Читать книгу Wie ein Schmetterling im Käfig - Frauke Bielefeldt - Страница 11
Jeder Käfig ist anders
ОглавлениеAndere Krankheiten bringen andere Probleme und Belastungen mit sich. Vielleicht sind Sie nierenkrank und müssen jeden zweiten Tag auf der Dialysestation verbringen. Oder Sie leiden an Rheuma oder Migräne und müssen mit unerträglichen Schmerzen zurechtkommen. Wer lang anhaltende Schmerzen nicht kennt, kann kaum ermessen, wie viel Kraft das raubt und wie sehr andere Gefühle dadurch in Mitleidenschaft gezogen werden.
Besonders belastend ist die Situation, wenn nicht herausgefunden wird, worunter man leidet. Ein Mann erzählte einmal in einer Talkshow, dass er schon lange unter seltsamen Zuckungen gelitten hatte (Tics). Es war erlösend für ihn, als endlich jemand die Diagnose stellen konnte: Tourette-Syndrom. „Jetzt hat das Kind einen Namen!“11 Auch für mich war es eine ungeheure Erleichterung, als ich Ärzte fand, die mit der Diagnose „ME/CFS“ arbeiteten. Es macht die Sache noch einmal doppelt so schwer, wenn man schwer krank ist, aber die Krankheit noch nicht einmal benennen kann. Oder wenn es eine Diagnose gibt, aber diese unter den Ärzten nicht anerkannt oder umstritten ist. Das kommt häufiger vor, als man meinen würde. Hier gerät der Patient in die seltsame Rolle, seine eigene Krankheit noch verteidigen zu müssen – als ob er sie irgendwie behalten wollte.
Ein grundlegender Unterschied im Krankheitserleben besteht darin, ob die Krankheit nach außen hin sichtbar ist oder nicht. Menschen, die mit einer Gehbehinderung leben müssen, im Rollstuhl sitzen oder Gliedmaßen amputiert haben, sind mit völlig anderen Problemen konfrontiert als Menschen mit inneren Krankheiten: Viele Orte sind für sie unerreichbar, viele Positionen erst recht, und sie müssen ständig ihren Mitmenschen beweisen, dass sie neben ihrer Behinderung doch eigentlich ganz normale Menschen sind. Das Mitgefühl, das ihnen hierzulande oft prompt entgegenschlägt, ist natürlich besser als offene Ablehnung, wird aber oft als abwertend statt hilfreich empfunden. Man traut ihnen einfach nichts zu!
Eine weitere Gruppe häufiger chronischer Erkrankungen sind psychische Krankheitsbilder. Diese Gruppe hatte ich zunächst gar nicht im Blick, als ich 2005 dieses Buch schrieb, doch es zeigte sich, dass auch Menschen, die von Depressionen, Posttraumatischen Belastungsstörungen oder ähnlichen langwierigen (und oft lebenslangen) Leiden betroffen sind, sich in vielem im Buch wiederfanden. Leben mit vorwiegend psychischer Krankheit bringt seine ganz eigenen Herausforderungen mit sich, da der „Käfig“ noch näher an den Kern des Menschen heranrückt als beim Leben mit einem kranken Körper und die Lasten nach außen hin noch unsichtbarer und daher für andere oft noch weniger nachvollziehbar sind als bei körperlichen Gebrechen.
Auch die Verläufe der Krankheiten können sehr unterschiedlich sein. Während einer mit einer konstant schlechten Situation lebt, werden andere von Schüben heimgesucht (rezidivierend – wiederkehrend) oder müssen zusehen, wie es immer weiter bergab geht (progredient – fortschreitend). Und natürlich der Schweregrad der Einschränkungen und Beschwerden – manche werden sich beim Lesen dieses Buches wiederfinden, während es einigen zu krass dargestellt erscheinen wird und anderen wiederum als zu harmlos.
Besonders erschütternd ist chronische Krankheit bei Kindern. Manche müssen sich mit Neurodermitis oder Heuschnupfen herumschlagen, andere bekommen schon früh schwere Krankheiten wie Diabetes. ME/CFS-kranke Kinder können oft nicht einmal am normalen Schulunterricht teilnehmen. Wer schon als Kind mit Krankheit aufwächst, hat einen ganz anderen Start ins Leben. Andererseits lernt er schon früh, mit seinen Rahmenbedingungen umzugehen.
In Gesprächen mit Körperbehinderten, die seit ihrer Geburt eingeschränkt waren, fiel mir auf, dass sie ein ganz anderes Lebensgefühl beschreiben. Sie kannten ihren Körper und ihr Leben gar nicht anders, während ich siebzehn Jahre lang ein ganz normales gesundes Leben geführt habe, das ich lange noch irgendwie als Ausgangsstandard verinnerlicht hatte. Beides hat seine Tücken: Sie hadern nicht so sehr mit ihrem Zustand, kennen nicht diese tiefe innere Rebellion und Auflehnung gegen den eigenen Leib. Dafür haben sie eher das Gefühl, in einer Schublade zu stecken und vieles, was zum Leben Gesunder dazugehört, gar nicht zu kennen. Wie ein Blinder, der gar nicht weiß, was Sehen ist – oder der es einmal gekannt hat und nun umso schmerzhafter vermisst.
Ein letztes Merkmal, das den ganz persönlichen Krankheitskäfig entscheidend mitbestimmt, liegt darin, ob die Krankheit lebensbedrohlich ist oder nicht. Wenn der Tod droht, ist der kranke Mensch mit ganz neuen Herausforderungen an seine Existenz konfrontiert. Auch wenn es ihm zwischendurch gut geht, ist sein Leben doch völlig auf den Kopf gestellt und von dem drohenden Ende überschattet.