Читать книгу Wie ein Schmetterling im Käfig - Frauke Bielefeldt - Страница 10
Meine eigene Geschichte
ОглавлениеBis zu meinem siebzehnten Lebensjahr war ich ein ganz normaler Schmetterling; ich flog durch meine Kinder- und Jugendwiese, kleine Verschnaufpausen wegen Bauchweh oder Erkältung inbegriffen, wie bei jedem Kind.
Dann kam der Ostersonntag 1990. Auf einer Jugendfreizeit bekam ich eine heftige Grippe, von der ich mich nie wieder erholen sollte. Wochenlang ging es auf und ab; immer wenn ich meinte, bald auskuriert zu sein, kam eine neue Welle von leichtem Fieber, geschwollenen Lymphknoten, Halsschmerzen und bleierner Erschöpfung. Verschiedene Verdachte wurden nicht bestätigt und so blieb nur die vage Aussage, dass mit meinem Immunsystem etwas nicht in Ordnung sei. Die verbleibenden anderthalb Schuljahre überstand ich, indem ich nachmittags und am Wochenende komplett im Bett (oder auf dem Sofa) lag. So konnte ich meine Fehlzeiten an den Vormittagen gerade so in Grenzen halten, dass ich mein Abitur machen durfte. Schon hier erlebte ich wahre Wunder, wenn ich rechtzeitig vor den Klausuren den Stoff noch so aufholen konnte, dass sich meine Ausfälle nicht in den Zensuren niederschlugen.
So lernte ich, mit meinem eingeschränkten Rhythmus halbwegs zurechtzukommen, und begann ein Studium. Doch am Ende des ersten Studienjahres passierte die zweite Katastrophe: Während eines Urlaubs in der Tschechei holte ich mir Insektenstiche, die sich böse entzündeten. Zwei Wochen war ich richtig krank und meine Beine mit den geschwollenen Entzündungsherden übersät. Es sah ganz nach einer Borreliose aus. Doch weil der Arzt die entsprechenden Werte im Blut damals nicht nachweisen konnte, bekam ich keine Behandlung.
In den Wochen danach wurde meine Erschöpfung wieder deutlich schlimmer, außerdem stellten sich im nächsten Jahr (1993) schlimme Muskelschmerzen ein, die über die bleierne Abgeschlagenheit weit hinausgingen. Als ich mich vor Schwachheit kaum noch auf dem Stuhl halten konnte, war ich endlich bereit, bundesweit nach Ärzten zu suchen, die mir weiterhelfen konnten. Ich hatte schon einmal von dem Chronischen Fatigue-Syndrom (CFS, vgl. Anhang 3) gelesen. In der Beschreibung hatte ich mich vollkommen wiederfinden können, sodass ich mich an einen spezialisierten Arzt in Düsseldorf wandte.
Nach Blutuntersuchungen im Wert von 8 000 DM waren wir einen echten Schritt weiter: Mein Immunsystem bestand aus einem Durcheinander von zu hohen und zu niedrigen Werten, ich hatte doch eine Borreliose (es gab inzwischen ein neues Testverfahren) und man fand in meinem Blut eine Chemikalie, die mich vergiftet hatte (PCP10, früherer Inhaltsstoff von hoch wirksamen Holzschutzmitteln). Sofort war mir alles klar: Wir hatten 1987 im Haus umgebaut und in meiner neuen Wintergartenecke für die Fußbodenhölzer ein Mittel verwendet, das eigentlich nur für den Außenbereich vorgesehen war. Es hatte monatelang gestunken, aber wir hatten uns nichts weiter dabei gedacht; erst in den Jahren darauf sollten Berichte über durch Holzschutzmittel verseuchte Kindergärten und Schulen in die Medien kommen.
Nun erinnerte ich mich, dass ich schon ein Jahr vor dem besagten Ostersonntag sehr viel häufiger krank gewesen war als zuvor und in der Schule oft meinen Kopf auf dem Tisch abgelegt hatte. Ich hatte das alles nicht weiter beachtet und mir gedacht: Nun werde ich halt älter! Auf einmal schien das Puzzle zusammengesetzt und ich bekam über Monate hinweg verschiedene Infusionen und Medikamente verabreicht, um die Gifte aus dem Körper zu holen, die Borreliose zu bekämpfen und das Immunsystem wieder aufzubauen. Mir wurde gesagt, dass es mir in einem halben Jahr wieder gut gehen würde, und so stellte ich meine Urlaubs- und Studienpläne darauf ein.
