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INDIAN SPIRIT UND LOCKDOWN

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Hastig schlüpfte ich in meine Schuhe und steppte die Stiege nach unten. Franziska korrigierte Schülerarbeiten. Draußen war es ruhig, auf dem Gehsteig verirrten sich nur vereinzelt Spaziergänger. Hatte ich jemals den Gesang der Vögel so deutlich gehört? Ich legte den Kopf in den Nacken. Keine Gefahr, mit jemandem zusammenzustoßen. Der Himmel, sonst dunstig und mit Kondensstreifen durchzogen, hatte sein blaues Kleid gewaschen und strahlte klarer als je zuvor.

Die Schule lag verwaist vor mir. Die Fenster waren geschlossen, Fahrräder und Autos verschwunden. Das bunte Treiben war einer Stille gewichen. Katja, unsere Direktorin, hatte mich gerufen. Ich sollte ihr beim Verfassen einer E-Mail helfen.

»Noah, was machst du hier? Freut mich, dich zu sehen.« Dietmar, der kreative Zyniker des Lehrerteams, hatte drei Packungen Klopapier auf seiner Arbeitsfläche im Lehrerzimmer gestapelt. »Willst du was davon? Im Supermarkt ist das Klopapier vergriffen, Noah. Gibt wahnsinnig viele Scheißer da draußen, wenn’s ausverkauft ist.«

Katja stakste herein, traurig, ein wenig erschöpft, und gähnte herzhaft. Sicher war sie froh, dass ihre Zeit hier bald zu Ende war. Schade, ihre Abschlussfeier könnte ausfallen.

Dietmar schimpfte weiter vor sich hin, dass wir uns auf einen Polizeistaat einstellen müssten. Die Reichen würden wieder das Geld den Ärmeren aus der Tasche ziehen. Wie bei der letzten Wirtschaftskrise.

»Der finanzielle Mittelstand ist verloren. Der intellektuelle schon längst. Ich setze nun auf vier Anlageformen: Gold, Bitcoin, Immobilien und Klopapier. Klopapier hat das größte Potenzial und mit den vielen Ärschen in dieser Welt ist es ein absolut sicheres Investment. Gott sei Dank fallen die Osterfeierlichkeiten mit meiner buckligen Verwandtschaft diesmal aus. Endlich Friede auf Erden.«

Er klemmte sich seine drei Pakete unter den Arm. »Bis dann, ich mach mich aus dem Staub in Richtung Shutdown.«

Nachdem ich Katja geholfen hatte, brauchte ich einen Cappuccino. Ich schlenderte zum Kaffeeautomaten. Tim, der Hausmeister, grüßte mich von Weitem. »Du bist mit Abstand der beste Lehrer!«

»Danke, Tim. Du bist mit Abstand das beste Team, äh, der beste Tim! Abstand scheint derzeit die Form der Wertschätzung.«

Ich besuchte meinen Klassenraum. Traurig sah ich mich um. Stühle, Tische, eine blank geputzte Tafel. Sofort stieg mir der vertraute Geruch von Kreide in die Nase. Ja, wir waren immer noch in der Kreidezeit. Bald würde das Zeitalter der Digitalisierung ihr ein Ende setzen. Seit vier Jahren arbeitete ich hier mit meinen Schülern. Wir hatten das Zimmer selbst ausgemalt, es mit unseren Ideen und unserem Lachen gefüllt. Einsam und verlassen starrte nun der Raum aus den Fenstern, um nach den Kindern zu sehen. Die Luft war stickig.

Am Lehrertisch lagen Klassenlektüren für den Englischunterricht. Einige Schüler hatten diese noch nicht abgeholt. Es war still. Die Uhr zeigte auf zwölf Uhr Mittag. Die Topfpflanzen, von den Schülern nach den Lehrern benannt, betrieben still ihre Fotosynthese. Ich stellte mich vor die Bänke und sah jeden Schüler vor mir. Wunderbare Jugendliche, jeder von ihnen etwas Besonders. Ich konnte beinahe sehen, wie sie zurücklächelten.

Melina scherzte und die Klasse lachte. Benjamin war kurz davor einzuschlafen und Valentina fragte sich, warum man lernt, wenn man sowieso sterben würde.

Die Schule würde sich ändern. Etwas Neues lag in der Luft. Der Vogel der Freiheit wollte schlüpfen, die Schale des dreidimensionalen Eies aufbrechen. Die Kraft des Herzens würde wieder Leben in die Schulen pumpen.

Ich jedenfalls schlüpfte durch den Hintereingang, um eine Zigarette zu genießen. Eine Indian Spirit konnte nicht schaden. Hier standen wir immer, Franziska, Martin, Patrizia und ich.

Was Patrizia wohl machte? Sie wohnte allein in einem Wohnhaus, wunderschön an einem Bach gelegen. War sie einsam? Vom Balkon angelte sie Fische. Unerlaubt. Sie hatte Selfies davon verschickt. Ein Rotkehlchen, das Nahrung aufpickte, beruhigte meinen Verstand. Ich liebte diese Vögel, die wie lichtvolle Edelsteine durch die Lüfte schwirrten. Jedes Mal, wenn ich sie sah, explodierte eine unbändige Freude in mir.

Auf dem Heimweg fühlte ich mich beschattet. War jemand hinter mir? Ich drehte mich um. Niemand. Kein Mensch zu sehen. Woher kamen meine Ängste und Sorgen? War es die Unsicherheit, die derzeit in der Luft lag? Oder meine Besorgnis um die Zukunft des Planeten?

Feuer ins Herz

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