Читать книгу Seewölfe Paket 33 - Fred McMason - Страница 28
4.
ОглавлениеAn Bord einer Galeone von der Größe der „Respeto“ gab es wenig Räumlichkeiten, in denen sich jemand über längere Zeit hinweg ungestört wähnen durfte. Von den Laderäumen abgesehen, waren das lediglich die Vorpiek, die Bilge und die Achterpiek, wo häufig Dinge verstaut wurden, die man selten brauchte, angefangen von Farben und Hölzern über Werg, Segeltuchballen und Taue bis hin zu Teer und Pech fürs Kalfatern.
Da die Bilge als Raum an der tiefsten Stelle eines Schiffes häufig genug feucht oder gar mit Wasser angefüllt war, in dem hin und wieder sogar Kadaver von Ratten trieben, stapelte sich all der Kram zumeist in den äußersten vorn und achtern liegenden Räumen, eben der Piek.
Schon nach dem ersten kräftigen Schluck Rum hatte Mario Morales ein angenehmes Kribbeln im Magen verspürt, das rasch von einem wohligen Brennen verdrängt wurde. Die Wärme von innen heraus tat ihm gut.
Auf seinem Weg in die Vorpiek blieb er zweimal stehen, setzte die Flasche an und trank. Wie durch eine Fügung des Schicksals blieb er dabei allein.
Noch immer lastete Brandgeruch im Vorschiff der „Respeto“. Der kalte Rauch stammte von dem Schwelbrand, den die Besatzung anderthalb Tage hindurch einzudämmen versucht hatte und der letztlich von Don Julio de Vilches und seinen Männern gelöscht worden war, indem sie einfach angefangen hatten, das kokelnde Zeug über Bord zu werfen. Sehr zum Leidwesen von Capitán Pigatto, der das meiste als durchaus noch brauchbar eingestuft hatte. Letztlich war alles in einer Prügelei ausgeartet.
Mario Morales stellte erstaunt fest, daß sich erneut ein beachtlicher Kram angesammelt hatte, einiges davon vom Brand angekohlt. Womöglich hatte Pigatto das Zeug wieder aus der See auffischen lassen.
Er, Morales, wußte das nicht so genau, denn zu jener Zeit hatte er sich unter Deck aufgehalten, weil ihm wieder übel gewesen war wie sooft in letzter Zeit. Aber jetzt, die beiden Rumflaschen an sich gepreßt, fühlte er sich schon merklich wohler.
Selbst vor der Vorpiek lagerten Seegrasmatratzen und lose aufgeschichtete, frisch gelohte Segel. Ihnen haftete noch ein intensiver Geruch nach Eichenrinde und Fischöl an, mit dem sie vor dem Verrotten geschützt wurden. Erst durch die Tränkung erhielten die Segel ihre typische rotbraune Farbe.
Die Decksplanken, aber auch die meisten Balken in dem Bereich waren vom Feuer geschwärzt. Jemand hatte den Versuch unternommen, die dicken, teils öligen Rußflocken aufzuwischen. Das Ergebnis war eine verschmierte schwarze Schicht, die sich wohl nur noch mit Sand und Wetzsteinen beseitigen ließ.
Flüchtig blickte Mario hinter sich, ob er in dem Dreck eine sichtbare Spur hinterließ. Zufrieden stellte er fest, daß das nicht der Fall war.
Niemand würde ihn suchen, da er zur Freiwache gehörte. Ihm blieb also Zeit, sich mit den beiden Flaschen zu befassen, deren Inhalt wie Medizin wirkte. Mit nichts anderem ließen sich die bohrenden Leibschmerzen und die jedesmal stärker werdende Übelkeit vertreiben.
Der Arzt auf der „Respeto“ war ein Quacksalber. Seine Pulver und Pillen hatten absolut nichts bewirkt außer einer gräßlichen Austrocknung von Mund und Rachen. Mario erklärte sich lieber für gesund, ehe er Julio Cazalilla noch einmal unter die Augen trat.
