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6. KAPITEL

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In den nächsten Tagen und Wochen streifte Onkel Wodnik in den umliegenden Wäldern, Wiesen und Fluren umher - immer allein. Die Begleitung von Konrad oder Vladana schlug er aus. Er verließ die Burg zu jeder Tageszeit: bei Nacht und Nebel, bei Vollmond, im Morgengrauen, in der Abenddämmerung. Wann immer es ihm geeignet erschien, zog er los. Sogar während der heftigsten sommerlichen Gewitter trieb es ihn hinaus. Oft blieb er tagelang weg, so dass sich Konrad und Vladana nicht selten Sorgen seinetwegen machten. Onkel Wodnik war unermüdlich. Von jedem seiner Streifzüge brachte er Geheimnisvolles mit: unbekannte Kräuter, grotesk gewachsene Wurzeln, schillernde Pilze und blutige Tierinnereien, daneben seltsam geformte Steine und mineralische Erden in allen Farben. Nichts schien vor ihm sicher, alles war ihm brauchbar.

Einmal kehrte er besonders freudestrahlend zurück, eine armlange weiße Schlange in der Faust, dicht hinter dem Kopf gepackt und am gestreckten Arm respektvoll von sich weghaltend. Das Tier wehrte sich wild gegen den unerbittlichen Griff Onkel Wodniks, ringelte sich seinen Arm hinauf und hinab und zischte aus geöffnetem Rachen; es half ihm nichts. Onkel Wodnik blieb unbeeindruckt und verweigerte ihm die Freigabe.

Kaum in der Burg, rief er Konrad und Vladana zu sich, mit einer Stimme, die vor Begeisterung und Stolz vibrierte und durch Mauern und Burggemächer drang. Die beiden Gerufenen, herzueilend, starrten das sich um Onkel Wodniks windende und um seine Freiheit kämpfende Reptil verwundert und sprachlos an; gar zu ungewöhnlich war dessen Anblick und gar zu unverständlich Onkel Wodniks Triumph. Aber ehe sie ihrer Verwunderung Ausdruck geben konnten, hob der Onkel schon zu sprechen an.

„Seht, was ich mitgebracht habe!" rief er und streckte die Hand mit der zappelnden Schlange wie ein erbeutetes feindliches Feldzeichen in die Höhe. „Was sagt ihr dazu? Unglaublich, was? So ein Glück! Alle hundert Jahre, was sag ich, alle tausend Jahre gibt es so ein Glück - eine weiße Schlange."

Konrad und Vladana hatten Mühe, in die Begeisterung des Onkels einzustimmen.

„Freut ihr euch gar nicht?" wunderte sich dieser deshalb über den lauwarmen Beifall seiner Nichte und ihres Gemahls. „Eine weiße Schlange! Wenn das mal kein gutes Zeichen ist. Ein sehr gutes Zeichen. Kinder, ich glaube, ihr seid auf dem richtigen Weg. Die weiße Schlange macht mir Mut für euch!"

Die Temperatur von Konrads und Vladanas Beifall erhöhte sich trotz Onkel Wodniks Emphase nicht wesentlich.

„Ach so", ging diesem jetzt ob der ratlosen Gesichter vor ihm endlich ein Licht auf. „Ihr wisst nicht, was es mit der weißen Schlange auf sich hat". Onkel Wodnik nickte, als müsse er einen geheim erhaltenen Hinweis bestätigen. „Ich erkläre es euch, es ist ganz einfach. Ihr werdet es nicht glauben, alle Sprachen dieser Welt ruhen im Gift ihrer Zähne. Ja, so ist es. Unglaublich, aber wahr. Es ist ein ganz besonderes Geheimnis".

Onkel Wodnik wandte sich an Konrad.

„Wenn du dich beißen läßt, mein lieber Konrad, wird dir keine Sprache der Welt in Zukunft fremd vorkommen. Das könnte dir nützlich sein, sehr nützlich. Auf jeden Fall.“

„Aber das Gift?" gab Konrad zu bedenken. „Ist es nicht gefährlich?"

„Keine Sorge". Onkel Wodnik blieb unbeeindruckt. „Gegen jedes Gift gibt es ein Gegengift. Du brauchst nur das Fleisch der Schlange zu essen, sofort, noch ehe das Gift wirkt, und es geschieht dir nichts. Es muss nur schnell gehen, das ist alles".

