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EINE SCHNAUZE VOLLER LIEBE

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»Aufstehen! Willst du den ganzen Tag verschlafen? Der Kaffee ist schon fertig.«

»Was? Moment, wo bin ich? Was ist los?« Ich saß aufrecht im Bett und versuchte mich zu orientieren.

»Schon sechs Uhr morgens und du schläfst immer noch. Ist das dein Ernst?«

Kannte ich die Stimme nicht? Ich schüttelte mich und blinzelte. Es war frühmorgens. Die ersten Lichtstrahlen hatten sich ihren Weg durch die Schlitze meiner Jalousien gebahnt.

Die Silhouette eines Mannes mit Cowboyhut und einem buschigen Schweif am Hinterteil. Ein breites Grinsen, der kleine Spalt zwischen den Vorderzähnen, der Geruch von Lagerfeuer, Salbei, Rosen und …

»Ko-ko-ko-Kojote? Old Man Coyote – du? Echt?« Ich klopfte mir auf den Kopf, zwickte und schüttelte mich.

»Wer denn sonst? Dein Freund und Helfer.«

»Ich fass es nicht, du bist es wirklich! Mein komischer, äh, kosmischer Freund?«

Ich sprang auf und rannte wie ein kleiner Junge in die offenen Armen des stattlichen Mannes, der über das ganze Gesicht strahlte. Ich konnte und wollte ihn nicht mehr loslassen.

»Ups, kannst du dich anstecken, Coyote?«

»Ja, mit dem Virus der Liebe.«

Er lachte, ein Lachen, das noch viel ansteckender war, als es das Virus sein konnte.

»Wenn ihr euch fürchtet, seid ihr schon geschlagen. Die Furcht macht Teufel aus Engeln, sie sieht nie richtig.

Sei gegrüßt, ich bin’s. Der alte und ewig junge Mann.«

Ich weinte und lachte vor Freude. Wir tanzten vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer. Kurz wurde mir schwummerig, ich musste mich setzen. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis ich mich wieder gefasst hatte.

»Coyote, was machst du hier? Außer Shakespeare zu zitieren?«

Tränen der Freude liefen über meine Wangen. So sehr hatte ich diesen verrückten Alten vermisst. Oft hatte ich an ihn gedacht, seinen Namen gerufen. Gespürt hatte ich ihn, manchmal intensiv, und ich wusste, er half mir in schwierigen Momenten. Aber dann war Coyote wieder wie vom Erdboden verschluckt gewesen.

»Noah, ich will dich ein wenig an das Leben erinnern. Die Zeiten sind ja nicht so einfach im Moment. Also, im eigentlichen Moment immer. Sie sind nur derzeit nicht so einfach, wenn man sich nicht auf den Moment einlässt.«

»Wo hast du die ganze Zeit gesteckt? Was macht man als Kojote?«

»Ach, ich bin einfach. Und dabei nehme ich viele Rollen ein. Du weißt schon. In diesem Theater suche ich mir meist eine Rolle, die bester Zeitvertreib mir ist. Das wechselt oftmals überaus geschwind! Gern bin ich hier auf Erden bei einer meiner Herden.«

»Ich bin Teil einer Herde?«

»Ja. Und kein Fohlen mehr. Das ist schön.«

»Und auch kein Wallach. Das ist auch schön.«

»Übertreib mal nicht. Jetzt verwandeln wir dich wieder in ein Wildpferd, damit sie dich nicht reiten können.«

»Wen meinst du genau?«

»Egal, eigentlich ist es der Teil, der an die Trennung glaubt, der dich stetig reiten möchte. Dein kleines Ich. Seine Peitsche ist schrecklich, die Sporen auch. Und es will nur deine Kraft. Wirf es ab.«

»Meine Freunde haben dich als John Fox vermisst. Immer wieder fragen sie, wann du wiederkommst.«

»Nun bin ich da, in Quarantäne.«

»Nein, hier ist keine. Einige Nachbarorte sind in Quarantäne. Auch ein paar Täler. Und nebenan das Bundesland Tirol. Die Grenze zu Deutschland ist geschlossen. Hier ist alles streng, in Quarantäne sind wir aber noch nicht.«

»Ich bleibe jetzt bei dir. Mein Koffer steht ja noch im Raum. Ich hoffe, er ist keine olfaktorische Belastung.«

»Oh, das warst also du. Der Donner?«

Coyote lachte.

