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9. KAPITEL

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Am Fuß des Glasbergs, erschöpft aber glücklich, vom Stolz über das gute Ende der vertikalen Expedition erfüllt, in Gedanken schon unterwegs zur geliebten Frau, sah sich Konrad unerwartet aus seinen angenehmen Gefühlen gerissen.

„Jetzt bist du mir also doch entwischt“.

Mit diesen unmissverständlichen Worten des Ärgers und der Feindseligkeit trat, geradezu aus dem Nichts hervortauchend, das seltsamste Geschöpf auf Konrad zu, das ihm je begegnet war.

Instinktiv, wie um einer außerordentlichen Gefahr mit allen verfügbaren Mitteln zu begegnen, riss Konrad sein Schwert aus der Scheide. Was da, gehüllt in eine Wolke fauligen, modrigen, von durchdringender Verwesungssüße untermischten Gestanks auf ihn zukam, mochte auf den ersten Blick einen unscheinbaren, durchsichtigen und dünnen Eindruck erwecken, war es doch kaum mehr als ein Gerippe aus ein paar klapprigen, fleichlosen Gebeinen mit einem hohlen, abgebleichten Schädel obendrauf. Doch der majestätische Schritt und die hochmütige Herrschergebärde, mit welcher der Klapperkerl Aufstellung bezog, warnte vor allzu voreiliger, leichtfertiger Fehleinschätzung.

„Du könntest mit dem besten Schwert der Welt nichts gegen mich ausrichten“, schnarrte das Gerippe belehrend und bleckte verächtlich sein zangenartiges, hechtähnliches Gebiss. „Ich bin der Tod. Gegen mich hilft keine Waffe.“

„Was willst du?“ kam Konrad zur Sache, bemüht, sich nicht ins Bockshorn jagen zu lassen.

Der Tod gab seine Herablassung nicht auf.

„Genau betrachtet, wollte ich dich“, gestand er kalt. „Dich holen, meine ich. Doch leider bist du mir entwischt.Dein Glück war, dass du der erste warst, dem der Weg hierher gelang. Das hat mich verblüfft. Ich war neugierig auf das, was sich weiter ereignen würde. Außerdem war ich sicher, dass du mir nicht entwischen konntest. Da kam es schon nicht darauf an, ob ich dich früher holte oder später. Mein Irrtum! Aber ich versichere dir, er wird sich nicht wiederholen. Falls es je noch einmal ein Mensch bis hierher vor meine Haustüre schaffen sollte, ich werde ihm das Lebenslicht gleich ausblasen. Einen Fehler einmal zu machen ist entschuldbar, einen Fehler zweimal zu machen, ist unverzeihlich."

„Ich hätte mich gewehrt!"

Höhnisch wies der Tod mit dem Knochenfinger auf Konrads Schwert, das dieser als unübersehbares Warnzeichen weiterhin bereit hielt. Ein krampfhaftes Zucken lief durch das Gerippe, als habe es Mühe nicht lauthals mit Gelächter herauszuplatzen. Es währte eine ganze Weile, bis es sich wieder beruhigt hatte.

„Eins muss ich dir lassen", gestand der Tod, etwas vertraulicher werdend. „Angst scheinst du keine zu haben. Alle Achtung! Trotzdem, tu mir den Gefallen und steck das Spielzeug weg. Du denkst doch nicht wirklich im Ernst, dass du mit diesem lächerlichen Ding etwas gegen mich ausrichten könntest."

„Man kann nie wissen."

Konrad hielt es weiter mit der Vorsicht.

Der Tod schüttelte darüber seinen Schädel, als gehe ihm soviel Begriffsstutzigkeit über den Verstand. Er streckte Konrad den dürren Knochenarm hin.

„Hier!" forderte er ihn in einem Tonfall auf, als müsse er Geduld und Nachsicht wie bei einem Kinde üben. „Schlag zu! Hau drauf! Wir werden ja sehen!"