Seitdem sind viele Jahre vergangen. Es geht mir kein bisschen besser, stattdessen sind verschiedene Folgeprobleme dazugekommen. Ich habe zig verschiedene Untersuchungen und Behandlungsversuche mitgemacht, bin operiert worden und habe auch die psychosomatische und die alternativmedizinische Schiene probiert. Ich kann nur ein paar Stunden in der Woche arbeiten, jeden Tag brauche ich sehr viel mehr Schlaf als andere und dazu weitere Ruhephasen. Ich muss einen Rollstuhl benutzen, um länger als ein paar Minuten auf den Beinen sein zu können, zum Beispiel um eine Stadt zu besichtigen oder im Wald zu spazieren. Stehen in einer Warteschlange ist unmöglich, deswegen hole ich mir einen Stuhl (inzwischen habe ich für solche Gelegenheiten einen Fischerstuhl, den man praktisch als Rucksack auf dem Rücken mitnehmen kann) oder bitte jemanden, meinen Platz zu halten.
Jede Veranstaltung oder Feier wird zur Tortur, wenn fast alles im Stehen stattfindet, die Luft schlecht ist oder ich keine Möglichkeit finde, mich zwischendurch hinzulegen. Außerdem bin ich extrem erkältungsanfällig und habe unzählige grippale Infekte im Jahr. In manchen Zeiten kommen heftige Einschlafstörungen oder orthopädische Probleme dazu. Es vergeht kaum eine Woche ohne ein Zusatzproblem zur eigentlichen Erschöpfungsproblematik.
Ich fühle mich oft wie in einem Käfig. Der Käfig heißt ME/CFS. („ME“ ist eine andere Bezeichnung für das nach der WHO unter G93.3 definierte Chronische Fatigue-Syndrom und bedeutet „Myalgische Enzephalomyelitis; vgl. Anhang 3). Doch selbst diese Bezeichnung ist umstritten, besonders in Deutschland. Diese Krankheit hat vor vielen Jahren mein Leben so zerschossen, dass es seitdem keine Normalität mehr gegeben hat. Trotzdem halten mich viele Ärzte für quasi gesund – wie so oft bei ME/CFS-Patienten, die häufig durchs Raster schulmedizinischer Diagnostik fallen, weil die spezifischen Biomarker (noch!) fehlen, die unwiderlegbar beweisen würden, dass wir uns unsere Beschwerden nicht einbilden. Auf den ersten Blick machen die meisten auch einen völlig normalen Eindruck und wirken nicht schwer krank, sodass es dann schwer zu glauben ist, dass man kaum vom Parkplatz bis zum Haus laufen kann geschweige denn in der Lage ist, Stunden am Stück zu arbeiten.
Alle Anstrengung führt zu Erschöpfung, ob ich gehe, stricke oder denke. Aber das sieht man erst hinterher. Selbst ich spüre es so richtig erst einige Stunden später, sodass ich ständig in der Versuchung stehe, mich zu überfordern und hinterher wieder die viel zu hoch verzinste Rechnung zahlen zu müssen. Auch das ist Teil meines Käfigs: mich ständig überwachen zu müssen, um mich nicht in Katastrophen hineinzureiten. Zudem ist mein Käfig für viele unsichtbar – eine Krankheit, von der man in Deutschland noch nicht genügend gehört hat (vgl. Anhang 3), und eine Patientin, die auf den ersten Blick nicht krank wirkt. Wie viele andere habe ich nicht nur mit meinem Käfig zu kämpfen, sondern auch damit, dass andere diesen Käfig nicht wahrnehmen und Dinge von mir verlangen, die für mich einfach unmöglich sind.
Wer ist „schwerwiegend chronisch krank“?
(Richtlinie vom 22.1.2004 zur Gesundheitsreform vom 1.1.2004, im Sinne des § 62 des SGB V, zuletzt geändert am 17.11.2017)
Schwerwiegend chronisch krank sind Patienten, die sich
in einer Dauerbehandlung befinden, die seit mindestens einem Jahr mindestens einen Arzttermin pro Quartal erforderlich macht,
und außerdem
pflegebedürftig sind und Pflegegrad 3–5 erhalten haben (Sozialgesetzbuch/SGB XI, Kap. 2),
oder
einen Schwerbehinderungsgrad (GdB) bzw. eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von mindestens 60 % nachweisen können (wobei GdB oder MdE zumindest mitbegründet sein muss durch die Krankheit, die die Dauerbehandlung erfordert)
oder
nach ärztlicher Bestätigung einer kontinuierlichen medizinischen Versorgung bedürfen, ohne die eine lebensbedrohliche Verschlimmerung entstehen würde oder zumindest die Lebenserwartung vermindert oder eine dauerhafte Beeinträchtigung der Lebensqualität eintreten würde.