Читать книгу Feuer ins Herz - Gerald Ehegartner - Страница 23

KATZEN, MARTIN UND DER FLIEGENDE SCHWAN

Оглавление

Das Telefon läutete und Martin, mein verrückter Lehrerkollege und Hausbootveteran, war am anderen Ende. »Noah, magst du eine Runde mit mir joggen? Ich muss mal raus in die Natur. Weißt du, ich wollte in der Fastenzeit an einem Schweigeretreat teilnehmen, abgelegen in einem Kloster. Jetzt bin ich abgelegen in meiner Wohnung. Susi kommt erst morgen wieder. Sie hilft ihren Eltern auf dem Bauernhof. Die Trockenheit und die Ausbreitung des Borkenkäfers machen ihren Eltern schwer zu schaffen. Sie vermisst übrigens ihre Arbeit im Shannon sehr.«

»Martin, passt es für dich, wenn Franziska später dazukommt? Wir könnten die Runde zweimal laufen, das wäre dann ein Halbmarathon! Und zwischen den Runden pausieren und ein wenig plaudern.«

»Großartig, aber wie weiß Franziska, wann sie kommen soll?«

»Ich lade Franziska zu einem Experiment ein. Sie trainiert gerade intensiv ihre Intuition. Gegen Ende der ersten Runde schicke ich ihr eine telepathische Nachricht. Das Smartphone bleibt zu Hause, die Auswertung der Standortdaten umlaufen wir. Franziska kann nicht nur gut Wörter lesen, sondern auch Gedanken und telepathische Nachrichten.«

»Noah, ich höre sie eher«, flüsterte sie mir zu.

Ich verabredete mich mit Martin. In zwanzig Minuten sollte der Lauf in das kleine Wäldchen nahe der Schule starten.

»Noah, gerade hast du mich darauf gebracht, was wir alles lesen: Wörter, Fährten, Weine, Gedanken, Mimik, Karten, Böden … Schon erstaunlich, nicht wahr?«

Ich schlüpfte in meine Zehensocken und die bunten Five-Fingers, die ich mir zugelegt hatte. Mein Handy piepste. Opa hatte mir eine Sprachnachricht gesendet.

»Noah, ich wollte dir nur sagen«, begann Opa, »dass es uns besser geht. Oma ist viel friedlicher. Wie ein kleines Wunder … Wir genießen die gemeinsame Zeit wieder. Ich danke dir für deine Hilfe. Das Medikament scheint großartig zu sein!« Ich sprach Opa eine Botschaft auf Band und lief die Stiege nach unten. Hier saß Cat Stevens.

Der Besitzer im Erdgeschoß hatte seinen Kater so getauft und fand dies ungemein witzig. Cat Stevens, ein sanfter, feingliedriger Kater, konnte sich sehr wohl zur Wehr setzen. Soweit ich wusste, war er noch nicht zum Islam konvertiert, sonst hätte sein Besitzer ihn sicher schon Yusuf gerufen, aber seine Schreiduelle und Kämpfe mit Pablo hatten mir schon einige Male den Schlaf geraubt. Zum Glück mussten sich die beiden nicht mit Corona herumschlagen. Das war dann doch eine ziemlich menschliche Angelegenheit.

Pablo war der Kater von Josef. Bert hatte ihn Josef durch meine Vermittlung geschenkt, nachdem Josefs vorige Katze als Methusalem verstorben war. Den Namen Pablo hatte der Kater noch von Bert erhalten, dessen Lieblingsdichter Pablo Neruda ihn dazu inspiriert hatte. Kater Pablo war voll natürlicher Würde und Freude am Leben. Pure, wilde Schönheit. Wie wenn ein Gedicht durch die Natur streifen würde, so kam es mir vor, wenn Pablo unterwegs war. Ob sich Rilke und Pablo kennen oder vielleicht sogar schätzen würden? Füchse gehörten zwar zu den hundeartigen Tieren, ihrem Wesen nach aber waren sie für mich so was wie Katzenhunde.

