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2. Kapitel Der Erste Weltkrieg Der Krieg bricht aus – 1914
ОглавлениеAm 1. August 1914, kurz vor acht Uhr abends, überbrachte der deutsche Botschafter in Moskau, Friedrich Graf von Pourtalès, dem russischen Außenminister Sergei Dmitrijewitsch Sasonow eine Note seines Kaisers. Sie enthielt die Botschaft, dass sich das Deutsche Reich mit Russland im Kriegszustand betrachte. Wenige Stunden später überschritten erste russische Truppen die ostpreußische Grenze.131 Den Mittelmächten (Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien und Türkei) mit rund 9,8 Millionen Soldaten standen die Alliierten (Großbritannien, Frankreich, Italien, Montenegro, Serbien, Rumänien und Russland) mit rund 13 Millionen Soldaten gegenüber.132
Am 11. August 1914 zog Witzleben ins Feld und mit ihm dreißig weitere Angehörige der Witzleben’schen Familie.133 Der Oberleutnant hatte sich zu Beginn des Krieges entschieden, fortlaufend ein Tagebuch für seine Kinder zu führen, denn ihm war bewusst, dass der Krieg ein besonderes Erlebnis sein würde.134
Als er ins Feld rückte, war seine Kriegsbegeisterung im Vergleich zur Stimmung anderer etwas gedämpfter, trotzdem wird aus seinen Worten in diesen Tagen deutlich, mit welch positiven Gefühlen der Offizier an die Front zog.135 Witzleben sah sich in einer Reihe mit seinen Vorfahren, die im Krieg gewesen waren. Die Bewährung im Kampf mit der Waffe, das Beweisen von Mut und Tapferkeit und das Siegen waren die Bezugspunkte in seinem Fühlen und Denken.136 Witzleben hinterfragte die Notwendigkeit des Krieges nicht, sondern er akzeptierte sie.137 Zwar ging er davon aus, bald wieder zu Hause zu sein, aber der Abschied von seiner 29 Jahre jungen Frau und seinen zwei kleinen Kindern fiel ihm sehr schwer.138
Im Eisenbahntransport ging es in den nächsten zwei Tagen direkt an die Westfront. Witzlebens Mobilmachungsbestimmung sah ihn als Adjutant der 19. Reserve-Infanterie-Brigade vor, die noch in Liegnitz aufgestellt worden war.139 In seiner Funktion sollte der Offizier das erste Mal eine größere Übersicht über die Aufgaben, die Herausforderungen und das Wirken auf Brigade- und Divisionsebene erhalten. Im Laufe des Krieges steigerten sich diese Lernmöglichkeiten noch in anderen Verwendungen.
Witzleben war bei den kleinen Dingen des täglichen Lebens unselbständig und umso dankbarer für die Unterstützung seiner Burschen.140 Den ganzen Krieg über und noch darüber hinaus sollte er von seinem Burschen Paul Beier, der elf Jahre jünger war als Witzleben, begleitet werden.141 Beier war oft bei seinem Vorgesetzten zu Hause und spielte mit den Kindern, die ihn sehr ins Herz geschlossen hatten. Zwischen Witzleben und seinem Burschen entwickelte sich eine Freundschaft, die auch lange nach ihrer gemeinsamen Dienstzeit andauern sollte. Noch Jahrzehnte später besuchte Beier seinen alten Vorgesetzten in Berlin, und es kam sogar vor, dass die beiden zusammen durch den Zoologischen Garten spazierten.142
Am 20. August 1914 überschritt Witzlebens Brigade gegen zwei Uhr mittags die luxemburgische Grenze. Er war angetan von dem freundlichen Verhalten der Bevölkerung gegenüber den deutschen Truppen.143 Zwei Tage später geriet Witzleben in seine ersten Kämpfe: die Schlacht bei Longwy und dabei zuerst das Gefecht bei Fillières.144 Noch war es sein Wunsch, möglichst schnell an den Feind zu kommen. Ein Armeebefehl des Deutschen Kronprinzen, in dem dieser erklärte, »uns heute zum ersten Male an den Feind«145 zu führen, motivierte den Brigadeadjutanten. Eine uneingeschränkte Siegeszuversicht beherrschte den Liegnitzer Offizier so wie die ganze Armee. Man wollte beim Sieg dabei sein und seinen Beitrag dazu leisten. In dieser ersten Phase hatte Witzleben ein positives Kriegsbild, das sich aber im Laufe des Krieges wandelte.