Eine Stellungnahme Konrads zu diesen Erklärungen wurde von Onkel Wodnik gar nicht erst abgewartet. Mit dem Eifer dessen, der sich auf dem richtigen Weg weiß, schritt er zur Tat. Er zog sein Messer hervor, legte es griffbereit, fasste Konrads Arm und ehe Konrad recht wusste, wie ihm geschah, fühlte er die Einstiche der Schlangenzähne in seiner Haut. Onkel Wodnik strahlte.

„Und jetzt das Schlangenfleisch!" rief er, nahm das Messer, säbelte mit kräftigen Schnitten der Schlange den Kopf vom Rumpf, schlitzte letzteren der Länge nach auf, zog mit einem Ruck die Haut ab und begann sofort, das Fleisch vom Skelett zu lösen. Die Brocken reichte er Konrad.

„Iss!" befahl er, und als er den Ausdruck von Abscheu in Konrads Gesicht bemerkte, fügte er lakonisch an. „Es gibt Schlimmeres!"

Was blieb Konrad anderes übrig, als der Anordnung Onkel Wodniks zu folgen. Das rohe Schlangenfleisch schmeckte, wie rohes Fleisch eben schmeckt, und Konrad verirrte sich nicht zu dem Gedanken, das barbarische Mahl auf geschmackliche Nuancen prüfen zu wollen. Er würgte die überreichten Fleischstücke so hinunter, wie sie ihm von Onkel Wodnik serviert wurden.

Erst geschah nichts. Dann begann es im Ohr Konrads zu summen wie von einer anfliegenden Biene. Aus der einzelnen Biene wurde ein Bienenschwarm, erst klein, dann groß. Und das wuchs weiter an, wurde zu einem Wasserfall, der schließlich rauschend durch seinen Kopf niederstürzte. Geräusche, Töne, Laute, Stimmen, das schwoll zu einem gewaltigen, brausenden Orchester. Der Lärm wurde unerträglich. Konrad drohte der Kopf zu zerspringen. Ihm wurde schwarz vor den Augen.

Das Erste, was Konrad erblickte, als er nach geraumer Zeit wieder zu sich kam, war Onkel Wodniks besorgtes Gesicht, in welches, sowie er die Augen öffnete, Erleichterung hineinzog wie Sonnenlicht in eine schattenverhangene, düstereLandschaft. Onkel Wodnik murmelte etwas, was er nicht verstand, vielleicht auch nicht verstehen sollte und er tätschelte ihm die Wangen, um ihn vollends zu sich zu bringen.

„Komm schon! Ist schon vorbei! So schlimm war´s doch gar nicht!“

Plötzlich fuhr er ganz anders fort.

„Kak djela, Konrad"?

Und Konrad, ohne zu verstehen, was da vor sich ging, antwortete:

„Spasibo,djadja, spasibo! Wsjo normalno, wsjo charascho, dumaju ja!"

Und noch einmal änderte Onkel Wodnik seine Rede.

„Megint minden rendben van, kedvesem?"

Und Konrad folgte ihm wiederum:

„Persze ba´csika´m. Csak a fejem zug, mintha egy malom ja´rna benne".

Da erhob sich Onkel Wodnik, atmete tief und zufrieden durch und rieb sich die Hände wie nach schwerer Arbeit. Die Probe war bestanden.

Nur wenige Wochen nach diesem denkwürdigen Ereignis schloss Onkel Wodnik die Vorbereitungen für das geheimnisvolle Kesselgucken ab. Nur zweierlei fehlte ihm noch: Samen von Konrad und Monatsblut von Vladana. Man musste sich noch ein paar Tage gedulden, dann war auch dies zur Stelle. Onkel Wodnik trug nun die gesammelten Güter in der Küche zusammen und legte sie in einer vorherbedachten genauen Reihenfolge auf den Tisch.

„Meine Lieben", eröffnete er dort Konrad und Vladana, die dazugerufen waren, „es ist soweit. Wir können beginnen".