»Und wie komme ich zu dieser Ehre, dass du bei mir einziehst? Noch dazu mit so einem gewaltigen Koffer?«

»Du hast mir gefehlt, mein Steckenpferd. In dir steckt so viel. Aber du musst noch lockerer werden. Manchmal kommst du daher, als hättest du einen Stecken verschluckt. Sei nicht allzu steif.«

Coyote hüpfte auf einem imaginären Steckenpferd durch die Wohnung. Schlief ich noch und träumte ich, dass ich aufgestanden war?

Ich öffnete meine Augen ganz weit. Dann schloss ich sie, zählte bis drei und öffnete sie wieder. Immer noch sah ich diesen verrückten Coyoten. Ich schlich ins Bad, zählte bis zehn und kam zurück. Old Man Coyote war noch da. Im Pyjama schlurfte ich raus auf den Balkon, zündete mir eine Zigarette an und blickte in die Wohnung. Ich konnte es nicht fassen. Er war wirklich wieder bei mir.

Ich könnte die ganze Welt umarmen, dankte dem Universum, Gott, dem Leben.

Und Coyote? Er drehte Musik auf und tanzte wilder als erlaubt war. Was sollte ich Franziska erzählen? Würden meine Freunde von ihm erfahren? Bert? Welche Meinung hatte Kojote zum ersten weltweiten Shutdown der Menschheitsgeschichte? Was war von den nächsten Monaten und Jahren zu erwarten? Warum kam er gerade jetzt? Als Sterbebegleiter? Fragen über Fragen …

»Kaffee gefällig?« Coyote hatte bereits Kaffee aufgestellt und servierte in einem übergroßen Kaffeehäferl das pechschwarze Getränk. Zuerst dachte ich, er hätte schwarzen Pudding auf den Tisch gestellt.

»Wir Cowboys lieben starken Kaffee. Der Löffel soll Widerstand spüren.«

»Coyote, was hab ich nur ohne dich gemacht? Bist du per oder ohne Anhalter durchs Universum zu mir gereist?«

»Ich brauche weder Anhalter noch Zuhälter.«

Wieder verschmolzen Realität und Wahrnehmung zu einem eigenartig köstlichen Ereignis.

Ich blickte Coyote von der Seite an. Hatte er sich verändert? War er älter geworden? Oder jünger? Bei ihm wusste man ja nie. Er wirkte frisch und vital wie eh und je. Die Krise schien ihm nichts anzuhaben.

»Du siehst gut aus, Noah. Etwas gealtert. Aber so ist das nun mal unter der Sonne. Hast vieles gut gemeistert, so viel ich sehen konnte. Also, ein Gut von mir. Und von Gott würdest du ein Sehr gut erhalten, denn er kennt nur Sehr gut und Gut. Er ist nicht so streng wie ihr selbst es mit euch seid.« Coyote grinste.

»Oh, du hast mich beobachtet?«

»Ja, sicher, immer wieder. Solltest du nicht deinen Klasseneltern einen Fragebogen schicken, um zu erfahren, wie das Fernlernen diese Woche gelaufen ist?«