Konrad hielt sich zurück. Es widerstrebte ihm, sich auf solche Weise auf die Probe stellen zu lassen.

Der Tod ließ nicht locker. Er wurde wieder energischer. „Was bist du nun? Ein Mann? Oder ein alter Fußlappen? Wenn ich sage: Hau zu! dann tu das! Du kannst beruhigt sein, ich suche keinen Vorwand für einen Streit. Ich will dir nur zeigen, was man mit einem Schwert gegen mich, den Tod, ausrichten kann."

Konrad hielt sich nicht länger zurück. Er trat eine schnellen Schritt auf den Tod zu und hieb mit der ganzen Kraft seiner waffengeübten Hand gegen den unscheinbaren Knochenarm. Der Schwertstahl jammerte laut, als er auf das Gebein traf. Knirschend barst er auseinander, und seine vordere Hälfte fuhr splitternd zu Boden und bohrte sich in den Sand.

„Alle Wetter! Kein schlechter Schlag", erkannte der Tod nicht ohne Bewunderung, doch auch amüsiert an.

Konrad schwieg und blickte ratlos vom Stumpf seines Schwertes zu dessen abgebrochener, in den Boden gebohrten vorderen Hälfte.

„Du hast nur Glück gehabt", erklärte der Tod sachlich. „Siehst du das ein? Ich wollte ein bisschen Vergnügen haben, dich zappeln sehen, bevor ich dich schnappte, zappeln wie einen Fisch an der Angel. Dass es Fische gibt, die schneller sind als der Fischer, selbst als ich... das war nicht zu erwarten. Ich habe dazugelernt."

Der Tod bückte sich zu der abgebrochenen Schwertspitze bei seinen Füßen und zog sie aus dem Sand. Er drehte das Metallstück hin und her, wog es begutachtend in der Hand und ließ die Sonne blitzend darüberlaufen. Dann fasste er nach dem Schwertstumpf in der Rechten Konrads, zog ihn an sich - Konrad ließ ihm das unbrauchbare Fragment - prüfte die beiden Bruchstücke, passte sie aneinander, strich mit seinen dürren Klauen rechts und links über die Bruchstelle, und unversehens, als tauche sie frischgehämmert aus dem Wasserbad eines Schmiedes, glänzte die Klinge unversehrt und in einem Stück, so, als sei sie niemals auseinandergesprungen gewesen. Das wiederhergestellte Stück reichte der Knochenmann seinem Eigentümer zurück.

„Ein Mann braucht seine Waffe", meinte er lakonisch und wieder mit spöttischem Unterton dazu, „selbst wenn er unsterblich ist".

Konrad nahm das Schwert an sich und fuhr es mit dem Finger prüfend ab. Der Stahl war makellos und, wie Konrad schien, schärfer als zuvor.

„Als menschlicher Krieger wollte ich dir nicht im Kampf begegnen", gestand der Tod. Er fügte diesem Kompliment ein weiteres hinzu. „Du wirst dem Tod ein guter Diener sein".

Konrad wusste nicht recht, wie er das nehmen sollte. Statt zu antworten, schob er sein Schwert in die Scheide.

Der Tod wendete sich ab und stapfte auf den Glasberg zu. Er winkte Konrad, ihm zu folgen. Mit seiner Knochenhand schob er die festgeschlossenen, harten Panzerplatten des Glasberges auseinander wie einen Vorhang.

„Sieh dir das an!"

Konrad folgte der Einladung des unheimlichen Gesellen unsicher und zögernd. Obwohl ihm der Tod sein Schwert zurückgegeben hatte, drängte es ihn immer noch, Vorsicht zu üben.

Der Tod bemerkte das Misstrauen.

„Du brauchst keine Befürchtungen vor mir zu hegen", versuchte er Konrads geheime Vorbehalte auszuräumen. „Meine Macht über dich ist leider dahin. Ich werde dir nichts antun, weil ich es nicht mehr vermag. Mein Wort!"