Er nahm einen Kupferkessel vom Küchenbord, füllte ihn mit Wasser und hängte ihn übers offene Feuer an den Haken. Schweigend wartete man, bis der Kessel dampfte und summte. Dann ging es rasch. Onkel Wodnik warf alles in der Reihenfolge, in der er es auf dem Küchentisch ausgebreitet hatte, in das kochende Wasser, zu jeder Ingredienzie halblaut einen beschwörenden, für Konrad und Vladana aber unverständlichen Spruch murmelnd. Zu verschiedenen Dingen gab er eine Erklärung, zu manchen nicht. Konrad und Vladana erfuhren, dass außer ihrem Samen und Monatsblut ein Hasenhoden und ein getrockneter Salamander, ein Otternkopf und ein Fledermausherz in den sich rasch verfärbenden Sud gesenkt wurden, dazu eineAlraune, ein Fliegenpilz, Beeren vom Seidelbast, Schierlingskraut und Mutterkorn. Auch ein goldener Ring, eine silberne Spange und ein eisernes Messer wanderten in den Kessel. Doch so mitteilungsfreudig sich der Onkel auch zeigte und so neugierig die Nichte auch forschte, nicht jedes Geheimnis der Zaubermischung wurde preisgegeben. Manch eine schwer bestimmbare graue Wurzel wurde unbenannt von der blubbernden Brühe wie von einem hungrigen Maul verschluckt und manch ein farbiges Pülverchen flog mit wehender Fahne hinterher. Das angerichtete Gebräu ließ der Onkel kochen, bis eine dunkelgrünbraune schillernde Flüssigkeit den Kessel füllte. Diese siebte er in eine Tonschale ab, welche er zum Auskühlen ins Fenster stellte. Die Rückstände im Kessel kippte er auf den Kehricht.

„Du wirst zwei Schlucke dieses Tranks nehmen", bestimmte Onkel Wodnik für Konrad, als die Flüssigkeit in der Schale zu dampfen aufhörte und er sie mit dem Finger auf ihre Trinkbarkeit geprüft hatte. „Die Kraft des Tranks wird, so hoffe ich, den gleichen Schleier lösen, der deine Träume freigegeben hat und der vor dem Geheimnis deiner Zukunft niederhängt".

Da man wenig Lust verspürte, die Prozedur in der engen Küche durchzuführen, stieg man in die Wohngemächer hinauf. Onkel Wodnik empfahl Konrad, einen bequemen, sicheren Platz einzunehmen, da der Trank sehr stark sei und ihm die Besinnung wiederum rauben werde. Eigentlich, so ergänzte der Onkel seine Ausführungen von der Küche, bedürfe es dreier Schlucke, damit der Trank seine volle Kraft entfalte. Weil ihm die Wirkung des überaus starken und gefährlichen Zaubertranks auf Menschen aber selbst unbekannt sei, empfehle er vorsichtshalber, nur zwei Schlucke zu nehmen - nicht zu groß, nicht zu klein - damit die Grenze zum Tode, der man sich durch die Einnahme der Brühe sehr annähere, auf keinen Fall überschritten werde.

Konrad tat, wie ihm geheißen. Er machte es sich auf einer Liege bequem, dann setzte er die Schale mit dem Giftgemisch an die Lippen und maß bedächtig zwei Schlucke ab, nicht zu groß und nicht zu klein, genau wie ihm der Onkel empfohlen. Er kam nicht mehr dazu, eine Äußerung zu dem Geschmack des finsteren Getränks abzugeben. Der Trank wirkte augenblicklich. Konrad hatte die Trinkschale noch nicht richtig auf den Tisch zurückgesetzt, als er, wie von einem Blitz niedergeschmettert, zusammensank und ohne Lebenszeichen mit verdrehten Augen hingestreckt lag.

Vladana , trotz der dann doch noch guten Erfahrung mit der weißen Schlange und ihrer segensreichen Wirkung für Konrad von der sichtbarlich viel gefährlicheren Wirkung dieses neuen Getränks verunsichert, wandte sich irritiert und ängstlich an den Onkel. Dieser beruhigte sie.

„Sei unbesorgt, liebe Nichte! Deinem Mann geschieht nichts. Ich habe ihm eher zu wenig als zu viel zugemessen. Er wird bald wieder bei sich sein.“

So verhielt es sich. Die Sonne war nur wenig über die Spitze des Bergfrieds weitergerollt, als das Leben in die Glieder Konrads zurückkehrte, der Atem seine Brust wieder hob und senkte und die Augäpfel unter den Lidern wanderten, als befänden sie sich auf der Suche nach etwas, was es in der dämmrigen Welt der Ohnmacht nicht zu sehen gebe. Dann schienen die Augen das Vermisste gefunden zu haben, Konrad schlug die Lider auf, blickte einen Augenblick verständnislos und verwirrt um sich, begriff aber schnell, richtete sich benommen auf und schüttelte sich in nachträglichem Ekel.