»Dir entgeht ja nichts.«

Ich schrieb eine kurze E-Mail an die Eltern. Danach sah ich nach, ob Coyote noch da war. Ja, er saß auf meinem Sofa. Anschließend telefonierte ich mit der Klassenelternvertreterin. Ich hatte Glück mit ihr und meiner Klasse, riesiges Glück. Die Gemeinschaft war großartig, die Leistungen der Schüler auch. Meine letzte Klasse hatte ich nur widerwillig abgegeben. Abschiede fielen mir schwer. Fast immer. Ich weinte, sodass Franziska sich schon sorgte, ob wir gleich per Boot in die Mongolei, unser Reiseziel, übersetzen könnten. Dann erschien die neue Klasse auf der Schulbühne und die Kinder eroberten wieder mein Herz. Jetzt waren wir in der vierten Mittelschulstufe, der achten Schulstufe insgesamt, gelandet und seit Kurzem hatte ich nur noch per Internet Kontakt zu den Schülern. Einige erhielten somit erstmals in ihrem Leben auch E-Mails. Irgendwie kurz nach Höhlenmalerei, Flaschenpost und Brief musste dieses langweilige Etwas erfunden worden sein. Generell konnten sich die Jugendlichen keine Welt ohne Internet vorstellen, waren sie doch zirka zehn Jahre nach Einführung des World Wide Webs auf die Welt gekommen. Mir ging’s ja ähnlich.

»Ich mag’s, dass du deinen Unterricht etwas mehr digitalisierst«, meinte Coyote. »Der Online-Rechtschreibtrainer ist wirklich gut. Du ersparst dir Arbeit beim Individualisieren.«

Ich war platt. »Du findest das gut? Echt, Coyote?«

»Klar. Adler und Kondor kommen wieder zusammen. Diese Lernformen haben Zukunft, sie werden vermehrt eingesetzt und können hilfreich sein. Aber nur eingebettet in etwas Größeres.«

Er sprach das Aber bedeutungsschwanger und langgezogen. »Deswegen bin ich hier bei dir. Die Zeit verlangt Großes, weil Großes vor sich geht. Etwas Neues wurde nun tatsächlich eingeläutet. Ich hab’s dir damals schon versprochen, nicht wahr?«

»Neues muss nicht immer Gutes heißen. Manche haben derzeit eher Angst vor einem tiefen Fall.«

»Ein tiefer Fall führt oft zu höherem Glück

»Woher kommt das Virus, Coyote? Ist es ein Kind der Naturzerstörung? Oder das Produkt einer Intrige? Der Unfall eines Zauberlehrlings? Oder eine natürliche Erscheinung?«

»Sein oder Schein, das ist hier die Frage. Genaueres später«, gab er sich kryptisch.

Mein Smartphone läutete, Franziska war am anderen Ende.

»Noahschatz, wie geht’s dir? Es ist so herrlich hier draußen. Das viele Sitzen vor dem Bildschirm war schon wie ein Eintauchen in die Matrix. Die verlässt gerade wieder mein Gehirn.«

Wir vereinbarten, dass Franziska bei Miriam und Bert blieb und ich frühestens am Sonntagabend zur Hütte hochfuhr.

»Danke Natur, Mutter Natur, du bist die Beste!«, hörte ich sie noch rufen, bevor ich das Handy weglegte.

»Coyote, erzähl. Ist dir das Lachen noch nicht vergangen?«

Coyote stand auf und servierte auch sich selbst einen Kaffee. Er hängte seine Lederjacke über die Sessellehne. Danach griff er nach seinem Hut und schmiss ihn auf die Kühlschrankoberfläche.

Wie vertraut war mir der perfekte Flug des beinahe freischwebenden Cowboyhutes. Coyotes weißes Haar fiel über seine breiten Schultern. Sein Holzfällerhemd stand ihm richtig gut. Und er roch beeindruckend angenehm.