Konrad trat darauf in die torgroße, dunkelgähnende Öffnung, die der Knochenmann in der Bergflanke aufgeschoben hatte.

„Das ist mein Haus", erläuterte der Tod den Anblick, der sich hier öffnete. „Der Berg des Lebens beherbergt die Höhle des Todes. Leben und Tod an einem Ort. Wie könnte es anders sein".

Am Gerippe des Todes vorbei konnte Konrad in einen ungeheueren Raum blicken in welchem bis in die entferntesten, unauslotbaren Tiefen der Höhle und der Dunkelheit Lichter schimmerten.

„Die Lebenslichter", erklärte der Tod das Bild nüchtern.

Das strahlte und funkelte gleich Edelsteinen in einer endlosen Schatztruhe.

„Hier siehst du die Lichter der Alten", setzte der Tod seinen Kommentar fort, indem er auf eine Reihe niedergebrannter Kerzen wies. „Dort hast du die Lichter der Jungen."

Diese Lichter waren noch kaum heruntergekürzt.

„Sieh da!" der Tod wies auf eine Kerze in unmittelbarer Nähe hin, die unruhig auf und niederzuckte und flackernd rußte. „Da geht einer mit seinem Lebensstoff sehr verschwenderisch um. Ein Mann. Er wird nicht alt werden. Die Frau an seiner Seite wird ihn lange überleben." Die Kerze daneben brannte ruhig und sparsam, fast ganz ohne Flammenunruhe.

Der Tod tat ein paar kurze Schritte in das Innere der Höhle und beugte sich, ganz wie ein Gärtner über seine Blumen, zu einer Kerze hin, deren winziges Flämmchen noch schwach zappelte und blau wurde, als mache sich in ihm Frost breit.

„Hier stirbt einer", meinte der Tod gleichmütig dazu.

Und aus war das Licht.

Mit einer geübten Bewegung spellte der Tod das übriggebliebene Kerzenstümpfchen vom Untergrund los und kratzte mit scharfem Fingernagel die letzten Reste Wachs vom Boden.

„Ich muss Platz schaffen", erläuterte er seinem Zuschauer.

„Wo steht mein Licht?" Konrad, der bislang alles aufmerksam betrachtet und den Worten des Todes schweigend zugehört hatte, meldete gezieltes Interesse an.

Der Tod hob lauernd den Kopf.

„Warum fragst du?" gab er die Frage zurück, als müsse er sich vor jeglicher Beantwortung erst Klarheit über die Absicht des Fragestellers verschaffen.

Konrad fasste das Zögern des Todes richtig auf. „Ist es so unverständlich, dass ich mein Licht sehen möchte, wenn ich schon einmal hier bin?" erwiderte er.

Der Tod ging nicht darauf ein. Mit knöchernem Arm wies er in den fernen, dunklen, unauslotbaren Hintergrund. „Dort hinten steht es", antwortete er, „sehr weit."

Konrad wendete den Blick in die angegebene Richtung.

„Kann man es von hier sehen?" wollte er wissen.

„Kaum", beschied der Knochenmann und wandte sich wieder dem Kerzenrest auf dem Boden zu, als sei ihm die Fragerei lästig. „Selbst wenn dein Licht in Sichtweite stünde, du könntest es von den vielen anderen Lichtern nicht unterscheiden".

Konrad ließ sich nicht so einfach abspeisen.

„Gehen wir hin", kam er zur Sache.

„Unmöglich!"

Der Tod fuhr aus der Hocke hoch, als habe ihn etwas gestochen.

„Das ist unmöglich", wiederholte er in abwehrendem, herrischem Ton, als müsse er eine ungehörige Anmaßung zurückweisen. „Kein Sterblicher darf die Höhle betreten! Niemals! Was glaubst du, wo wir uns befinden!"