Sorgfältig schloß er die Vorpiek hinter sich. Bewußt verzichtete er darauf, die Lampe anzuzünden, die draußen hing.
Schon nach kurzer Zeit hatten sich seine Augen an die Schwärze in dem muffigen, spitz zulaufenden Raum gewöhnt. Nach und nach registrierte er, daß die Plankennähte der Innenwand Licht durchließen. Winzige Bahnen von Helligkeit fielen herein und zeigten ihm die Umrisse der verstauten Waren.
Mario setzte sich auf einen gepreßten Wergballen. Den nach Fischöl stinkenden Eimer gleich daneben schob er mit den Füßen zur Seite. Er zupfte ein Loch in das Werg und stellte die volle Flasche hinein – auf die Weise konnte sie nicht umfallen und zerbrechen.
Aber die andere Flasche war ohnehin fast leer. Mario trank einen kräftigen Schluck, danach schüttelte er den Rest. Das Gluckern verriet ihm, daß höchstens noch eine Fingerbreite Rum drin war.
Er stierte vor sich hin.
Stampfend hob und senkte sich die Galeone. Hier vorne war die Bewegung besonders deutlich wahrzunehmen. Das Rauschen und Krachen, wenn der Bug die Wellen teilte, übertönte alle anderen Geräusche.
Die Schmerzen ließen sich kaum noch vertreiben. Mario fragte sich, was werden sollte, falls der Rum allmählich seine Wirkung verlor. Oder setzte ihm nur der kalte Rauch derart zu?
„Bald erreichen wir Irland“, murmelte er halblaut vor sich hin. „Dann wird alles besser. Ja, Mario, du wirst schon sehen.“ Eine neue Woge von Schmerzen, die sich bis unter die Rippen hinzog, ließ ihn verstummen. Für eine Weile rang er nach Atem. „Ich trinke auf meine Gesundheit“, schnaufte er in einem Anflug von Ironie. „Entweder schaffe ich es bis Irland, oder ich bin vorher tot.“
Er trank, wollte die leere Flasche wegwerfen, besann sich aber und rammte sie statt dessen mit dem Hals nach unten in den Wergballen. Die andere Buddel glitt wie von selbst in seine Hand. Vergeblich bemühte er sich, den Korken herauszuziehen, aber der Pfropfen widerstand seinen Bemühungen mit einer Hartnäckigkeit, die Mario eine Reihe schauerlicher Verwünschungen entlockte.
Ihm blieb nichts anderes übrig, als von dem Wergballen zu rutschen und in dem verhältnismäßig engen Raum nach einem brauchbaren Werkzeug zu suchen.
Die Übelkeit ließ ihn taumeln. Täuschte er sich, oder wurde der Brandgeruch plötzlich intensiver?
„Was soll’s?“ murmelte er vor sich hin.
Gleich darauf ertastete er eine Kiste voller Nägel, fingerte einen der langen Stifte heraus und versuchte, den Korken hochzuhebeln – mit dem dürftigen Erfolg, daß er zwar einige Stücke herausbrach, die Flasche aber nach wie vor verschlossen blieb.
Wütend schleuderte er den Nagel in die Ecke und stocherte mit den Fingern im Flaschenhals herum. Nach einer Weile gab er seine sinnlosen Bemühungen auf. Inzwischen war ihm alles egal, wenn er nur an den Rum gelangte.
Die Schmerzen, die seinen Leib aufwühlten, wurden schlimmer als je zuvor. Er zitterte und hatte enorme Mühe, die Flasche festzuhalten, die er jetzt am Boden packte und mit dem Hals gegen einen Balken drückte.
Mario hatte stets geglaubt, daß Glas leicht zu brechen war, daß man es eigentlich nur scharf anzublicken brauchte. Jetzt wurde er eines Besseren belehrt. Oder war er bereits zu schwach? Er stieß wieder zu und rammte den verdickten Flaschenhals gegen den Balken.