»Wie ich dieses Gebräu liebe«, murmelte er. »Tja, mir vergeht das Lachen nie. Mir geht’s prächtig. Alles gut im großen Sinne. So wie dieser herrliche Kaffee.« Er schlürfte kräftig. »Übrigens, du trinkst in Kapseln eingesperrten Kaffee an deiner Schule. Nicht gut.«

»Aber das ist Biokaffee und in biologisch abbaubare Kapseln gepresst.«

»Genau, gepresst. Lass dich nirgendwo reinpressen, auch nicht biologisch abbaubar. Das reicht nach deinem Tod am Friedhof.«

»Aber ich werde gerade als biologisch abbaubares Opfer in eine Art Quarantäne gepresst. Und hab weder mit Immobilien noch mit Gold und Silber vorgesorgt. Okay, abgesehen von dem Regenwaldgrundstück in Costa Rica und dem einen Stern, der nach Franziska benannt wurde.«

Coyote lachte. »Aber mit Klopapier hast du vorgesorgt, du kleiner Scheißer.«

»Wenn’s zu wenig wird«, sagte ich und lachte, »die Gratiszeitungen liefern ja auch immer Gratisklopapier. Die sind wirklich für die Kehrseite des Lebens.«

»Bei dir scheint nicht die Globalisierung, sondern die Klopapierisierung durchzuschlagen. Der Run aufs Klopapier wäre ein spannendes Feld für eure Tiefenpsychologen. Die kramen doch gern in der Scheiße.«

»Was denkst du, warum die Menschen jetzt so viel Klopapier horten?«

»Angst vor dem Tod bei gleichzeitiger Todessehnsucht. Thanatos lässt grüßen.«

»Und die mit viel Eros besorgen sich also eher Kondome?«

»Tja. Irgendwann muss man sich schon die Frage stellen, ob man auf die Vitalität des Pferdes oder auf Pferdeäpfel setzt.«

»Aber wir sind eben auch sprachlich anal fixiert. Es ist vieles Scheiße und beschissen. In der englischen Sprache ist eine beschissene Situation dann fucking. Englisch ist anscheinend eher eine vaginale Sprache. Was denkst du, Coyote. Gibt es eine Schutzpatronin des Klopapiers?«

»Cosy, glaub ich.«

»Oder Tempo, Softis. Vielleicht auch Hakle?«

Coyote verbeugte sich mit gefalteten Händen und sprach: »Hakle ist tatsächlich die Schutzpatronin des Klopapiers, mein Sohn. Sie gilt als Anwärterin auf den Heiligen Stuhl.«

»Ja, mein Stuhl ist mir auch heilig, Coyote.«

»Wenn Hakle den Stuhl besteigt, dann wird die Lage für die Kirche richtig beschissen«, fuhr Coyote fort. »Nur derzeit bete zu Corona, mein Sohn.«

»Wieso?«

»Sie ist die offizielle Schutzpatronin gegen Seuchengefahr. Nebenbei ist sie auch für gelungene Geldangelegenheiten zuständig. Du kannst das gern recherchieren.«

»Sie scheint die Frau der Stunde zu sein. Ich liebe Corona.«

»Aber wisse, Noah: Mit Hakle feucht ist die Toilette sicher nicht verseucht!«

»So, mir reicht das Gespräch, Coyote. Ich muss nun auf die Toilette. Wir haben zu viel darüber geredet. Außerdem hatte ich noch keine Zeit fürs Bad und Zähneputzen.«

»Also, dann – toi, toi, toilet. Hast du eigentlich einen Globus?«

»Nein, ich schaffe es auch zu Fuß aufs Klo.«

Coyote lachte. »Nein, ich meinte dieses kugelförmige, verkleinerte Modell dieses wunderbaren Planeten. Ich will dir was zeigen.«

»Ich habe eine Erdkugel als Wasserball, den ich aufblasen kann. Wie lange bleibst du, Coyote?«

»Bis das Schlimmste vorüber ist. Es ist gerade eine magische Zeit. Eine Schwelle. Eine große Visionssuche der Menschheit. Die neue Welt befindet sich im Geburtskanal. Darum wirkt es noch etwas finster. Und ich garantiere dir: Es wird vorübergehend noch dunkler werden.«

»Ja, richtig beschissen.«

»Ich sagte Geburtskanal und der ist vaginal.«

»Du bist derb. Aber du riechst fein.«

»Du auch, nach Eau de toilette

»Ach komm, Coyote. Und dann zitierst du wieder Shakespeare. Ich geh jetzt pinkeln.«

»Oh, the toilet! To pee or not to pee – that is the question

Wir lachten und dazwischen kullerte mir wieder eine heiße Träne die Wange runter. Ich schlug mit dem alten Mann ein und verschwand in der Toilette.