„Ich habe vom Baum des Lebens gegessen", wagte Konrad einen gewichtigen Einwand. „Ich bin kein Sterblicher mehr".

Mit dieser Bemerkung schien Konrad irgendwie ein geheimes Fass zum Überlaufen gebracht zu haben. Unerwartet, als sei weitere Selbstbeherrschung nicht mehr möglich, als seien Groll und Zorn nicht länger kontrollierbar, ballte der Tod seine spinnenartigen Knochenhänden und schüttelte sie gegen Konrad. Dann rieb er knirschend die Zähne, als müsse er zwischen ihnen seine Ohnmacht zermalmen. Schrill entfuhr es ihm.

„Das ist es! Das ist es ja! Was glaubst du Wurm, was das bedeutet - ein Licht, das ewig brennt? Eine Kerze, die niemals verlöscht? Die ihren Platz nicht freigibt? Du willst den Lauf des Wassers aufhalten! Du willst dem Wind die Bewegung rauben! Du willst dem Sonnenwagen die Räder zerbrechen! Nichts kann kommen, nichts kann gehen! Du hast die Ordnung der Welt auf den Kopf gestellt. Und ich, dessen Amt es ist, das zu verhindern, ich habe versagt! Ich! Grauenvoll! Es ist grauenvoll!"

Wie von Sinnen schlug sich der Tod mit den Fäusten anklagend gegen die Brust; es klapperte und knatterte.

„Meine Schuld! Meine Schuld!"

Konrad, überrascht und verwirrt von soviel unerwartetem, hysterischem Gefühl, wich unwillkürlich vom geöffneten Glasberg zurück, jenem Instinkt folgend, der einem bei Gefahr rät, sich aus deren unmittelbaren Zone zu entfernen. Der Tod hopste ihm wie ein flügellahmer Vogel hinterher. Doch als übten das Sonnenlicht und die frische Luft eine ernüchternde Wirkung aus, verstummte sein schrilles Gezeter, sowie er den Fuß ins Freie gesetzt hatte. Mit einem letzten wütenden Schwung, so dass die Erde bebte und ein gewitterähnliches Donnergrollen die Luft erzittern machte, warf er den auseinanderklaffenden Glasberg zu. Dieser Kraftakt schien ihm die abschließende Erleichterung gebracht zu haben, denn gelassen und mit einem Mal wieder verbindlich, so als sei niemals etwas gewesen, wandte er sich dem rückwärts stolpernden Konrad zu.

„Bevor wir uns trennen", hob er mit geschäftsmäßiger Stimme an, „habe ich eine Bitte an dich. „Ich habe dir mein Geheimnis offenbart, den geheimsten und unzugänglichsten Ort des Lebens und des Todes gezeigt, nun verrate du mir deines. Wie ist es dir gelungen, den Glasberg zu erklettern?"

Konrad schwankte einen Augenblick, ob er das Geheimnis von Onkel Wodniks Schuhwerk preisgeben solle. Die Beiläufigkeit, mit der sich der Tod erkundigte, kam ihm gespielt vor und war wenig geeignet, ein ungutes Gefühl zu übertünchen. Andererseits, die Schuhe hatten ihren Dienst getan, er hatte den Glasberg erstiegen und vom Baum des Lebens, was er brauchte, genommen. Das Ziel der Reise war erreicht. Was konnte es ihm schaden, wenn er dem Tod das Geheimnis eröffnete? Konrad wollte nicht unhöflich erscheinen.

„Es sind die Schuhe", erklärte er dem Fragesteller. „Sie rutschen nicht ab."

„Die Schuhe?"

Selbst auf dem blanken Knochenschädel war der Ausdruck ungläubigen Erstaunens nicht zu übersehen.

„Wirklich die Schuhe?" vergewisserte er sich noch einmal. „Dieses unscheinbare Lederwerk?"

„Es ist, wie ich es sage", bestätigte Konrad.

