher trocken und fest.«

Auch wenn Marius nur wenige solcher Datteln herunterbekam, stellte er doch fest, dass sie ziemlich rasch satt machten und ihm Kraft gaben. Er spülte den klebrigen Rest, der ihm zwischen den Zähnen hing, mit etwas wässrigem Wein hinunter und atmete auf, als die ungewöhnliche Mahlzeit ein Ende hatte. Schließlich räusperte er sich: »Meister Füchslin«, sagte er und seine Stimme klang seltsam belegt.

»Ja?« Füchslin sah ihn aufmerksam und freundlich an. Marius kam sich plötzlich albern vor. Und doch – ehe er noch lange weitergrübelte, stellte er lieber seine Frage: »Ihr sagtet, als wir gestern unser Nachtlager aufschlugen: Hier kann uns niemand entdecken.« Er machte eine kleine Pause und beobachtete, wie sich Füchslins buschige Brauen hoben. »Warum war Euch das so wichtig?«

Der beleibte Mann blickte sich über die Schulter, als könne jemand hinter ihm stehen und Geheimes und Vertrauliches erlauschen, dann beugte er sich zu Marius hin, sein Gesicht war nicht unfreundlich geworden, aber es wirkte mit einem Mal verschlagen und die Augen blitzten wie geschliffene Smaragde. »Virgilius«, raunte Füchslin, »du kannst es nicht wissen, aber ich bin ein großer Gelehrter.« Wieder blickte er sich um, während Marius sich ein spöttisches Grinsen verkniff. Wenn er das noch nicht gemerkt hätte, hätte er ja mit Blindheit geschlagen sein müssen – und vor allem mit Taubheit. »Nicht möglich«, sagte er.

»Doch!«, beteuerte Füchslin. »Ich habe die ganze bekannte Welt bereist und manch unbekanntes Land entdeckt, ich bin Meister der Astronomie, der Astrologie, der Alchemie, der Medizin, des Bauwesens, der Geografie, der alten und neuen Sprachen, des Rechts und des Links ...«

»Des Links?«

»Die Wissenschaft vom Wesen der Linkshänder«, erklärte Füchslin. »Ich bin selber einer.«

»Ach so«, staunte Marius. »Ähm, aber meine Frage war eigentlich ...«

»Die Frage! Jaja, die Frage!« Füchslin beugte sich noch weiter herunter, beinahe als wolle er in Marius’ Bauch sprechen. »Wie du dir denken kannst, bedeutet viel Ruhm auch viel Neid.« Seine Augenbrauen wackelten bedeutungsvoll. »Überall auf der Welt gibt es Menschen, die an meinen Erkenntnissen Anteil haben wollen. Sie verfolgen mich, versuchen auszukundschaften, was ich Neues herausgefunden habe über Gott und die Welt, klauen mir meine Erfindungen und verkaufen sie dann als eigene. Am schlimmsten aber ...« Und jetzt flüsterte er, dass Marius sich seinerseits nah zu ihm hinbeugen musste: »Am schlimmsten sind meine beiden Erzrivalen Rasmus vom Rabendamm und Lupus Füchslin – und natürlich die Mönche vom Kloster Sankt Hadumar, die mich seit einigen Monaten verfolgen, na ja, seit ich ein Stück von ihrer Reliquie zu Forschungszwecken an mich genommen habe, um genau zu sein.« Und bei diesen Worten klopfte er auf eine von Rosinantes Satteltaschen. Marius schluckte. »Lupus Füchslin?«, fragte er dann. »Er heißt genauso wie Ihr?«

»Mein Bruder«, erklärte Füchslin knapp und setzte sich wieder auf. »Und mein größter Neider. Wenn er könnte, würde er mich wie Daniel in die Löwengrube werfen.«

Marius schauderte. Wenn Lupus Füchslin schon einmal einen Mann in die Löwengrube geworfen hatte ... »Daniel? War das auch ein Bruder?«

»Wie? Was?« Für einen Augenblick schaute Füchslin verwirrt, dann lachte er sein schallendes Gelächter und meinte: »Junge, Junge, dir kann man ja noch einiges beibringen!«

Marius konnte Füchslins Erheiterung nicht verstehen. Und auch wenn Füchslin anscheinend das Vergnügen am Scherzen nicht verloren hatte, so war ihm doch jedenfalls alles andere als wohl bei dem Gedanken, dass womöglich hinter dem nächsten Baum ein mörderischer Erzrivale oder ein paar rachsüchtige Mönche auf sie warteten. Marius wollte lieber gar nicht wissen, was für eine Reliquie das war, von der Füchslin etwas an sich genommen hatte. Er musste an den Finger denken, den er im Gepäck gesehen hatte ...

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