»Coyote, worauf soll ich jetzt achten?«

Er blickte in das stillste Örtchen der Welt und trug dabei meinen Mundschutz.

»Ah, ich soll mich vor Viren schützen?«

»Nein, vor dem Gestank des Todes. Ist ja furchtbar. Du musst an deiner Verdauung arbeiten.«

»Mach ich, danke. Ich verwende ab jetzt den Mundschutz als Schutz vor zu viel Nahrungsaufnahme. Seit ich so viel zu Hause bin, futtere ich viel mehr.«

»Man riecht’s, Noah.«

»Nur, worauf soll ich wirklich aufpassen, Coyote?«

»Auf das Leben, Noah, den Humor und das Lachen. Es werden noch herausfordernde Monate. Gott liebt dich.«

»Ich ihn auch.«

»Bleib verrückt, tanze und scheiß auf die Panik. Sei ein Poet des Lebens. Gott ist übrigens eine dicke, lesbische Indianerin. Hab ich dir das schon verraten? Das Geheimnis ist gelüftet. Du solltest auch lüften und dir weniger scheißen.«

»Scheiß der Hund aufs Feuerzeug, herzenszentrierte Verrücktheit und Fischottereffekt. Ich hab’s nicht vergessen, Coyote!«

Mit seinem genialen Moonwalk glitt er wie auf Rädern bei der Tür wieder raus. »Der Heilige Geist wird dich führen, Noah. Aber dafür musst du auch mal ein bisschen verrückt sein.«

»Bin ich, danke.«

»Es hat keinen großen Geist ohne eine Beigabe von Verrücktheit gegeben. Das wusste schon Seneca. Bis später. Übrigens: Das Schulsystem wird sich grundlegend ändern.«

»Denk ich mir. Nur wie?«

»Erzähl ich dir später. Können wir uns dabei nicht auf das Dach des Wohnhauses setzen? Und ein Bierchen trinken? Und dabei in den Sonnenuntergang blicken? Wäre sehr romantisch, finde ich, während wir den Abgesang auf das alte System anstimmen.«


Vanessa, meine Volksschulkollegin, meldete sich per WhatsApp-Video-telefonat, während ich mich noch in der Toilette befand.

»Noah, was sagst du zu dieser unheilvollen Stimmung, die in der Luft liegt?«

»Ja, es liegt Unheilvolles in der Luft.«

»Du hast anscheinend eine sehr gute Stimmung.«

»Ja, Stimmung schon.«

»Warum schaust du so eigenartig? Läuft deine Kamera an oder brauchst du etwa eine Brille?«

»Oh, auf der sitze ich.«

»Was?«

»Auf der Klobrille.«

»Ach, Noah. Wirst du denn gar nicht mehr klüger? Du bringst mich ja noch zum Lachen.«

»Epochales Lachen, Vanessa. Das ist die Antwort auf epochale Krisen.«

»Derzeit ist das nicht immer leicht. Manchmal erheitern mich die Eltern der Schüler. Ich bekomme mittlerweile Anrufe, wie denn die Mathematik-Beispiele des Schulbuches zu lösen seien. Noah, wir sind in der dritten Klasse Volksschule!«

»Nein, ich nicht.«

»Du weißt schon, wie ich das meine. Warum verstehen manche Eltern nicht einmal mehr die Aufgaben von Neunjährigen?«

»Warum sind so wenige mit ihrem Hirn unzufrieden, so viele aber unzufrieden mit ihrem Körper? Es sollte ein Umdenken stattfinden, nur dafür braucht es Hirn.«