Ich streichelte kurz den kleinen Schmusekrieger, dann sputete ich mich. Ich war spät dran. Ob Martin barfuß laufen würde? Als ich die Straße nach unten lief, winkte mir Martin und zeigte auf seine imaginäre Uhr. »Hast du die Zeitumstellung übersehen, Noah?«

»Ach darum. Ich richte mich nach der Kirchenuhr und die hat noch nicht mitgemacht.«

Martins weiße Füße blitzten mir entgegen.

»Mit deinen nackten Füßen wirst du heute die Astronauten der ISS blenden, Martin!«

Wir liefen los und fegten auf dem schmalen Weg über die Landschaft. Martin lief vorn, ich hinterher. Wie sah die Erde vom größten außerirdischen Bauwerk der Menschheitsgeschichte wohl aus? Friedlich würde sie im Weltraum schweben, so wie Martin und ich über den Boden unseres wunderbaren Planeten. Die Vollbremsung der Menschheit durch ein unsichtbares Virus war von der ISS aus sicherlich nicht erkennbar. Die Raumstation war wohl der sicherste Ort vor Corona-Viren, obwohl die freischwebende Quarantäne an Bord andere Ursachen hatte.

Martin legte ein ordentliches Tempo vor. Seine Schrittlänge war für ihn typisch kurz und er rollte von den Zehenballen zu den Fersen ab. Während wir über die Landschaft glitten, sahen wir Rehe, die uns neugierig beäugten, statt zu fliehen. Die wundervolle Stille und Ruhe, die sich über die Natur gelegt hatte, waren zu spüren. Auf einer Anhöhe blieb Martin stehen.

»Schau dir das an, Noah.«

Mehrere Krähen versuchten gemeinsam, ein Mäusebussardweibchen, das friedlich über einem kleinen Wald kreiste, zu vertreiben. Die Krähen attackierten den Greifvogel. Ruhig änderte das Weibchen die Flugrichtung, ein Turmfalke zischte ihm hinterher.

»Im Gegensatz zu Habichten sind Bussarde ziemlich chillig. Quasi tiefenentspannt«, erklärte ich Martin.

Wir setzten uns auf Felsen, jeder auf seinen eigenen. »Noah, ich hab von John Fox geträumt. Der Traum war so real, dass ich nach dem Aufwachen erst realisieren musste, dass es kein Traum war. Er hat uns so inspiriert. Susi sagt, dass er ihr Leben gerettet hat. Allein meine Energie beim Laufen ist auf einem völlig neuen Level. Als John mir von Pan erzählte und dem Laufen mit der Kraft der Natur, war das der Sonnenaufgang zu einer völlig neuen Laufwelt. Du weißt, ich hab seitdem kleinere Läufe gewonnen.«

Als Martin das Wort Pan gesprochen hatte, wirkten er und seine Umgebung wie in Licht getaucht. Wir schwiegen, dann wandte er sich mir zu: »Noah, ich stecke derzeit in einer Krise. Mein Selbstbewusstsein verlässt mich wie tauender Schnee in den Bergen. Ich weiß nicht, was es genau ist …, aber ich hab das Gefühl, ich komme bei den Schulkindern nicht mehr so gut an.« Er seufzte. »Frauen reagieren kaum auf mich. Susi und ich, wir lieben uns. Manchmal würde mir ein wenig Bestätigung am freien Markt aber guttun. Ich meditiere kaum, verpenne das Online-Training meines Kung-Fu-Lehrers, weil ich hundemüde bin. Diese Krise, sie raubt mir Zeit. Stundenlang surfe ich im Internet und suche nach wahren Gründen für den Ausnahmezustand. Du kannst dir nicht vorstellen, was man da alles findet. Ich war sogar bei einer Dame, die angeblich hellsichtig ist. Nur, ihre Prognosen waren düster, ihr Wesen auch.«

Der Schrei des Bussards war wieder zu hören, Insekten summten neben uns.

