Читать книгу Wie ein Schmetterling im Käfig - Frauke Bielefeldt - Страница 15
Ignoranz in Weiß
ОглавлениеSzenario 3 sieht folgendermaßen aus:
Ihr Arzt meint, genau zu wissen, was mit Ihnen los ist, und behandelt Sie entsprechend. Die Blutwerte, die ihn interessieren, verändern sich tatsächlich nach seinen Vorstellungen, doch Ihr Zustand ändert sich überhaupt nicht. Jedes Mal, wenn Sie ihn darauf aufmerksam machen, verweist er auf die Befunde und besteht darauf, auf dem richtigen Weg zu sein. Irgendwann wirft er Ihnen vor, dass Sie eigentlich gar nicht gesund werden wollen. Denn die Alternative, dass er anscheinend doch nicht am Kern des Problems angesetzt hat, kommt für ihn nicht infrage.
Das ist auch meine eigene Erfahrung. Im Laufe meiner Krankheitsgeschichte bin ich schon auf ein gutes Dutzend Nebenschauplätze hin therapiert worden, darunter Immundefekt (Immunglobuline), Schilddrüse (Hashimoto), Quecksilbervergiftung, Darmpilzinfektion (Candida), chronische Entzündungen (Streptokokken und Mycoplasmen) und Nervensystem (Polyneuropathie). Alle Erscheinungen waren nachweisbar vorhanden.
Doch es wurde eben nicht alles besser, als man diese Übeltäter anging. Strahlende Ärzte präsentierten mir verbesserte Laborbefunde, während meine Symptomatik unverändert blieb. Es war fast unmöglich, mit der Information durchzudringen, dass mein Befinden nicht ihrer Interpretation entsprach. Jeder dachte wohl insgeheim, die Auswirkungen würden zeitverzögert einsetzen. Wenn ich nicht jeweils nach ein paar Jahren von mir aus die Therapieversuche abgebrochen hätte, würde ich vielleicht heute noch auf dieselbe Weise weiterbehandelt.
Das Phänomen, dass Informationen des Patienten nicht ernst genommen oder gar nicht erst registriert werden, ist auch auf praktischeren Ebenen zu beobachten. Hier ein paar Anekdoten aus meiner eigenen Patientenlaufbahn. Das Schlimme ist nicht, dass mir diese Dinge passiert sind, sondern dass sie in unserem Medizinbetrieb gang und gäbe sind.
Da war zum Beispiel der Ärger mit meinen Venen. Sie waren in den ersten Jahren etwas schreckhaft, was für Blutabnahmen und Infusionen recht unpraktisch wurde. Als ich eine Zeit lang dreimal in der Woche an den Tropf kam, waren irgendwann alle üblichen Zugänge so vernarbt, dass es manchmal zwölf Anläufe brauchte, bis endlich ein Weg zur Blutbahn gefunden wurde. Ein fremder Krankenhausarzt hatte mir einmal inzwischen so lange und fest den Arm abgebunden, dass mir schwarz vor Augen wurde. Ich bat ihn, mich hinlegen zu dürfen, doch er bestand darauf, dass es kein Problem gebe. Ich seufzte gerade noch: „Ich bin gleich weg …“, dann sank ich in Ohnmacht. Als ich wieder zu mir kam, war ich umringt von Schwestern. Der Arzt war noch im Praktikum; vielleicht wird er beim nächsten Mal anders damit umgehen.
Während eines anderen Krankenhausaufenthalts lief es nicht besser. Es dauerte wieder länger als erwartet, eine Vene zu finden. Das Blut staute sich immer mehr und mir wurde schummerig, also bat ich die Ärztin, den Druck zu lockern.
„So ’n Quatsch, so könnten Sie hier zwei Stunden sitzen!“, war ihre Antwort. Als die Kanüle für die Infusion endlich gelegt war, schaffte ich es gerade noch aus dem Stationszimmer nach draußen. Auf dem Flur fiel ich dann ohnmächtig zu Boden, mit angelegter Infusion am Arm, den Infusionsständer in der Hand. Niemand hat es gesehen.
Wirklich widersinnig erscheint es mir, wenn Informationen über die Krankengeschichte (Anamnese) nicht einbezogen werden. In der Theorie spielt dies eine große Rolle, aber in der Praxis sieht es oft anders aus. Ein eigentlich sehr renommierter Arzt (immerhin Chefarzt einer Uniklinik) sah in meiner geschädigten Schilddrüse die Ursache für alles, dabei zeigte ich ihm anhand meiner Befunde, dass die Schilddrüsenwerte in den ersten Jahren in Ordnung gewesen waren.
Besonders eindrücklich erlebte ich dies auch bei meinem Krankenhausaufenthalt in der Diagnostik. Die Stationsärztin zeigte anfangs echte Anteilnahme. Dann hieß es, meine Beschreibungen würden sich ja wirklich ganz nach CFS anhören, ob ich etwa vorher die Seiten im Internet gelesen hätte? (Hatte ich nicht, meine Beschreibungen hörten sich deshalb so ähnlich an, weil meine Symptome so ähnlich waren.) Doch diese Diagnose genügte ihnen nicht, denn sie wollten unbedingt „was Richtiges“ finden, wie sie sagten. Als schließlich gegen Ende nur die üblichen diffusen Unauffälligkeiten auf dem Papier standen, kam die Frage, die wohl jeder ME/CFS-Kranke kennt und fürchtet: „Machen Sie eigentlich Sport?“
„Nein, ich kann leider nicht“, lautete meine Antwort. Da ich die Logik dahinter inzwischen kannte, beeilte ich mich hinzuzufügen: „Aber als die Krankheit ausbrach, habe ich im Verein Handball gespielt und bin in der Woche über 100 Kilometer Rad gefahren.“
Ich traute meinen Augen nicht, als ich hinterher im Bericht las: „Insgesamt … raten wir zu einem Kuraufenthalt mit körperlichem Training wegen bestehenden Trainingsmangels.“ Der zugrunde liegende Befund (hoher Laktatanstieg aufgrund einer extrem niedrigen anaeroben Schwelle) wurde für mich im Nachhinein dennoch hilfreich (Hinweis auf gestörte Mitochondrienfunktion). Sie hatten ihn dort einfach nicht deuten können, aber die Begründung mit dem fehlenden Sport hätte aufgrund meiner Anamnese eigentlich ausgeschlossen werden müssen.
Manche Ärzte reagieren richtig beleidigt, wenn man ihnen als Patient Informationen geben möchte. Als mich mein Hausarzt einmal für eine Spezialuntersuchung (EEG = Elektroenzephalogramm) zu einer Neurologin schickte, wusste man dort mit meiner Überweisung nichts anzufangen. Ich war inzwischen daran gewöhnt, dass ich mich mit ME/CFS besser auskannte als viele Ärzte, und erklärte ihr, was es damit auf sich hat und warum ich dafür ein EEG bräuchte. Im Arztbrief stand später, ich hätte mein „Gegenüber unterschwellig entwertend behandelt“ und bräuchte eine Psychotherapie. Wir hatten gerade einmal fünf Minuten miteinander geredet und das ausschließlich darüber, warum mein Hausarzt ein EEG haben wollte. Am liebsten hätte ich ihr auch ein Gutachten geschrieben.