»Noah, man hört, seit der Ausgangssperre habe ein Schock die Kinderseelen erfasst.«

»Welcher?«

»Der Schock über den Wissensstand der eigenen Eltern.«

»Ja, manche Eltern werden tatsächlich noch einen Impfstoff vor der Pharmaindustrie gegen Corona entwickelt haben. Vielleicht ist dieser auch unbedenklicher.«

Vanessa hatte zu einigen Schülern den Kontakt verloren. Sie hatte Lernpakete vorbereitet, die die Kinder in der ersten Woche der Ausgangssperre in ihrer Klasse abholen sollten. In der Volksschule funktionierte vieles noch analog. Da ich meine Deutschbücher fast nicht gebraucht hatte, war der Übungsteil nun der analoge Part meines Homeschooling-Unterrichts. Die ersten Texte, die meine Schüler zu Hause am Computer eingetippt hatten, waren per E-Mail eingetrudelt. Ich korrigierte sie mit dem Word-Korrekturprogramm. Die Schüler sollten einen Text verfassen, der eine positive Zukunft nach Corona beschrieb.

Ein kurzer Blick auf die Website einer Tageszeitung und Berichte über Neuinfektionen, angedachte Maßnahmen und Tote fanden sich im Übermaß.

Wie gefährlich war das Virus? Hatte die Virenexplosion im Norden Italiens etwas mit der größten chinesischen Community Europas zu tun? Moderne Sklaven im Dienst von Mode und Gier?

Ich verließ die Toilette und schlug Coyote vor, Vollkorn-Spaghetti zu kochen. Als wir später an unseren Kaffees schlürften, meldete sich meine Mutter. Ich schlenderte mit meinem Handy auf den Balkon.

Aufgeregt erzählte sie mir, dass der Heimatort der Großeltern wahrscheinlich in Quarantäne gestellt werden würde. Der komplette Ort abgesperrt? Eine Katastrophe für meine Großeltern. Ich konnte es nicht fassen! Sofort war ich zurückkatapultiert in die tragischen Schicksale vieler Menschen heute. Einsamkeit und Überforderung hatten sich bei manchen breitgemacht.

Für andere war diese Zeit offensichtlich ein Segen. Die Introvertierten hatten sich ein Leben lang auf diesen Moment vorbereitet. Ich liebte Buddha und hielt ihn für einen der wahren Giganten der Menschheitsgeschichte. Aber ich hatte auch das Gefühl, er hätte gern aus der Welt ein Kloster geformt. Was er nicht geschafft hatte, Corona schaffte es. Die Menschen waren in ihren Zellen auf sich selbst zurückgeworfen.

Für meine Großeltern war dies eine der größten Herausforderungen ihres Lebens. Ich rief sofort meinen Cousin Gerhard an. Er hatte sicher eine Lösung. Gerhard winkte ab.

»Noah, ich kann nicht zu ihnen fahren. Wahrscheinlich bin ich selbst schon erkrankt. Holst du das Medikament bei mir ab? Wir müssen testen, was bei deiner Oma greift.«

»Wie sollen wir Medikamente testen, wenn sie unter Quarantäne sind?«

»Kreativität ist gefragt. Ich rufe einen befreundeten Neurologen an und rede mit deinem Opa. Gib mir mal die Nummer.«

Wir vereinbarten, dass ich gegen Abend bei ihm vorbeikommen und das Medikament meinen Großeltern bringen würde.

Ich betete am Balkon stehend zu Gott. Wenn er mich liebte, wie Coyote meinte, und ich ihn, dann könnte er meinen Großeltern helfen. Nicht wie ein Bettler sollte ich an die Türe klopfen, damit geöffnet werden konnte. Sondern wie jemand, der erwartet und geliebt wurde, hatte mir Coyote erklärt. Natürlich war für mich die Quelle allen Lebens weder männlich noch weiblich.

Feuer ins Herz

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