Ein leises Klirren erklang. Trotzdem bedurfte es noch zweier weiterer Versuche, bis endlich das Glas splitterte. Kostbarer Rum schwappte aus der ausgezackten Öffnung, tränkte den Balken und tropfte zu Boden, wo rasch eine kleine Lache entstand. Aber die sah Mario Morales schon nicht mehr. Mit geschlossenen Augen kippte er den Rum aus der immerhin noch zu drei Vierteln gefüllten Flasche in sich hinein.
Der Alkohol rann wie Feuer durch seine Kehle. Mario verschluckte sich, mußte husten und verschüttete noch mehr von der edlen Medizin, die diesmal wirklich half. Zum erstenmal seit Monaten fühlte er sich wohlig leicht – in dem Zustand hätte er ohne Schwierigkeiten in die höchsten Wanten aufentern und freihändig über die Rahen laufen können.
„Alles wird gut“, murmelte er. „Ich wußte es.“
Der nächste Schluck rief fast schon Euphorie hervor. Der Inhalt der Flasche ging erschreckend schnell zur Neige. Mario Morales wandte sich der Tür zu, er brauchte Nachschub von diesem vorzüglichen Heilmittel.
Der neuerliche Schmerz traf ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Als hätte jemand einen glühenden Degen durch seine Nieren gestoßen. Mario stockte der Atem, er hatte nicht einmal Luft für einen gepeinigten Aufschrei.
Wo er gerade stand, brach er zusammen. Klirrend zersprang die Flasche in seiner Hand. Aber niemand hielt sich in der Nähe auf, der das Geräusch gehört hätte.
Zwei Tage zuvor hatten die Arwenacks sämtliches Gerümpel aus der Vorpiek, in der der Schwelbrand ausgebrochen war, ausgeräumt. Den Befehlen ihres Capitáns folgend, hatten die Spanier jedoch einiges davon wieder zurückgeschafft. Warum auch nicht?
Der Brand war zu jenem Zeitpunkt gelöscht gewesen und alle angekohlten Planken und die Nähte zwischen ihnen genau nach versteckten Glutnestern abgesucht worden. Also bestand überhaupt kein Risiko.
Das winzige Loch in einer Seegrasmatratze hatte niemand entdeckt. Vielleicht, wenn es einen dunklen, verkohlten Rand gehabt hätte – doch das war nicht der Fall. Der Funke, der sich durch den gespannten Stoff hindurchgefressen hatte, flammte nicht gleich hell auf, er erlosch aber auch nicht, sondern verzehrte gerade soviel von dem dürren Füllmaterial, wie er brauchte, um sich selbst zu stabilisieren.
Im Laufe etlicher Stunden bohrte er sich tiefer in die Matratze, ein rauchloses Glimmen, das sich schließlich verzweigte und irgendwann sogar zu einer winzigen Flamme wurde. Aber noch entstand kein Feuer. Flammen wie diese erloschen oftmals von selbst, weil sie sich in dem gepreßten Material kaum ausbreiten konnten. Tatsächlich fiel sie wieder in sich zusammen. Ein glimmender Ring blieb, gerade so groß wie der Umfang eines Goldstücks.
Der Zufall wollte es, daß Morales die Vorpiek betrat, als die Glut kaum mehr Kraft hatte. Erst der entstehende Luftzug fachte sie von neuem an. Wenig später durchstieß das Glimmen die Rückseite der Matratze und fand in dem grob gewebten Stoff bessere Nahrung.
Mehrere kleine Flämmchen huschten nach den Seiten davon, und eine erreichte jene Ecke der Matratze, die langsam den verschütteten Rum aufsog. Im Nu knisterte und knackte es, und ein irrlichtendes Leuchten griff gierig nach den Planken.
Die Glut breitete sich aus. Einzelne Flammen züngelten über den Boden, hell aufstiebend, solange der Rum ausreichte, aber ebenso rasch wieder in sich zusammenfallend.
Was blieb, war ein Glimmen in den Plankennähten. Und das weitete sich unaufhaltsam aus.