Als er kurz hinter der Front die ersten verwundeten deutschen Soldaten sah, wurde ihm nach eigenen Angaben doch »sehr mulmig«146. Danach stand er zum ersten Mal auf dem Schlachtfeld und erlebte, wie ihm die Geschosse regelrecht »um die Ohren flogen«. Er lernte das Gefecht der verbundenen Waffen kennen, bei dem zunächst die eigene Artillerie dem Gegner möglichst großen Schaden zufügt, um ein schnelles und erfolgreiches Vorgehen der eigenen Infanterie zu ermöglichen. Witzleben sah die ersten gefallenen Franzosen:
»Ein eigentümliches Gefühl, beschlich einen doch ich kann aber nicht sagen, daß ich ein eigentliches Grauen empfunden habe. Immerhin die schrecklichen Verwundungen und Stellungen waren erschütternd.«147
Schnellen Geländegewinnen der eigenen Truppen folgten bald zügige Gegenangriffe, sodass es letztlich keinen echten Erfolg gab. Witzleben machte nun die ersten Erfahrungen mit den französischen Schrapnells148, die ihn in den nächsten Jahre dauernd verfolgen sollten. An seine Feuertaufe erinnerte er sich später immer wieder.149 Bei diesem Gefecht wie auch bei vielen weiteren war er dem Tode oft sehr nahe. Nicht selten verfehlte ihn ein Geschoss nur um Haaresbreite. Am Abend war das Gefecht beendet und Witzleben musste in der Nähe von vielen toten Franzosen kampieren. In dieser Lage und aufgrund der hohen Verluste – »leider auch unserer braven Jungen«150 – verbrachten er und seine Kameraden dort »die furchtbarste Nacht unseres Lebens«151. Zwei Tage später ertappte er deutsche Sanitäter auf frischer Tat bei dem Versuch, ein Haus zu plündern. In seinem Kriegstagebuch beschreibt er, wie er sie mit seiner Reitpeitsche aus dem Haus vertrieb, während er ihnen die Vorschriften zum Plünderungsverbot hinterherrief.152
Diese Erlebnisse bewegten ihn, vor allem der Soldatentod eines Freundes ging ihm sehr nahe.153
Ende August 1914 litt Witzleben zum ersten Mal an starken Magenbeschwerden; es quälten ihn lang anhaltende Krämpfe und tagelange Blockaden – ein gesundheitliches Problem, das ihn nunmehr sein Leben lang begleiten würde.154 Auch Herzprobleme traten im Laufe des Krieges auf, sollten aber später wieder abklingen.155 Außerhalb der militärischen Lage war für Witzleben – ganz typisch für einen Frontsoldaten – die tägliche Versorgung ein Schwerpunkt im Alltag. Die Qualität der Verpflegung und der Unterbringung sowie ausreichend Schlaf gehörten für ihn zu den entscheidenden Fragen seines Überlebens als Soldat. Die Herausforderung, vor allem diesen drei Bedürfnissen möglichst häufig und ausreichend nachzukommen, zieht sich wie ein roter Faden durch Witzlebens privates Kriegstagebuch. Sonst nutzte der Oberleutnant jede freie Minute, um auf die Jagd zu gehen. Fast immer jagte er mit Kameraden; Mahlzeiten wurden mit ihnen aus dem eigenen oder aus anderen Truppenteilen eingenommen. Witzleben fand in seiner Freizeit neben der Jagd auch die Zeit auszureiten und auch immer freie Minuten, zum Briefeschreiben und für sein Tagebuch.156
Viele praktische Fragen um die Führung und die Organisation der zu seinem Verantwortungsbereich gehörenden Truppen beschäftigten den Offizier. Er erlebte den Krieg als eine vielschichtige, mehrdimensionale Erfahrung: »Ernst und Scherz, Leid und Freud’ sind oft eng beieinander gewesen«157, reflektierte er rückblickend. So war auch manch Kurioses Teil seiner Kriegserlebnisse. Beispielsweise kam es im sogenannten Sitzkrieg vor, dass sich Deutsche und Franzosen in den Schützengräben nur auf wenige Meter gegenüberlagen. Wollte nun einer austreten, galt die stillschweigende Vereinbarung, den Spaten zu heben und bei entsprechender Erwiderung der Gegenseite konnte der Betreffende den Schützengraben verlassen, ohne dass auf ihn geschossen wurde.158