„Wer hätte das gedacht", bemerkte der Tod wie zu sich selbst. „Kaum zu glauben, dass es solche Schuhe gibt, den Glasberg zu ersteigen. Dieses harmlose Lederzeug".

Und wieder zu Konrad. „Gestattest du, dass ich mir die Wunderschuhe ansehe? Ich bitte dich darum".

Ohne die Einwilligung Konrads abzuwarten, sank der Tod schon auf die Knie, in einer Eile,die höchst verräterisch wirken musste, setzte man bei dem Knochenmann nicht nur einfache Neugier voraus. Mit seinen bleichen Fingern tastete er gleich auf Onkel Wodniks Geschenk, strich es ab, von vorne nach hinten, von hinten nach vorne, den rechten Schuh zuerst, dann den linken.

Konrad vermeinte einen beißenden Frost an seinen Füßen zu spüren.

„Schöne Schuhe sind das", betonte der Tod fachmännisch, „so ein weiches Leder".

Konrad war nicht sicher, ob er aus der Bemerkung des Todes nicht Spott heraushören konnte.

„Ja wirklich", wiederholte der Tod erneut, indem er von Konrads Fußbekleidung abließ und sich aus der knieenden Stellung erhob. „Ganz außergewöhnliche Schuhe".

Und nun, in einem plötzlich veränderten Ton, so als könne er die Maske fallen lassen und auf jede weitere Verstellung und falsche Rücksichtnahmne verzichten, fuhr der Tod, kalt und herrisch fort.

„Eines will ich dir noch anvertrauen!"

Triumphierend richtete sich das Gerippe zur vollen Größe auf.

„Damit du es weißt, wenn du von der Insel weggehst: Das ewige Leben hast du erworben, die ewige Jugend nicht. Zum Apfel gehört die Blüte. Du hast nur den Apfel gebrochen. Die Blüte hast du gelassen. Du wirst also altern. Altern und altern!"

Als habe er mit dieser Offenlegung jedes Interesse an Konrad verloren, wandte sich der Tod brüsk ab, zwei Schritte zum Glasberg hin, an das Glas heran und mit der Knochenhand herrisch darauf gepocht, eine Trübung lief an und ab, als ziehe ein Wolkenschatten drüber, und weg war er.

Zurückblieb Konrad, wie vom Donner gerührt.

Aber woher hätte er das wissen sollen! Der Traum hatte ihm nur die erste Hälfte des Geheimnisses verraten, die zweite hatte er verschwiegen. Onkel Wodnik hatte sie nicht gekannt. Und das auffällige Interesse des Todes für Onkel Wodniks Schuhe? Seine heuchlerische Bitte?

Eine böse Ahnung durchzuckte Konrad. Sie bewahrheitete sich sofort. Die Lederschuhe, ein zweites Mal aufs Glas gesetzt, versagten den Dienst. Sie rutschten ab. Aus! Nichts zu machen! Konrad konnte es versuchen, wie er wollte, der Weg nach oben war jetzt wirklich ungangbar geworden.

Und, ein Unglück kommt selten allein, noch ehe Konrad die Tragweite des eben Erfahrenen richtig ermessen konnte, folgte der nächste Streich des Todes. Ein markerschütternder Schrei über seinem Haupt ließ Konrad den Blick zum Himmel richten. Dort schwebte der Vogel Greif ein, groß und dunkel wie eine Regenwolke. Doch mitten im Flug streckte der Riesenvogel den Hals, als schnappe ihn eine gewaltige Faust und würge ihn, einem Hund gleich, der ein verletztes Wildbret beutelt; er krächzte erstickend mit aufgerissenem Schnabel und versuchte mit krallenbewehrten Fängen einen unsichtbaren Feind abzuwehren - vergebens. Er flatterte kraftlos, Federn lösten sich und schaukelten herab, dann knickten die Flügel durch und als ungeheueres wirbelndes Federnkarussell taumelte das Riesentier hernieder und schlug dumpf auf die Erde auf. Ein paarmal zuckte es noch in dem Bündel aus Federn, geknickten Flügeln und quer gedrehten Beinen, dann lag der Balg leblos da, groß und massig wie ein Berg.