Schweißgebadet wachte Mario Morales aus tiefer Ohnmacht auf. Sein Kopf war so leer wie ein Schwamm, den kräftige Hände ausgedrückt hatten. Erst nach und nach kehrte die Erinnerung zurück.
Seltsamerweise fühlte er sich so wohl wie schon lange nicht mehr. In diesem Zustand hätte er es mit Gott und der Welt aufnehmen können. Der Rum hatte ihn wieder auf die Beine gebracht. Schade, daß die Flache leer war. Seine Finger ertasteten nur mehr Splitter und einen letzten Hauch von Feuchtigkeit.
Mario stemmte sich an dem Wergballen hoch. Auch jetzt spürte er keine Schmerzen, er stand lediglich auf wackligen Beinen. Doch solange er ausreichenden Halt fand, war das kein Problem.
Was hatte er überhaupt gewollt?
Richtig! Zapata mußte ihm neuen Rum geben.
Er vollführte eine schwungvolle Drehung, die ihn taumeln ließ. Zum Glück stand genug Zeug herum, an dem er sich abstützen konnte. Die Bewegung war wohl doch zu abrupt erfolgt, denn im nächsten Moment mußte er sich übergeben.
Ein Glimmen fiel ihm auf. Mühsam blinzelnd versuchte er, mehr zu erkennen. Aber erst als er vorübergehend die Stirn gegen die Planken gepreßt hatte, sah er deutlicher.
Das war Glut, die sich in den Fugen festsetzte.
Feuer in der Vorpiek!
Mario schluckte schwer. Niemand rechnete noch damit, daß der Schwelbrand von neuem aufflackerte.
Er mußte die anderen warnen. Jetzt genügten noch einige Eimer voll Seewasser, um dem Spuk ein Ende zu bereiten. Später, wenn das Feuer erst um sich griff, würde es nicht mehr so leicht einzudämmen sein.
Mario wollte schreien, aber nur ein gequältes Ächzen wurde daraus. Die Stimme versagte ihm den Dienst. Schlagartig waren die Schmerzen wieder da.
Haltlos torkelte er gegen die Tür, die unter dem Aufprall aufsprang. Er stürzte, raffte sich auf und stolperte weiter, wobei er die Tür bis zum Anschlag aufstieß. Sie federte in den Angeln zurück und schlug hinter ihm zu.
Mario merkte es nicht. Er hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Schlimmer als bei Windstärke elf oder zwölf schien der Boden auf ihn zuzuspringen, wich aber schon im nächsten Moment jäh wieder vor ihm zurück, als wolle er einen endlosen Abgrund freigeben.
Breitbeinig stand der Decksmann da, taumelte einige Schritte vorwärts, verharrte erneut und lief mit gesenktem Kopf weiter, haltlos, bis ihm die Tritte des Niedergangs Einhalt geboten. Er stürzte die ausgetretenen Stufen hinauf und blieb keuchend liegen.
Seine Finger verkrallten sich im Holz, die Fingernägel splitterten und die schwieligen Kuppen rissen auf und begannen zu bluten. Er merkte es nicht, auch nicht, daß er sich keuchend Stufe um Stufe in die Höhe zog.
Über ihm fiel Helligkeit durch die Grätings. Er hörte Stimmen, im einen Moment wie aus weiter Ferne, im nächsten schon zum Tosen eines Orkans anschwellend. Vergeblich versuchte er, die Aufmerksamkeit der Männer auf sich zu ziehen.
Feuer! wollte er schreien – er konnte es noch immer nicht. Seine Kehle war wie zugeschnürt.
Zum erstenmal empfand er Angst. Erbärmliche, nackte Angst. Was war mit ihm los? War er kränker, als er sich eingestand?
Die Luke wurde geöffnet. Jemand wollte hinuntersteigen, sah ihn und rief die anderen zu Hilfe. Mario Morales erlebte das Geschehen wie durch stetig dichter werdenden Nebel hindurch. Die Männer zogen ihn nach oben und legten ihn neben das Süll. Der Bootsmann schickte nach dem Arzt.