„Puh, war das ein Hexenzeug!" brummte er benommen und wischte sich mit dem Handrücken die Lippen. „Kann ich einen Schluck Wasser haben?"

Vladana eilte, ihm einen Becher voll zu holen.

„Wie fühlst du dich, mein lieber Konrad?" erkundigte sich Onkel Wodnik, der ihn mit aufmerksamen Blicken beobachtete.

„Das schmeckte ja schlimmer als Jauche. Mir ist noch ganz übel".

Den Becher Wasser, den Vladana ihm kredenzte, leerte er in einem Zug.

„Jetzt ist mir gleich wohler", meinte er erleichtert.

Konrad erhob sich von seiner Liegestatt und stakste benommen in dem Gemach auf und ab, als müsse er sich vergewissern, dass das Gehen auf den eigenen Beinen seine Richtigkeit habe und keine Einbildung sei.

„Ein zweites Mal kriegt ihr das Hexenzeug nicht mehr durch meinen Hals", knurrte er widerborstig. „Gift und Galle! Ich dachte, mir reißt es den Leib auseinander."

„Ein zweites Mal darf der Trank nicht eingenommen werden" bekräftigte der Onkel. „Das brächte den sicheren Tod."

„Was hast du gesehen, liebster Konrad?"

Vladana konnte ihre Neugier nicht länger zügeln. Sie barst fast vor Ungeduld und platzte mit ihrer Frage heraus, obwohl Konrad sichtlich noch mit den Nachwirkungen der Gifte zu kämpfen hatte.

„Was hat dir der Trank offenbart, mein Lieber?" drängte sie. „Komm erzähle schon!"

Die Neugier und Ungeduld seiner Frau führten Konrad zu dem Grund dessen zurück, weswegen er sich der vorangegangenen Tortur unterzogen hatte. Er begann zu berichten, zunächst stockend und unsicher, ganz wie jemand, der, da ihm selbst die nötige Klarheit fehlt, auch seine Erzählung nicht damit ausstatten kann.

Da sei ein riesiger Vogel gewesen, der habe ihn hoch in den Himmel fortgeschleppt, nachts, es müsse nachts gewesen sein, denn alles um ihn sei dunkel gewesen, und der Schlag der Vogelschwingen habe ein gewaltiges Rauschen an sich gehabt, so als stoße ein Gewittersturm durch den Wald. Wohin der Vogel ihn verschleppt habe? - Er könne es nicht sagen. Jedenfalls sehr weit weg. Denn der Vogel habe ihn lange Zeit nicht aus den Fängen gelassen. Dann sei der Vogel plötzlich verschwunden gewesen, und er habe sich vor einem wolkenhohen Berg von seltsamem Aussehen wiedergefunden. Diesen zu erklettern habe er sofort große Lust verspürt. Doch sei das leichter beabsichtigt gewesen als ausgeführt. Der Berg habe wie ein riesiger umgestülpter Kessel, wie ein Katzenbuckel in die Höhe geragt, so dass er trotz mehrfachen Umkreisens keinen Aufstieg habe finden können. Darüber habe er sich sehr unglücklich gefühlt. Mit einem Mal, er habe bereits verzagen wollen, habe er, wie durch einen Zauber bewirkt, auf dem Gipfel des Berges gestanden, auf einer von Blumen übersäten Wiese. In deren Mitte habe sich ein mächtiger, von weißen Blüten überzogener und gleichzeitig fruchttragender Baum aufgewölbt. Zu diesem habe es ihn hingezogen, und ein unbezähmbarer Appetit nach den Früchten habe ihn ergriffen. Diese zu pflücken habe große Mühe bereitet, denn die Zweige hätten sich seinen haschenden Fingern durch Wegschnellen entzogen. Schließlich habe er aber doch eine Frucht, so groß wie ein Apfel und von blutfarbenem Glanz, in den Händen gehalten, und er habe in sie hineingebissen und sie genossen. Ihr Geschmack, ja ihr Geschmack sei unbeschreiblich gewesen; nein, er könne mit Worten nicht ausdrücken, wie diese Frucht geschmeckt habe, wie Milch und Honig und noch viel besser. In seinem Traum habe er dann noch ein zweites Mal nach den Zweigen greifen wollen, doch leider sei der Traum an dieser Stelle zu Ende gewesen und er habe sich mit galligem Mund und erschöpften Gliedern in ihrer Runde jetzt wiedergefunden, einesteils betrübt, dass der Traum mittendrin abgebrochen sei, froh dagegen, von dem weiten Ausflug wieder in seiner Welt zurück zu sein.

