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RILKE UND DAS VERGESSEN

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Franziska winkte aufgeregt. »Noah, du sollst sofort deine Mutter zurückrufen. Irgendetwas ist passiert.«

Bert und ich liefen zur Hütte, ich kramte nach meinem Smartphone im Rucksack und wählte die Nummer meiner Mutter.

»Noah, bist du es? Oma ist gestürzt und Opa kann sie nicht mehr heben.«

Opa hatte am Telefon geweint, erklärte meine Mutter. Er wäre völlig überfordert. Oma war an Demenz erkrankt und wurde in letzter Zeit zunehmend aggressiv und unruhig. Opa konnte kaum noch schlafen.

»Ich bin ja selbst im Haus eingeschlossen. Da sind mir die Hände gebunden und da vermisse ich deinen Papa so. Der würde Oma sofort wieder auf die Beine stellen. Ich hab geträumt, dass ich ihn bald besuchen komme.«

»Okay, ich fahr zu Oma und Opa. Ich hab Einweghandschuhe und Desinfektionsmittel dabei. Du aber hältst noch Stellung in deinem Haus, okay?«

Ich verabschiedete mich schweren Herzens von Franziska, Miriam, Bert und den Kindern.

Franziska blieb auf der Hütte, um sich ein wenig zu erholen. Sie hatte viel gearbeitet und wirkte gestresst. Außerdem wollte sie Ben und Jana bei ihren Online-Übungen für die Schule helfen.

Es war schon dunkel geworden, als ich mein Auto das Tal abwärts lenkte. Nur der Lichtkegel meines Toyotas erhellte die Gegend. Nachdem ich die Hauptstraße erreicht hatte, leuchteten mir auch Laternen den Weg. Wie gut, dass unsere Orte nicht unter Quarantäne gestellt worden waren. Noch nicht.

Ich parkte vor dem Haus meiner Großeltern, zog die Handschuhe über und steckte das Desinfektionsfläschchen ein. Opa blickte beim Fenster raus und deutete mir, dass er die Haustüre schon geöffnet hatte. Der Anblick meines hilflosen Großvaters und meiner verwirrten Großmutter, die mit leicht geöffnetem Mund am Boden lag, rührte mich zu Tränen.

Als ich Oma berühren wollte, schrie sie laut auf. Ihr Blick war mir fremd. So kannte ich sie nicht. Wie ein wildes Tier, das in die Enge getrieben worden war. Opa drohte in seiner Verzweiflung mit dem Krankenhaus. Da gab Oma nach. Ich zog sie auf und führte sie zu ihrem Bett. Danach telefonierte ich mit Gerhard, meinem Cousin, der mittlerweile als Hausarzt arbeitete. Er riet mir, die Medikation der Tabletten zu erhöhen.

Ich versprach meinem Opa, ihm jederzeit zu helfen, wenn die Situation akut werden sollte, und verabschiedete mich von ihm. Danach verständigte ich meine Mutter.

Aufgewühlt fuhr ich in Richtung meiner Wohnung, um für Franziska einen Stick mit wichtigen Dateien für ihren Unterricht zu holen. Bei der Ortseinfahrt winkten mich die Polizisten, die mich schon bei der Hinfahrt kontrolliert hatten, an die Seite.

»Junger Mann, haben Sie vergessen, dass nur absolut notwendige Fahrten erlaubt sind?«

Ich wollte dem Polizisten meine missliche Lage erklären, aber er ermahnte mich und machte mir klar, dass er mich in nächster Zeit nicht mehr auf der Straße sehen wollte.

Ich war gefangen. Wütend fuhr ich am Schulgebäude vorbei und hoch zu meiner Wohnung. Verdammt! Ich stieg aus und spazierte zurück zur Schule.

Frische Luft würde mir guttun. Straßenlampen leuchteten mir den Weg. Ich zitterte und spürte, wie die Angst sich langsam ausbreitete.