»Martin, machst du dich zu sehr von anderen abhängig? Du scheinst verunsichert, öffnest dich ungebremst für alles. Aber wie es schon in dem Spruch heißt: Wer für alles offen ist, kann nicht ganz dicht sein. Warum konzentrierst du dich nicht wieder mehr auf deine buddhistischen Wurzeln, Martin? Es ist ein wunderschöner, verlässlicher Weg ohne geistige Fake News. Wenn schon, dann höre auf jene, die eine natürliche Spiritualität leben.«

»Du hast recht. Überall explodieren die Brand News zu allen möglichen Bereichen, Verschwörungstheorien geistern durch unterschiedliche Kanäle. An einigen ist was dran, viele führen ins Nichts. Ich hab da viel gelesen. Zu viel.«

»Verschwörungstheorien haben noch nichts mit Spiritualität zu tun, auch wenn manche Teilwahrheiten einfangen können, oder? Das ist eine andere Liga. Spiritualität ist freie Energie um uns und in uns, weder geheim noch verschlossen. Wir haben diese Energie nicht, wir sind sie.«

»Danke, für die Klarheit, Ehrenbruder«, sprach er im Slang unserer Schüler. »Mich hat die Angst zu stark vernebelt. Sie hat mein Unterscheidungsvermögen gelähmt. Du, Susi kommt heute Abend zurück. Angenommen, sie hat sich angesteckt, welche Stellung ist hier am besten?«

Ich blickte Martin an, bemerkte dann aber, dass seine Frage nicht ernst gemeint war. »Also, auf Ehrenbruderbasis: Ich empfehle das fliegende Entenpaar, den Brückenpfeiler oder den liegenden Schwan. Als Krönung preise ich den fliegenden Schwan. Aber dafür muss man schon sehr spirituell sein. Kappa.«

Martin lachte und ich musste an Franziska denken. »Martin, Zeit zum Aufbrechen. Franziska wartet sicher für die zweite Runde.«

Ich schickte ihr den Gedanken, dass wir in wenigen Minuten die erste Runde beenden würden.

Bald liefen wir parallel zum Hinweg, nur auf einem Plateau oberhalb eines Waldes. Und in die andere Richtung. In der Ferne krächzte ein Eichelhäher und neben uns rüttelte ein Turmfalke, der wohl eine Maus im Visier hatte. Als wir beinahe am Beginn der Laufrunde angelangt waren, entdeckten wir Franziska, die zum Treffpunkt joggte.

»Na, wie läuft’s, Männer?«, erkundigte sie sich und flüsterte mir ins Ohr, während sie einen Wangenkuss andeutete: »Hast du Martin von John Fox erzählt?«

»Nein, aber er ahnt was. Gratuliere zu deiner Intuition.«

»Laufen wir den anderen Weg. Dort begegnen wir kaum Menschen. Was meint ihr?«, fragte Franziska.

»Den kenne ich nicht, Franziska.«

»Egal, Noah. Wer nie vom Weg abkommt, bleibt auf der Strecke. Ich sage: Wenn niemand mehr weiß, wo es lang geht, dann bist du richtig. Denn dann bist du vorn. Von hinten siehst du immer nur die Ärsche.«

»In diesem konkreten Fall ist es mir nur recht, wenn du richtig liegst, äh läufst.«

Wir jagten einen schmalen Pfad entlang. Zum Teil war er nicht breiter als ein Wildwechsel. Franziska gab das Tempo vor, Martin folgte ihr mit angemessenem Abstand.

Bei einem Anstieg drehte er sich um, lächelte und zeigte den Daumen nach oben.