Die erste, spontane Äußerung Vladanas zu dem Vernommenen war von Ratlosigkeit und Enttäuschung bestimmt.

„Mir ist geradezu", gestand sie, „als hätte ich meine alte Amme wiedergehört. Sie erzählte immer so eine alte Geschichte, die Sage vom Glasberg. Ich hielt sie bisher für ein Märchen, um unruhige Kinder zu beschäftigen. Mir will scheinen, Konrad träumte nur etwas, was er ohnehin schon kannte".

„Ich habe nie von dieser Sage gehört", rechtfertigte Konrad die Originalität seines Gesichtes.

„Seltsam bleibt die Übereinstimmung trotzdem", beharrte Vladana. „Was meinst du dazu, Onkel Wodnik?"

Der Angesprochene hielt sich bedeckt. Er kommentierte zunächst die Unvollkommenheit des Traumes.

„Mir scheint", meinte er zu Konrad, „wir haben einen Fehler gemacht. Du hättest den dritten Schluck meines Trankes doch nehmen sollen. Zu dumm! Aber ich konnte die Menge nicht richtig einschätzen; bei Menschen fehlt mir die Erfahrung. Ein Mundvoll zu viel, und du gehst für ewig auf Reisen. Das wäre ein schönes Hochzeitsgeschenk für meine geliebte Vladana geworden."

Noch einmal bestätigte der Onkel die Richtigkeit seiner Dosierung: „Zuviel von dem Sud konnte ich nicht riskieren. Wir mussten vorsichtig sein."

Bedauernd fuhr er fort: „Leider ist der Traum nicht ganz zu Ende gekommen. Das ist ungünstig. Wir können das nicht mehr ändern. Es bleibt uns deshalb nichts Anderes übrig, als den Umstand zu nehmen, wie er ist. Wir müssen sehen, wie wir das Beste daraus machen."

„Was wäre das, deiner Meinung nach?" wollte Vladana wissen.

„Genau übersehe ich das selbst nicht", gestand der Onkel vorbeugend. „Auch ich kann nur Vermutungen anstellen. Ob sie richtig sind, wer weiß das. Auf jeden Fall, so denke ich, hast du den möglicherweise einzigen sinnvollen Weg zur Erklärung von Konrads Traum bereits entdeckt."

„Ja? Wirklich? Inwiefern?" Vladana konnte ihre Überraschung nicht verbergen. „Ich? Da bin ich aber neugierig!"

Sie schien auch Konrad aus dem Herzen gesprochen zu haben, denn die Spannung, mit welcher er an den Lippen des weitgereisten und erfahrenen Onkels hing, war nicht zu übersehen.

„Zwischen deinem Ammenmärchen und Konrads Traumgesicht", so begann der Onkel auszuführen, „muss nicht unbedingt ein Widerspruch bestehen. Es wäre denkbar, dass das, was Konrad unter der Einwirkung meines Trankes gesehen hat, wirklich nichts Anderes ist, als was uns die Sage vom gläsernen Berg von anderer Seite überliefert. Ich kann es drehen und wenden, wie ich will, ich komme stets auf diesen Zusammenhang zurück. Nur diese Sage passt erkennbar mit der Erzählung Konrads zusammen. Die Vermutung liegt deshalb nahe, dass die Sage tatsächlich den Schlüssel zum Verständnis des Geträumten liefert. Was berichtet nun die Sage vom gläsernen Berg? Wie du dich gewiss zurückerinnern kannst, Vladana, heißt es, auf einer Insel, weit draußen auf dem Meer und mit dem Namen Andia, befinde sich ein Berg aus Glas. Dieser gläserne Berg solle bis in die Wolken ragen und steil und glatt wie ein Turm sein. Da hätten wir die erste Übereinstimmung mit Konrads Erzählung. Oben auf seinem Gipfel, so heißt es weiter, befinde sich inmitten einer ewig blühenden Wiese der Baum des Lebens. Dessen Früchte sollen goldenen Äpfeln gleichen. Auch das würde zusammenpassen, selbst wenn die Früchte in Konrads Traum von roter Farbe waren. Nun berichtet die Sage noch, auch daran wirst du dich erinnern, Vladana, wem es gelänge, diesen gläsernen Berg zu erklimmen - was allerdings ein Ding der Unmöglichkeit sein soll, da niemandes Fuß auf dem Glas Halt finden könne - wem also die Ersteigung dieses Berges gelänge und wem es zusätzlich ebenfalls gelänge, eine der Früchte vom Baum des Lebens zu erwerben - was ebenfalls unmöglich sein soll, da sich die goldenen Äpfel jedem Zugriff entzögen - wem aber auch dies gelänge, der werde durch den Genuss dieser Frucht den Tod für immer überwunden haben und niemals den unausweichlichen und bitteren Weg alles Lebendigen nehmen müssen."