Im Wäldchen nebenan knackste es. Ich beschleunigte meine Schritte. Gerade noch befand ich mich nicht nur stimmungsmäßig am Berg, nun war ich im Tal gelandet. Als ich die Schule sah, hüpfte mein Herz vor Freude. Mir fehlten die Schüler. Hinter mir vernahm ich einen Atem. Ich drehte mich um. Niemand.

Ich wurde verrückt, musste eine Stimme hören und wählte die Nummer von Martin.

»Noah, wie geht’s?«

Ich erzählte ihm, was vorgefallen war.

»Ja, ist schon eine eigenartige Zeit. Aber wir werden da stärker rauskommen. Sieh dir doch die Fotos von unserem gemeinsam Hausboot-Urlaub letzten Sommer am Shannon an. Das wird dich aufheitern.«

Dann erzählte er mir, wie viel er nun als Ausgleich Sport betreibe und täglich auch Online-Kung-Fu-Stunden gebe. »Nur, ich sag’s dir. Ich habe Kontakte zu ganz spannenden Leuten und einige meinen, hier läuft was ganz anderes ab. Schau auf die neue Seidenstraße Chinas. Ich sag nur Geopolitik.«

Nach dem Telefonat schlenderte ich weiter Richtung Shannon Inn. Keine Menschenseele, nur das Heulen eines Hundes war zu hören. Ich stand vor dem Eingang des Pubs und zündete mir eine Zigarette an. Mein Zigarettenkonsum hatte einen Beinahe-Shutdown erlebt, doch seit dem Shutdown rauchte ich öfter, als mir lieb war. Das Shannon wirkte gealtert, wenn es unbeleuchtet und verlassen an der Straße herumlungerte. Erinnerungen stiegen hoch wie bunte Luftballons in den Himmel des Bewusstseins. Ich kehrte um und schlurfte den Weg zu meiner Wohnung. An der Kuppe angelangt, blickte ich hoch und staunte. Was für ein Sternenhimmel!

Waren nicht mehr Sterne als sonst zu sehen? Beteigeuze vom Sternbild des Orion flackerte auffällig, Sirius strahlte kraftvoll vom Firmament. Als ich wieder nach vorn blickte, huschte im Schein der Straßenlampe ein Fuchs über den Weg. Nicht irgendein Fuchs, sondern mein langjähriger Freund Rilke. Franziska und ich hatten ihm den Namen gegeben.

»Er ist ein Gedicht, ein rätselhaftes«, hatte ich Franziska erklärt, als er wieder das Trottoir entlang getrottet war.

»Nenn ihn doch Rilke«, hatte Franziska vorgeschlagen. Rilke war ständiger Begleiter in meinem Leben, und es war erstaunlich, dass er so viele Jahre hindurch immer wieder auftauchte.


Leise öffnete ich die Wohnungstür, fiel auf das Sofa und klappte meinen Laptop auf. Nachrichten von meinen Schülern flatterten herein. Christian hatte als Schulsprecher eine WhatsApp-Gruppe mit allen Klassensprechern gegründet. So konnten die Schüler untereinander feststellen, in welchen Klassen und Gegenständen das home schooling funktionierte und in welchen nicht. Er hatte mir seine Rückmeldung gesendet. Bis auf ein paar kleine Schwierigkeiten schien alles gut zu laufen. Ich war überrascht, wie schnell sich ein schwer bewegliches System doch bewegen konnte. Vielleicht würden sich auch andere Systeme neu bewegen, einfach, weil sie sich bewegen mussten.

In meinem Spamordner war wieder eine E-Mail für Penisvergrößerung gelandet. Wollte man aus mir noch eine Zirkusattraktion machen?

Das Fernsehprogramm meines Nachbarn Josef lief in voller Lautstärke. Gefühlt jedes zweite Wort war Corona. Was wohl diese Flut an Berichterstattung mit den Menschen machte? Ich dachte an meine Mutter, an meine Großeltern, an Menschen, die einsam waren. Franziskas Bruder, der an Autismus litt, war jetzt zu Hause bei seinen Eltern. Seine Firma konnte ihn nicht länger halten. Ich merkte, wie mich ein wenig der Mut verließ. Müde schlief ich ein und tauchte ab in das Land der Träume.

Feuer ins Herz

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