Seltsamerweise konnte er das meiste von dem verstehen, was die Kerle sagten, obwohl er selbst nicht mehr als ein dumpfes Stöhnen hervorbrachte.
„Das ist Mario. Er ist kaum wiederzuerkennen.“
„Er sieht aus wie der wandelnde Tod.“
„Seine Haut – so brüchig wie Pergament und so gelb wie – wie …“
„Safran“, sagte der Koch. Er beugte sich über den Decksmann und zog seine flatternden Lider hoch. „Der macht es nicht mehr lange“, fügte er mit dem Gemüt eines Fleischerhundes hinzu.
Dafür hätte ihm Mario den Hals umdrehen können. Doch das hatte Zeit. Später, wenn die Müdigkeit vorbei war, die sich in seinen Gliedern ausbreitete. Er gab sich ihr gerne hin.
Daß der Feldscher endlich erschien, sich neben ihn kniete und ihm das Hemd aufriß, war das letzte, was er noch wahrnahm.
„Und?“ fragte Kapitän Miguel Pigatto, nachdem der Feldscher eine Weile lang schweigend den Reglosen betastet hatte.
Der Mann blickte nur flüchtig auf. Sein Kopfschütteln sagte genug. Zögernd packte er die verschiedenen Instrumente wieder in seine Tasche.
„Woran ist er gestorben?“
„Sehen Sie seine Haut, Capitán. Das ist Ikterus, im Volksmund auch Gelbsucht genannt. Allgemein wird angenommen, daß diese Farbveränderung durch eine Entzündung der Leber entsteht, etwa hervorgerufen durch übermäßigen Alkoholgenuß oder andere ausschweifende Lebensweisen. Da es sich bislang um den einzigen Fall an Bord handelt, nehme ich an, daß eine ansteckende Gelbsucht auszuschließen ist, die vor allem durch Ratten und Mäuse übertragen wird.“ Er beugte sich über das Gesicht des Toten und sog prüfend die Luft ein. „Der Mann hat erst vor kurzem Rum getrunken.“
„Ausgeschlossen“, sagte der Capitán spontan. „Nicht eine Flasche befindet sich noch an Bord. Ich ließ zwar den Pulvervorrat in die achteren Räume verstauen, aber sämtlichen Rum von Bord schaffen. Schon mit Rücksicht auf das Verlangen des Generalkapitäns“, fügte er schnell hinzu, weil einige Männer plötzlich nicht mehr nur betrübt dreinblickten.
„Dann hat es Morales irgendwie verstanden, sich neuen Rum zu besorgen.“
„Wie und wann hätte er das tun sollen?“
„Sie sind der Kapitän, Señor Pigatto, wenn Sie das nicht wissen …“
„Der Mann ist wirklich tot?“
„Von dem erfahren Sie nichts mehr.“
Pigatto kehrte in einer unmißverständlichen Geste seine Autorität heraus. Die Fäuste in die Hüfte gestemmt, blickte er sich um.
„Ich will wissen, wer Morales den Rum gegeben hat! Also los, wer hat etwas zu sagen?“
Offenbar niemand.
Ungeduldig begann der Capitán wieder einmal, die aus seinen Nasenlöchern wachsenden Haare auszureißen. Das war eine Arbeit, die ihn endlos beschäftigen konnte. Lauernd musterte er seine Leute, von denen keiner gleichgültig wirkte. Aber die einen schienen wirklich keine Ahnung zu haben, und die anderen gaben sich offenbar alle Mühe, ihr Wissen zu verheimlichen.
„Du, Aparicio.“ Er wandte sich an den Koch. „Was weißt du?“
„Nichts, Capitán. Bei allen Heiligen. Wir haben keinen Rum an Bord.“
Pigatto begann eine unruhige Wanderung. Vor den versammelten Männern ging er auf und ab.
Unvermittelt blieb er stehen und stieß Antonio Villasante mit der flachen Hand vor die Brust.