Die Sonne berührte die Silhouette der höchsten Berge. Sie hatte sich rot-orange verfärbt und strotzte nur so vor Energie, um weiter im Westen die Erde mit Licht zu versorgen. Die Berge, diese stillen Wächter, ragten in den Himmel hinein und verbanden diesen mit der Erde auf eine geheimnisvolle Art und Weise. Ich liebte die Freiheit des Laufens, die Weite der Landschaft. Tief fühlte ich mich mit dieser verbunden. Ein Gefühl von Daheimsein und Freiheit trug mich die letzten Kilometer. Wir hatten uns kein einziges Mal verlaufen. Franziska war ihrer weiblichen Nase gefolgt.

»Ich laufe nach Hause. Vielleicht können wir später noch videotelefonieren. Was haltet ihr davon? Probieren wir mal eine Open-Source-Variante. Zuvor aber heißt es wieder mal E-Mails lesen, Cyber-Homework prüfen, den Schulmessenger SchoolFox öffnen, Signal checken, Texte korrigieren. Und dann, Trommelwirbel, Susi empfangen.«

»Du verwendest Signal. Echt? Mit den Schülern oder Eltern deiner Klasse?«

»Mit beiden. Ich habe nach einem Gespräch mit Bert WhatsApp den Rücken gekehrt. Ich verwende Signal als inoffiziellen Kommunikationskanal, weniger als Plattform für Schul- und Unterrichtsinfos.«


Martin lief barfuß weiter, Franziska und ich joggten heim. Ich war erschöpft, denn ein kilometerlanges, topografisches Laufband hatte sich unter meinen Füßen bewegt. »Schau nur, Rilke«, flüsterte Franziska.

»Erinnert mich an SchoolFox, Franziska und an die Schönheit der Natur.«

»Und an die Poesie. Hat nicht der indische Dichter und Nobelpreisträger Rabindranath Tagore gemeint, dass die Trennung der Menschen voneinander und von der Natur in die Sklaverei führe? Und wir Freiheit fänden, wenn wir uns zusammentun und mit der Natur verbinden? Aber gut, für viele, die eine technokratische Welt bevorzugen, sind diese Worte unwissenschaftliche Träumereien. Ehrlich, es gibt nicht wenige Menschen mit einem intelligenten und zugleich extrem engen Verstand.«

Franziska und ich eilten das Stiegenhaus hoch. »Franziska, die Intelligenz ist oft rein funktional auf ein begrenztes Gebiet ausgerichtet, Defizite in vielen anderen Bereichen können leider zu schweren Nebenwirkungen führen. Zu Risiken und Nebenwirkungen aber fragen Sie Ihren Arzt und Apotheker.«

»Zu den riesigen Nebenwirkungen fressen Sie die Packungsbeilage und erschlagen Sie den irren Arzt Ihres Apothekers«, hörten wir eine Stimme aus dem Hintergrund. Coyote war wieder da. »Der Verstand funktioniert eben geöffnet wie beim Fallschirm am besten.«

»Schön, dass du da bist. Wo warst du, Coyote?«

»Ich hatte eine längere Sitzung. Nun bin ich wieder bei euch, ihr Lieben.«

»Du meintest aber nicht deine Klositzung, oder?«

»So ähnlich. Gerade düngt viel Scheiße die neue Zukunft.«

»Weil du vom Fallschirm gesprochen hast, Coyote. Was ist, wenn manche, während sie fallen, meinen, dass alle Sicherheit weg ist? Auch der Fallschirm … Was dann?«

»Manchen wachsen Flügel, Franziska. Sie beginnen zu fliegen. In der Not entfalten sich Flügel. Andere haben es schwer. Die Angst, sie zieht euch nach unten, sie ist das gefährlichste Virus mit der größten Ansteckungsgefahr.«

Ich zeigte Coyote ein Meme mit einem Fallschirmspringer, der nur in einer Badehose aus dem Flugzeug gesprungen war. Unter dem Bild stand: Skydiver, der seinen Fallschirm vergessen hatte, an Coronavirus gestorben!

Feuer ins Herz

Подняться наверх