Konrad begriff. Auch das war das Werk des Todes. Dieser machte keine Zugeständnisse. Alle Wege zur Insel, auf den Glasberg und zum Baum des Lebens wurden abgeschnitten. Das also war auch der Grund, warum ihm das Gerippe das Geheimnis von Onkel Wodniks Schuhen abgelistet hatte; deshalb musste der Vogel Greif sterben. Enttäuschung, Wut und Niedergeschlagenheit ließen Konrad das Herz plötzlich bis zum Hals schlagen. Da war er so von Glück über den Erfolg seiner abenteuerlichen und gefährlichen Reise erfüllt gewesen, und mit einem Mal stellte sich dieses als nur halb so großartig heraus. Da hatte er die ganze Erfüllung des Wunsches nach Unsterblichkeit in seinen Händen gehalten, und doch war ihm die Vollkommenheit versagt geblieben. Da hätte die Möglichkeit einer nachträglichen Vollendung bestanden, doch hinterlistig und erbarmungslos hatte der Tod sie zunichte gemacht. Das würgte Konrad. In jähem Zorn holte er Ahiras Kiesel aus dem Reisesack und schleuderte ihn, dem Tod hinterher, gegen den Glasberg. Wer, wenn nicht Ahira, der Wasserfürst, konnte jetzt noch helfen!

Nichts geschah. Die von Ahira verheißene Zauberkraft des Kiesels schien sich darin zu erschöpfen, dass er zwar mit einem zischenden Feuerfunken vom Glaspanzer des Berges zurückprallte, doch im übrigen zur Erde herabfiel wie jeder andere Stein auch. Nichts weiteres folgte. Das Glas splitterte nicht, die Wand spaltete sich nicht, der Berg stürzte nicht zusammen. Konrad stand abgekühlt und ratlos.

Doch halt! Am Horizont, weit draußen über dem Meer, unscheinbar zuerst, dann aber in rasendem Sturm hochwachsend und wie von einem furchtbaren Unwetter vorangepeitscht, stieg eine pechschwarze, mit schwefeligen Rändern gesäumte Wolke auf, fuhr mit scharfen Blitzen und wütendem Donner über die Insel heran, riss das Blau des Himmels ab, schluckte die Sonne und brandete um den Glasberg wie eine entfesselte Woge der Finsternis. Das entwickelte sich so schnell, dass Konrad keine Zeit blieb, einen Unterschlupf zu suchen. Er wollte zum Wald hinüber, der in den Sturmböen ächzte, doch ehe er die ersten Bäume erreichte, stand, vom niederrauschenden Gewitterguss wie in einen Reisemantel gehüllt, Fürst Ahira vor ihm.

„Du hast mich gerufen?" hob der Schwiegervater an.

„Der Tod hat mich betrogen", rief ihm Konrad rachedurstig entgegen. „Du musst mir helfen!"

Ahira hob abwehrend die Hände. „Gegen den Tod vermag ich nichts", verweigerte er sich. „Gegen ihn ist keine Hilfe. Von niemandem. Auch nicht von mir."

„Dann trage mich auf den Glasberg, zum Baum des Lebens", forderte Konrad alternativ.

Wieder schreckte der Wasserfürst zurück und beschied den Bittsteller abschlägig. Er betonte erneut die Unmöglichkeit, gegen den Tod standhalten und etwas ausrichten zu können und verwies auf die Grenzen seiner Macht.

Konrad wollte sich nicht damit abfinden. Er werde, wenn es nicht anders gehe, den Glasberg dann eben selbst noch ein zweites Mal erklettern. Auch ohne fremde Hilfe. Der Schwiegervater solle nur den Lederschuhen die gleiche Kraft verleihen, wie sie Onkel Wodnik dem Schuhwerk geschenkt und welche der Tod ihnen heimtückisch gestohlen habe.