„Heraus mit der Sprache!“
Villasante hielt dem stechenden Blick, ohne mit der Wimper zu zucken, stand. Langsam hob er die Schultern und ließ sie gleich darauf wieder sinken.
„Rede!“ fuhr der Kapitän ihn an.
„Ich habe keine Ahnung.“
„Natürlich nicht“, sagte Pigatto scharf. „Verdammt, ich lasse mich nicht für dumm verkaufen. Morales säuft sich zu Tode, und keiner will etwas gehört oder gesehen haben. Aber, so wahr ich hier stehe, ich kriege die Wahrheit heraus, und wenn ich erkenne, daß einer mich belogen hat …“ Die Drohung war unmißverständlich. Er brüllte, daß seine Stimme bis in den hintersten Winkel der Galeone zu hören war. Dem Befehl gehorchend, versammelten sich alle Männer auf der Kuhl, auf der es jetzt verdammt eng wurde.
„Ich werde jede Meuterei schon im Keim ersticken!“ schrie der Kapitän. „Woher stammt der Rum? Also gut, ich habe Zeit. Meinetwegen steht ihr hier, bis ihr schwarz werdet.“
Zornig stampfte er davon, zum Achterdeck, wo lediglich der Rudergänger noch auf seinem Platz verharrte.
Der Konvoi segelte unter blauem, nur leicht bewölktem Himmel. Der Wind wehte überraschend konstant, Segelmanöver waren daher überflüssig. Also konnte er es sich erlauben, abzuwarten. Der Rum interessierte ihn im Grunde genommen nicht mehr, doch wenn schon bei Kleinigkeiten der Ungehorsam begann, wie sollte das erst in ernsten Situationen aussehen?
Capitán Pigatto glaubte, daß er seinen Leuten immer genug Freiraum gelassen hatte, aber inzwischen orientierte er sich mehr und mehr am Vorbild des Generalkapitäns Don Ricardo de Mauro y Avila und gelangte zu der Überzeugung, daß ein härteres Durchgreifen der Disziplin bestimmt nicht schadete.
Er begann eine ruhelose Wanderung von Steuerbord nach Backbord und zurück. Nicht einer der Männer auf der Kuhl wandte den Kopf oder muckste sich gar. Wie angewachsen standen sie da – hölzerne Figuren in einem Spiel, bei dem es darum ging, Überlegenheit und Stärke zu beweisen.
Erst als der Rudergänger die Sanduhr umdrehte und die Schiffsglocke anschlug, wurde Pigatto bewußt, daß inzwischen eine halbe Stunde vergangen war.
Hielten die Kerle ihn zum Narren? Die absolute Reglosigkeit, mit der sie verharrten, war nicht normal.
Der Kapitän wirbelte herum, seine Finger verkrampften sich um den Handlauf der Balustrade, bis sein eigener Griff ihn schmerzte. Diesen Männern gegenüber fühlte er sich unterlegen. Von Anfang an, als er die Führung der „Respeto“ übernommen hatte, war er bei der Crew auf Widerstand gestoßen.
Seinen Vorgänger hatten Soldaten tot im Hafen von Cadiz gefunden, mit einem Dolch im Rücken. Hinter vorgehaltener Hand war von einem Streit an Bord getuschelt worden. Hatte tatsächlich einer der Männer gewagt, die Hand gegen seinen Kapitän zu erheben? Von keinem hatte er bisher mehr als vage Andeutungen darüber gehört. Dabei traute er eine solche Tat mehreren Kerlen zu.
Miguel Pigatto zuckte kurz zusammen, als er überrascht feststellte, daß seine Rechte auf dem Degenknauf lag. Fühlte er sich an Bord seines Schiffes nicht mehr sicher?
„Ihr fühlt euch stark, was?“ brüllte er zur Kuhl hinunter. „Aber euch wird der Spaß vergehen, dafür sorge ich.“
Er preßte die Lippen aufeinander. Ebensogut konnte er in den Wind reden. Keiner der Kerle gab durch eine Regung zu verstehen, daß er die Drohung ernst nahm. Miguel Pigatto spürte, daß er drauf und dran war, die Autorität zu verlieren. Er gab sich selbst nur der Lächerlichkeit preis, wenn er die Männer länger auf der Kuhl stehen ließ.
