Читать книгу Wie ein Schmetterling im Käfig - Frauke Bielefeldt - Страница 16
Die Psychofalle
ОглавлениеDas bringt uns zu einer weiteren Variante von Arztgeschichten, und die verläuft so:
Keiner der Fachleute findet etwas Bedeutsames. Ihr Hausarzt schickt Sie daraufhin zum Psychologen. Der findet auch nichts Konkretes, aber da Sie darauf beharren, dass es Ihnen nicht gut geht und Sie wenig Kraft haben, attestiert er Ihnen eine leichte Depression. Wenn Sie die psychischen Symptome dafür nicht bieten können, gibt es noch die larvierte (= verkappte) Form. Oder man nimmt an, dass Sie sich Ihren kranken Zustand nur einbilden, und erklärt Sie zu einem Hypochonder (wenn es nicht gleich darauf hinausläuft, dass Sie ein Simulant seien, der seinen Zustand bewusst vortäuscht, um an Sozialleistungen zu kommen).
Das geschieht leider ziemlich oft. Selbst in Studienzeiten hatte ich dies schon öfter miterlebt. Ein Kommilitone hatte nach einem Sportunfall schwere Schwindelanfälle. In der ersten Klinik konnten die Ärzte auf dem Röntgenbild aber nichts Verdächtiges erkennen und so wurde ihm nahegelegt, dass es die Psyche sei. (Nach einem Sportunfall!) Spätere Untersuchungen erbrachten dann doch einen Befund an der Halswirbelsäule und die Psycho-These war sofort vom Tisch. Eine Studienkollegin brauchte nach einer Borreliose einige Monate, um wieder auf die Beine zu kommen. Irgendwann wurde ihr gesagt, dass es wohl die Psyche sei, was bei ihr wirklich an den Haaren herbeigezogen war. Ohne konkrete Ansatzpunkte wurde einfach eine Behauptung aufgestellt, da man sich nicht anders zu helfen wusste.
Ein so wenig erforschtes Krankheitsbild wie ME/CFS macht die Sache natürlich nicht einfacher. Mein erster Internist meinte, ich hätte vielleicht Angst vor dem Abi. Ich war völlig überrascht, denn ich kam in der Schule gut klar und hatte nie Prüfungsangst erlebt. Nicht dass daran etwas Anrüchiges gewesen wäre, aber es stimmte einfach nicht. Ein späterer Internist, dem ich inzwischen von meiner Holzschutzmitteldiagnose erzählen konnte, legte mir nahe, dass ich aus ideologischer Überbesorgtheit um die Umwelt ein hypochondrisches Syndrom entwickelt hätte. Ich war so fassungslos, dass ich mich nicht erinnern kann, wie das Gespräch überhaupt endete. Erst später las ich über das Konzept des „Ökochondrismus“ und erinnerte mich an die Begegnung.
Geradezu absurd war meine Begegnung mit einem Vertretungsarzt, der mir eigentlich nur eine Infusion anlegen sollte. Stattdessen hielt er mir einen Vortrag über unsere einengende Gesellschaft, die mich wohl krank gemacht hätte. Er wollte mir allen Ernstes nahelegen, dass es ja schon eine Zumutung an die persönliche Freiheit sei, dass man im Straßenverkehr auf der rechten Seite fahren müsste. Auf einer einsamen Insel würde es mir sicher viel besser gehen. Irgendwann musste ich ihn unterbrechen, um endlich zu meiner Infusion zu kommen. Das Wartezimmer war rappelvoll.
Das Fatale an solchen Erlebnissen ist, dass medizinische Hilfe ausbleibt, wo sie eigentlich nötig wäre. Außerdem wird man dazu angeleitet, seine Wahrnehmung völlig neu zu bewerten. Seelische Probleme, von denen man vielleicht das eine oder andere tatsächlich an sich entdecken kann, sollen so gravierend sein, dass sie ein massives Krankheitsbild hervorbringen – allein dies muss jemand, der spürt, dass er ernsthaft krank ist, erst einmal psychisch verkraften.
Wer ein paarmal solchen Situationen ausgesetzt gewesen ist, infiziert sich schnell mit diesem Virus des Selbstzweifels: „Könnte es nicht doch sein? Wie war die Gefühlsregung eben in mir? Und habe ich die nicht schon öfter gehabt? Bin ich nicht tatsächlich ein bisschen labil?“
So lernt man nach und nach, seine Körperwahrnehmung in eine seelische Wahrnehmung umzuformen. Für ME/CFS-Patienten bedeutet das zum Beispiel: „Ich bin schlapp. – Aha, mir fehlt der Antrieb. Also bin ich depressiv. Ich darf jetzt nicht in Lethargie versinken, sondern muss mich antreiben und außerdem die Probleme ausfindig machen, die mich unbewusst lahmlegen.“ Das ist so ungefähr das Gegenteil von dem, was sie wirklich brauchen: „Ich bin schlapp. – Aha, mir fehlt die Energie, deshalb werde ich mich etwas ausruhen.“
Ich habe gute zehn Jahre gebraucht, um mir meiner selbst so sicher zu werden, dass ich mich nicht mehr von jedem „dahergelaufenen“ Arzt verunsichern lasse, der gerade mal einen ersten Blick in meine Krankenakte geworfen hat. Von solchen Denkstrukturen kann man sich nur ganz bewusst abgrenzen. Doch dazu braucht man Selbstsicherheit und gerade die schwindet, wenn man durch seinen kranken Körper in seinem Empfinden zutiefst verunsichert ist. Hier sehe ich Probleme in der Psychosomatik, auf die wir in Kapitel 8 zurückkommen werden.
Übrigens erleben es auch psychisch Erkrankte, dass sie willkürlich und oberflächlich mit den verschiedensten Diagnosen belegt werden. Psychiater verschreiben oft leichtfertig Psychopharmaka, um einen schnellen Erfolg zu erzielen, und manche Rehakliniken setzen auf die immer gleichen Methoden von „Aktivierung“ und „Kognitiver Verhaltenstherapie“, um am Ende Menschen für arbeitsfähig zu erklären, deren eigentliches Leiden noch gar nicht erfasst wurde.