Fürst Ahira lehnte ab, kühl und bestimmt. Nicht alle Geheimnisse seines Bruders seien ihm bekannt. Welches Wunderwerk sein Bruder Wodnik an den Schuhen vollbracht habe, vermöge er nicht zu beurteile. Ein Nachvollzug sei unmöglich.

Konrad wollte das nicht glauben. Ihm kam die ablehnende Begründung wie eine faule Ausrede vor. Er wurde heftig, fast beleidigend.

Was er überhaupt könne, wenn nicht einmal das, herrschte er den Schwiegervater verzweifelt ungeduldig an. Ohne die ewige Jugend werde er die Insel nicht verlassen, verschwor er sich trotzig.

Fürst Ahira blieb geduldig wie bei einem bockigen Kinde. Selbst wenn er über den gleichen Zauber wie Bruder Wodnik verfügen könne, mit dem Tod könne und wolle er sich auf keinen Fall anlegen. Das Risiko sei ihm zu groß. Mit gelassenen Worten versuchte er Konrad zu beruhigen. Er wolle ihm nicht in die Entscheidung dreinreden, beteuerte Ahira, aber manche Dinge seien nicht zu ändern, schon gar nicht zu erzwingen. Er, Konrad, solle handeln, wie er es für richtig halte, er wolle seine Freiheit nicht antasten und jeden seiner Beschlüsse respektieren, doch solle er bedenken: Zorn sei ein schlechter Ratgeber. Er, Ahira, könne jedenfalls hier, an diesem ganz besonderen Ort, direkt unter den Augen des Todes kaum mehr für ihn leisten, als ihn mit nach Hause zurückzunehmen. Den Gedanken, die Unkenntnis und Neugier des Todes noch einmal zu seinen Gunsten auszunützen oder den Tod gar überlisten zu können, diesen Gedanken solle er sich aus dem Kopf schlagen. Das könne nicht gelingen. Der Knochenmann sei gewarnt. Deswegen seine, Ahiras, nochmalige Empfehlung: die Dinge so hinzunehmen, wie sie lägen, und nicht länger wie ein altes Weib mit seinem Schicksal herumzuhadern. Das sei doch nicht mehr zu ändern, und das habe es, genau betrachtet und ehrlich gesagt, im Vergleich zum Lebensweg gewöhnlicher Sterblicher mit ihm so ganz schlecht nicht gemeint. Zum Wesen der Vernunft gehöre es, nicht das Unmögliche zu verlangen, sondern das Mögliche zu erkennen, es anzunehmen und es dann zu tun.

Die sorgfältigen Bemerkungen des Schwiegervaters verfehlten ihre Wirkung nicht. Konrad, der wie ein Bär in der Fallgrube hin- und hergependelt war, die Aufmerksamkeit darauf gerichtet, einen Ausweg aus der verschlechterten Lage zu finden, blieb vor Ahira stehen und blickte ihm gerade ins Gesicht. Nach ein paar Augenblicken prüfenden Schweigens äußerte er sich.

„Ich platze fast vor Wut", gestand er grimmig. „Alles ist so gut gelaufen. Warum nicht auch noch dieses Letzte. Aber ich sehe ein, man kommt mit dem Kopf nicht durch die Wand. Ich will nicht jammern. Es ist, wie es ist. Ich danke dir, dass du gekommen bist. Reisen wir zurück."

Das war ein klarer, knapper Entschluss. Fürst Ahira konnte nicht umhin, anerkennend mit dem Kopf zu nicken.

„Ich glaube, ich muss meiner Tochter Abbitte leisten", meinte er, scheinbar auf ein anderes Thema wechselnd. „Langsam kann ich sie verstehen. Ich habe dich unterschätzt, Konrad."

Sie traten die Rückreise gemeinsam an.

Konradsgrün

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