Wer von ihm war wohl fähig, von hinten zuzustechen? Juan Barbara, der Segelmacher, dessen Miene nie Rückschlüsse auf seine wahren Gedanken zuließ? Oder Villasante, nach außen aufrichtig wirkend und hilfsbereit, aber auch dem Rum zugetan und im Suff unberechenbar.
Mit einem lauten Fluch wischte der Kapitän alle diesbezüglichen Gedanken zur Seite. Er war im Begriff, sich selbst auf trügerisches Terrain zu begeben.
„Es ist genug!“ hörte er sich rufen. „Wer glaubt, ohne den verdammten Rum nicht leben zu können, der soll von mir aus saufen, bis er tot umfällt. Aber wenn ich einen erwische, dessen Arbeit darunter leidet, den lasse ich kielholen. Ich hoffe, wir haben uns verstanden. Du, Juan Barbara, nähst den Toten in Segeltuch ein. Nimm dir als Helfer, wen du willst. Sobald du fertig bist, übergeben wir Morales der See.“
Keiner der Kerle verschwand unter Deck. Die meisten blieben auf der Kuhl, sogar die Freiwache.
Miguel Pigatto gab sich Mühe, seine wachsende Unruhe zu verbergen. Eines Tages würden diese Burschen selbst eines nichtigen Anlasses wegen meutern.
„Señor Capitán!“ Decksmann Angel Berco stand irgendwann neben ihm und grinste schräg. „Alles ist fertig.“
„Wie? Ja.“ Pigatto wirkte fahrig, als er den Niedergang hinunterschritt.
Die Männer wichen vor ihm zur Seite und gaben den Weg frei, aber er spürte ihre Blicke auf seinem Rücken brennen. Der kurze Weg zum Großmast gestaltete sich zum Spießrutenlauf. Unheimlich war daran, daß niemand redete.
Jorge Zapata und Juan Barbara standen am Schanzkleid. Sie hielten die Planke, auf der der Tote lag.
Der Kapitän nickte kurz. Er hatte nicht die Absicht, große Worte zu sprechen.
„Der Weg des Fleisches ist vorgezeichnet“, sagte er. „Niemand weiß, wann wir die Segel streichen müssen – das ist allein Gottes Ratschluß. Uns Sterblichen obliegt es, ihm mit der nötigen Ehrerbietung zu begegnen, so wie ein Bauer seinem König oder ein Seemann seinem Kapitän. Mario Morales hat seine Pflicht getan, jedenfalls über lange Zeit hinweg. Er hat seinem Leben aber auch selbst ein Ende gesetzt, denn er war dem Rum verfallen, mehr wohl, als die meisten von uns gewußt haben. Wir nehmen Abschied von ihm. Santa Maria, madre de Dios, nimm diesen Mann auf in das Reich Gottes und schenke ihm ewigen Frieden.“
„Amen“, murmelten die Männer und bekreuzigten sich.
Kapitän Pigatto nickte dem Segelmacher zu, der daraufhin gemeinsam mit Zapata die Planke hochstemmte. Langsam, mit den Füßen zuerst, glitt der in angekohltes Segeltuch eingenähte Tote außenbords – für Barbara wäre es wie Verschwendung erschienen, ein unbeschädigtes Segel zu nehmen.
Einen Augenblick später tauchte Morales in die Wellen, schwamm aber trotz des beigefügten Gewichts noch einmal auf. Diejenigen Männer, die unmittelbar neben dem Schanzkleid standen und den Vorgang beobachteten, bekreuzigten sich spontan. Bis die anderen sich vordrängten, trieb der Leichnam jedoch schon in der Hecksee und sackte inmitten eines Schwalls aufsteigender Luftblasen endgültig in die immer noch wogende See ab.