Als Adjutant der 19. Reserve-Infanterie-Brigade lernte Witzleben im September 1914 viele Seiten Frankreichs kennen. Er kam mit der Zivilbevölkerung in Berührung und fand zum Beispiel bei Einquartierungen sehr herzliche Aufnahme. Auch besuchten einheimische Katholiken den deutschen evangelischen Militärgottesdienst. Witzleben erlebte, dass ihm immer wieder Franzosen offen und herzlich begegneten, was er anerkennend und dankbar feststellte. Auch hatte er Gelegenheit, bei der Befragung französischer Kriegsgefangener die Mentalität von Franzosen näher kennenzulernen.159
Am 14. September 1914 – nach fünf Wochen Krieg – wurde Witzleben mit dem Eisernen Kreuz 2. Klasse ausgezeichnet.160 Dieser rund 100 Jahre zuvor erstmalig gestiftete Tapferkeitsorden bedeutete ihm sehr viel. Er fühlte sich verbunden mit seinen Vorfahren und als lebendiger Teil einer alten Tradition.161 Noch hoffte der frischdekorierte Offizier in den Ruhepausen, schnell wieder an den Feind zu kommen, und war ganz begeistert vom »tiefe[n] Baß unserer Mörser«162. Aber das Grauen des Krieges erlebte er auch immer wieder und hautnah. Ein toter Soldat, den er im Zustand mehrwöchiger Verwesung am 7. Oktober 1914 auffand, schockierte ihn: »Alle bisher gesehenen fürchterlichen Sachen waren nichts gegen diesen Anblick.«163
Mittlerweile hatte Witzleben ungeduldig darauf gewartet, zum Hauptmann befördert zu werden – am 13. Oktober 1914 war es endlich soweit.164 Überglücklich feierte er mit seinen Kameraden bis in den nächsten Morgen.165
Nach den anfänglichen deutschen Erfolgen musste der frischbeförderte Offizier konstatieren, dass Deutschland keinesfalls auf einen Materialkrieg modernen Ausmaßes vorbereitet war: ein deutlicher Mangel an Munition machte sich an der Front bemerkbar.166 Auch erlebte er schon früh, dass die deutschen Armeen nicht nur aus Millionen kampffähiger Soldaten bestanden, sondern sah »eine Unzahl marschkranker Reservisten«167. Noch aber nahm Witzleben dies hin und kommentierte es nicht. Sein Vertrauen in die militärische Führung – »unser[en] Moltke [der Generalstabschef; Anm. des Verf.]«168 – war noch ungetrübt. Trotzdem machte sich Witzleben Ende Oktober erstmals Sorgen, dass der erhoffte schnelle Sieg nicht zu erringen sei, und richtete sich darauf ein, noch bis Weihnachten an der Front zu bleiben.169
Anfang November wurde Witzlebens Brigade aus der Front gelöst. Der Brigadeadjutant befürchtete, dass sein Verband nach Russland verlegt würde, sie wurde jedoch in den belgischen Ort Iseghem verbracht.170
Wenige Tage später nahm die Brigade an einer Großoffensive teil, die typisch sein sollte für viele von Witzlebens Kriegserlebnissen. Mit 10 Armeekorps (AKs) wurde auf breiter Front am 10. November 1914 mit großer Zuversicht angegriffen. Der Angriff blieb jedoch schnell stecken. Er konnte über die gut gesicherten, verdrahteten und stark verteidigten Stellungen des Feindes nicht erfolgreich geführt werden. Vielmehr gab es auf deutscher Seite massive Verluste, und ganze Bataillone wurden vernichtet. Regimenter, die mit einer Stärke von 2700 Mann angetreten waren, hatten nach dem Kampf nur noch Stärken von knapp 1600.171 Witzleben musste den Tod von weiteren Kameraden bei diesem Angriff hinnehmen und zeigte sich »tief erschüttert, gerade diese [...] beiden lieben Freunde verloren zu haben«172. Aufgrund der starken gegnerischen Sicherung und der hohen Verluste wurde der Angriff zunächst eingestellt. Eine große Anzahl Verwundeter konnte aus der Frontlinie nur geborgen werden, indem man flache Gräben zu ihnen vortrieb. Die medizinische Versorgung war nach Witzlebens Beobachtung nicht ausreichend, erst am Hauptverbandsplatz – weit hinter der Front – war sie besser.173 Und nachdem der erste Schnee gefallen war, resümierte der Frontoffizier besorgt: »Wenn wir doch nur unsere kolossalen Opfer nicht umsonst gebracht haben.«174 Nur wenige Tage später gestand er sich selber ein, kriegsmüde zu werden.175 Die Brigade wurde schließlich wieder aus der Front gezogen und in Bouligny, östlich von Verdun, untergebracht.176