„Jetzt geht mir ein Licht auf!" brach es begeistert aus Vladana hervor, nachdem Onkel Wodnik seine Deutung von Traum und Sage beendet hatte. Sie klatschte in die Hände, sprang von ihrem Sessel hoch, hüpfte und tanzte ausgelassen wie ein Kind durch das Gemach und küsste erst ihren Onkel und danach Konrad ab. „Ich beginne den Sinn zu ahnen. Onkel Wodnik hat ihn zutage gefördert. Onkel Wodnik, gibt es eigentlich etwas, was du nicht weißt?" Wieder überhäufte sie ihren Onkel so mit Gunstbeweisen, dass dieser ganz verlegen wurde.

„Du wirst auf die Insel Andia fliegen", wandte sich Vladana an ihren Gatten. „Du wirst eine Frucht vom Baum des Lebens essen, Konrad, und der Tod kann dir nichts mehr anhaben." Du wirst unsterblich, Liebster! Nichts und niemand wird uns jemals auseinanderreißen können. Immer werden wir zusammenbleiben. Ist das nicht wunderbar! Was für ein Tag, heute! Stell dir vor, wir werden ewig vereint sein. Stell dir das vor!"

Auch Konrad wurde wieder Ziel ihrer Liebkosungen.

Dann, als sich die erste Begeisterung gelegt und sich der Wellengang der stürmischen Gefühlsäußerungen geglättet hatte, erweiterte Vladana ihre Schlussfolgerungen bedeutend.

„Wenn du unsterblich bist, Konrad", folgerte sie scharfsinnig, „dann ist unser Ziel, die Herrschaft über die Welt, nicht mehr weit. Es rückt in greifbare Nähe. Denn wenn du unsterblich bist, Konrad, werden wir all das besitzen, was uns gefehlt hätte und was wir vor allem brauchten, wenn wir unsere Pläne verwirklichen wollten: Zeit! Zeit, jawohl! Und nochmals Zeit! Alles Andere, wenn wir nur genügend Zeit haben, fügt sich und findet sich von selbst. Wir werden alles in Ruhe überlegen und bedenken können, wir werden alle unsere Pläne ins Werk setzen können, und niemand wird unserem unendlich langen Atem widerstehen können. Das ist es. Jawohl! Das ist es. Ich wusste doch ,dass dein Dreinächtetraum nicht lügt. Niemand wollte mir das glauben, du nicht, Konrad, mein Vater nicht und du auch nicht, Onkel Wodnik. Aber ich war mir immer sicher, dass ich recht hatte und mich nicht irrte."

Konrad ließ sich vom überschwenglichen Optimismus seiner Frau keineswegs anstecken. Er meldete Bedenken an.

„Was Onkel Wodnik vorgetragen hat, liebe Vladana, sind Vermutungen", erinnerte er mit sachlicher Nüchternheit. „Du solltest sie nicht mit Tatsachen verwechseln."

„Ach ihr Männer!" wischte die Geliebte diesen Einwand kurzerhand zur Seite. „Ihr seid doch phantasielose Geschöpfe. Was willst du mehr, Konrad? Traum und Sage stimmen zueinander. Welcher Beweise bedarf es da noch? Die Sache ist eindeutig."

„Und wie, bitte schön, komme ich zur Insel?"

Konrad versuchte jetzt, den kühnen Entwurf Vladanas nicht mehr durch einen Rückgriff auf die von Onkel Wodnik geäußerte allgemeine Skepsis, sondern durch einen Hinweis auf unüberwindlich scheinende Sachzwänge zu untergraben. Er scheiterte kläglich.

„Sag du es ihm, Onkel", konterte Vladana geschickt und spannte ihren ursprünglich abgeneigten Onkel schlau in den Dienst ihrer Pläne. „Er hat es selbst geträumt".

