Читать книгу Wie ein Schmetterling im Käfig - Frauke Bielefeldt - Страница 6
Zum Einstieg: Eine Idee gewinnt Gestalt
ОглавлениеAls ich im Herbst 2003 an einem Wochenende für Kranke und Angehörige von der Organisation Christen im Gesundheitswesen teilnahm, fiel mir sofort auf, wie herrlich entspannt man hier mit dem Thema „chronische Krankheit“ umging. Keine bedrückende Stille, keine Patentlösungen oder Appelle – es lag eine Ruhe im Raum, in der jeder seinen Platz finden konnte. Behutsam beleuchteten die Mitarbeiter verschiedene Aspekte des Lebens mit chronisch eingeschränkter Gesundheit. Ich spürte, dass es die ganze Zeit wirklich um uns ging. Obwohl unsere Krankheitsbilder recht unterschiedlich waren, gab es da einen gemeinsamen Boden, der sich in Worte fassen ließ, die kommunizierbar waren. Manches an Fragen hatte ich ähnlich gelöst, manche vergleichbare Strategie gefunden.
Gestärkt kam ich nach Hause und schrieb in den nächsten Tagen das Gedicht „Ein ganzes Leben“. Als ich es anschließend einigen Freunden schickte, war ich von den Reaktionen überrascht. Was ich als kleine Selbstmitteilung gedacht hatte, berührte sie sehr. Ich hatte in den letzten Jahren als Redakteurin teilzeitlich für verschiedene Zeitschriften arbeiten können und so reifte in mir nun der Wunsch, einmal meine Gedanken zum Umgang mit Krankheit aufzuschreiben.
Meine eigene Krankheitsgeschichte zog sich nun schon über dreizehn Jahre hin mit allen ihren Höhen und Tiefen (mehr Tiefen), Erfahrungen und Beobachtungen. Während des Seminars war mir daher vieles vertraut gewesen. Und doch hatte es so unsagbar gutgetan, dies alles einmal von außen gesagt zu bekommen! Angesichts der enormen Zahlen über chronisch Kranke in Deutschland ist es erstaunlich, wie wenig zu diesem Thema zu lesen ist. Krankheiten scheinen mit recht exotischen Symptomen aufwarten zu müssen, um einen Platz im öffentlichen Bewusstsein ergattern zu können. Wenn es nicht gerade eine ins Auge springende Behinderung ist oder die Dramatik der Todesnähe mitschwingt (wie bei Krebs), führen viele Kranke ein wahres Nischendasein. Auch Aids ist wohl vor allem deswegen so beachtet, weil es ansteckend ist, nicht weil man sich so sehr dafür interessieren würde, wie Menschen mit dieser Krankheit zurechtkommen. Viele erkrankte Menschen haben es schwer, Verständnis für ihre Situation zu erlangen und die Unterstützung zu bekommen, die sie brauchen, um am beruflichen und gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können.
Es hätte mich also eigentlich nicht wundern sollen, dass der erste Verlagslektor, den ich auf meine Buchidee ansprach, mein Thema äußerst speziell fand und mich skeptisch auf die „sehr kleine Zielgruppe“ hinwies. Sein nächster Einwand lautete, dass ich „nicht vom Fach“ sei – vielleicht eine Erklärung dafür, weshalb oft so wenig über das Leben mit Krankheit zu lesen ist? (2020 hat sich dies ein wenig verändert; so erschienen etwa 2013 das Buch Eigentlich kerngesund – Mit Hindernissen mutig leben von der an MS erkrankten Andrea Schneider und Alles außer Mikado – Leben trotz Parkinson von Jürgen Mette, 2017 dann das Buch Chronisch hoffnungsvoll von Kerstin Wendel.) Selbst die deutsche Bundesregierung hatte es verpasst, eine Definition von chronischer Krankheit zu erarbeiten, als sie Anfang 2004 die Zuzahlungen im Gesundheitswesen einführte und den Chronikern eine Ausnahmeregelung gewährte. Monatelang wusste niemand, wer eigentlich in diese Rubrik gehörte, und es stellte sich heraus, dass wohl doch sehr viel mehr Menschen davon betroffen waren, als man vermutet hatte.
So wuchs in mir der Wunsch, meine Idee in die Tat umzusetzen. Nicht dass ich meine Erlebnisse besonders außergewöhnlich gefunden hätte. Aber vielleicht sind es gerade diese ganz banalen Alltagsszenen, die anderen Kranken helfen können, ihre eigene Last zu tragen, und anderen Lesern, sie besser zu verstehen. Als Theologin hatte ich mich auch auf einer sehr grundlegenden Ebene mit den Fragen nach Leid und Sinn beschäftigt.
Irgendwann kam in meinem Kopf der Schmetterling dazu. Das Bild von dem leichten, quirligen Wesen, das eigentlich auf eine Blumenwiese gehört und nun in einen Käfig eingesperrt ist, wird uns das ganze Buch hindurch begleiten. Es vereint für mich beides: den Blick auf die „artfremde“, unangenehme Realität des Käfigs, aber auch die Perspektive für eine bewusste Lebensgestaltung, die auch diesem Käfig mit seinen Beschränkungen ein lebenswertes Dasein abringen kann.
Unser Schmetterling wird uns mitnehmen auf die Reise durch seinen Käfig. Denn je eingehender wir seine Gegebenheiten erkunden, desto besser können wir unsere verbleibenden Spielräume entdecken und unser Krankheitsmanagement aktiv gestalten. Als Erstes wird er uns die unmittelbaren praktischen Folgen aufzeigen, wie sie in Gestalt unseres kranken Körpers, der Medizin und des Gesundheitswesens auf uns zukommen (Teil 1). In einem zweiten Schritt wird er uns tief in seine Schmetterlingsseele blicken lassen und Fragen der Identität und der Gefühle beleuchten (Teil 2). Als Drittes wird er uns auf die Ebene der Kontakte und Beziehungen führen und uns aufzeigen, welche besonderen Konflikte durch Krankheit entstehen können und welche Lösungsansätze es gibt (Teil 3). In einem vierten Schritt leitet er uns zu Fragen des Glaubens und der Spiritualität, die mit Krankheit einhergehen (Teil 4).
Machen wir uns also auf den Weg! Er wird gesäumt sein von einigen Gedichten, die während der letzten Jahre entstanden sind. Jedes Kapitel wird mit einem oder mehreren Anstößen enden, die dazu anregen wollen, mit einem ganz konkreten Schritt tatsächlich zu beginnen. Sie richten sich – wie das ganze Buch – nicht nur an kranke Menschen, sondern auch an Angehörige, Freunde und Bekannte, Ärzte und Psychologen, Seelsorger und Gemeindeleiter. Krankheit betrifft nie nur den Patienten, sondern auch sein Umfeld.
Dass ich durchweg nur die männlichen Formen verwende, hat rein praktische Gründe. Wer sich daran stößt, möge sich an den vielen Beispielen im Buch erfreuen, die von Frauen handeln. Kranke nenne ich „Kranke“, „kranke Menschen“ oder „Patienten“ – der Begriff „Betroffene“ drückt für mich eine künstliche Distanz aus, die mir im Umgang mit kranken Menschen manchmal negativ auffällt. Mein Wunsch ist, dass die folgenden Seiten helfen mögen, diese Distanz ein wenig kleiner werden zu lassen.