Immer wieder nutzte der preußische Offizier die Möglichkeit, in Ruhepausen das Hinterland kennenzulernen. So besichtigte er Ende November eine französische Erzgrube und fühlte sich »im Innern Frankreichs«177. Die Führung übernahm ein jüdischer Ingenieur namens Frank. Ein paar Tage später zeigte der Ingenieur ein Verhalten, das Witzleben missbilligte. Witzleben erzürnte es, dass sich Frank, der im Kameradenkreis nicht gut gelitten war, ungefragt zu seiner Gruppe gesellte, und schrieb über ihn in seinem privaten Kriegstagebuch: »Ein ekliger, aufdringlicher Judenbengel.«178 Frank seinerseits beschwerte sich bei Witzleben über das unfreundliche Verhalten der Kameraden und schikanierte Witzlebens Gruppe. Aber am Ende »raufte« man sich doch zusammen: Frank nahm an der Weihnachtsfeier der Gruppe teil und wurde von ihr aufgenommen.179 Anfang Januar 1915 schenkte er Witzleben sogar einige Ansichtskarten für sein Fotoalbum.180 Ob Frank aufgrund seiner Zugehörigkeit zum Judentum unbeliebt war oder ob er einfach nur nicht in die Gruppe passte, bleibt spekulativ. Die scheinbar vorhandenen Vorurteile gegen Juden können hier gegebenenfalls verstärkend gewirkt haben. Sollte dies so sein, haben sie aber nicht dazu geführt, dass Frank vollständig ausgeschlossen wurde. Eine unreflektierte, von anderen kopierte, antisemitische Rhetorik war zu dieser Zeit üblich und machte auch vor Witzleben nicht halt.181 Manches ist hierbei nicht hinterfragt, sondern einfach tradiert worden. Witzleben scheint hier, in seinen frühen Jahren, zu dem zur damaligen Zeit verbreiteten »Oberschichten-Antisemitismus«182 geneigt zu haben, eine Einstellung, die er später gänzlich ablegte.
Das Jahresende im Krieg sollte der schlesische Hauptmann 1914 wie all die anderen Kriegsjahre danach in Gedanken an seine Familie begehen und mit dem Dank gegen Gott schließen, dass er ihn bisher behütet durch den Krieg getragen habe.183 Am Neujahrstag 1915 wurde auf den Frieden getrunken, den er bald erhoffte.184
Die zum Teil sehr heftigen Kämpfe, die Witzleben im Laufe des Weltkrieges erlebte, versuchte er wie andere Kameraden psychisch zu verarbeiten. Neben der bereits erwähnten Jagd und dem Schreiben von Briefen und Tagebuch waren es vor allem die Gespräche mit Kameraden, die ihm dabei halfen. Die Gespräche wurden meist abgerundet durch Kartenspiel und – wann immer möglich – durch den Genuss von alkoholischen Getränken, je nachdem, was gerade verfügbar war.185 Hinzu kam seine Fähigkeit, auch kleinere und größere Freuden genießen zu können, wie etwa als er sich einen Hund zulegte.186
Ein weiterer Eckpfeiler war Witzlebens christlicher Glaube, in dem er Halt fand. Zum einen gab es zahlreiche Gespräche mit den Militärpfarrern, die Witzleben wohltaten und ihn aufbauten, zum anderen setzte er sich theologisch mit Bibeltexten aus den Predigten auseinander.187
Zudem holte sich Witzleben Kraft aus zahlreichen Briefen aus der Heimat, vor allem von seiner Frau. Wenn die Feldpost zu lange auf sich warten ließ, dann war er ebenso niedergeschlagen wie seine Kameraden. Hingegen stimmte ihn jeder Brief, jedes Zeichen von ihr fröhlich.188 Ganz besonders freute er sich über ein kleines Medaillon mit den Bildern seiner Familie, das ihm seine Schwiegermutter zu seinem ersten Kriegsgeburtstag am 4. Dezember 1914 geschenkt hatte. Dieses trug er fortan immer bei sich. Am Abend dieses Geburtstages saß er vor dem Bild und dachte mit starken Gefühlen an Frau und Kinder und konstatierte die Bedeutung des Momentes: »Das kann nur der ermessen der selbst in Gefahr und Krieg plötzlich die lebenswahren Gesichter vor sich sieht.«189
Witzleben hat es den gesamten Krieg über abgelehnt, seine Frau in das rückwärtige Frontgebiet kommen zu lassen, was ihm von seinen Vorgesetzten immer wieder angeboten wurde. Zu groß fand er den Aufwand für sie, vor allem aber war ihm der Abschied von ihr direkt an der Front gefühlsmäßig nicht geheuer.190