„Es ist nicht einfach und nicht ungefährlich", erklärte der Angesprochene. Die Verlegenheit ob dieses ihm zugemuteten Handlangerdienstes war ihm anzumerken. „Es ist aber auch nicht unmöglich. Die Insel Andia, heißt es, ist auch die Insel des Vogels Greif.“

„Der wird dich hinüber tragen“, triumphierte Vladana und kürzte alle weiteren Erörterungen über diesen Punkt ab.

Das war denn auch ihr endgültiger Sieg. Konrad verzichtete auf weitere Einwände und Vorbehalte. Das Gespräch änderte infolgedessen seinen Charakter. Man kam von der Grundsatzdebatte der strategischen Zielsetzung zur Erörterung einzelner taktischer Notwendigkeiten.

Onkel Wodnik brachte jetzt eine Menge von Ratschlägen und wertvollen Erfahrungen ins Gespräch. Am wichtigsten war ihm, dass Konrad um Himmelswillen nicht mehr als einen Apfel vom Baum des Lebens verspeisen dürfe, trotz wahrscheinlich heißer Begierde nach weiteren Früchten, und dass er ebenso auf keinen Fall einen der Fruchtkerne verschlucken dürfe, selbst nicht aus Versehen. Bei zwei, drei oder mehr verzehrten Früchten werde das Maß an Lebenskraft so gesteigert, dass es das Gegenteil der ursprünglichen Stärkung bewirke und zerstörerisch sei. Bei einem verschluckten Kern werde die große Keimkraft desselben den unvorsichtigen Genießer zu einem Riesen austreiben.

So erfahren Onkel Wodnik und so wohlbewandert er in allen Geheimnissen der Luft, der Erde und des Wassers war, Konrads Wahrheitstraum gab auch ihm Rätsel auf, deren Lösung er sich nur annähern konnte. So äußerte er über die Bewältigung der verschiedenen im Traum erschienen Hindernisse kaum mehr als Vermutungen. Wie der Aufstieg auf den Glasberg zu bewerkstelligen sei oder wie Konrad sich in den Besitz einer der Früchte vom widerspenstigen Baum des Lebens setzen könne, das war ihm selbst kaum klarer als seinen beiden Zuhörern. Allerdings zog er aus Einzelheiten des Traums Schlüsse auf deren Erfüllung. Was der Traum verspreche, so folgerte er, das werde die Wirklichkeit auch halten. Die Frage sei hier nicht ob, sondern wie das geschehen werde. Konrad sei im Traum prophezeit worden, dass er den Glasberg erklimme, also werde er an Ort und Stelle auch den Weg dazu finden; und könne er im Traum einer der Früchte vom Baum des Lebens habhaft werden, dann brauche er sich nicht darum zu sorgen, dass ihm das, einmal dort, nicht auch gelinge.

Das klang beruhigend.

Wirklich ratlos zeigte sich Onkel Wodnik jedoch bei den Fragen, bei denen das vorzeitige Ende des Traumes keine Hinweise auf deren Verwirklichung gab. So konnte sich der Onkel weder einen Reim darauf machen,warum Konrad kurz vor dem Abbruch des Traumes ein zweites Mal ansetzte, zu den Zweigen des Lebensbaumes hinaufzugreifen, noch konnte er über das Ob und das Wie der Rückkehr von der Insel Andia eine Aussage treffen, die über Rätselraten hinausgegangen wäre. Es blieb bei vagen Vermutungen, etwa, dass der Traum glücklich geendet haben würde, wenn ihn Konrad zu Ende geträumt hätte. Denn da es Konrad in der Vision gelungen sei, alle Schwierigkeiten zu meistern, so könne man wohl davon ausgehen, dass sich dies bis zum Ende eines nicht unterbrochenen Traumes würde fortgesetzt haben. Andernfalls wäre Konrad im Traum schon längst vorher gescheitert. Die Rückkehr werde Konrad also auf jeden Fall gelingen. Onkel Wodnik stützte diese Überzeugung auch darauf, dass Konrad, erst einmal im Besitz der Unsterblichkeit, sowieso durch nichts mehr enrsthaft gefährdet werden könne.

Diesen Optimismus machte sich Vladana und natürlich jetzt auch Konrad nur zu gerne zu eigen. Dem Aufbruch zu großen Taten stand nichts mehr im Wege.

Konradsgrün

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